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(c) Pester Lloyd / 48 - 2016    BILDUNG     30.11.2016

(Ein)Bildung: Ungarns Regierung sieht Schulen in bestem Zustand

48schulproteste
Während die Regierung im Schulwesen "alle Schulden bezahlt und alle Probleme beseitigt" sieht, spricht die Opposition von einem "systematischen Niedergang" der Pflichtschulen, die kaum noch europäische Ausbildungsstandards bieten könnten. Das Thema wurde jetzt im Parlament wieder einmal heiß diskutiert und eignete sich für die Opposition - neben dem maroden Gesundheitssystem - als dankbares Wahlkampfthema. Ja, wenn....

“Wenn die Schule nicht funktioniert, funktioniert gar nichts...” Lehrerproteste 2014.

Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte, Toleranz, Teilhabe, Chancengleichheit, Korruption? Das sind Themen, die sie nicht betreffen, nicht verstehen, die zu abstrakt und zu komplex sind - oder an deren Mängeln man als kleiner Mann oder Frau ohnehin nichts ändern kann. Diese Selbstaufgabe bürgerlicher Partizipation - eigentlich einer der Grundpfeiler einer souveränen Demokratie - ist nicht nur in Ungarn zu beobachten, ist hier aber besonders verbreitet. Selbstredend, dass Populisten und Extremisten, die Geber und Versprecher einfacher Anworten und radikaler Lösungen hiervon profitieren, auch wenn sie sachfern agieren und gesellschaftlich schädlich wirken.

Diesen zwar traurigen, aber -zumal in einer Medien-Demokratie - sehr wirksamen Mechanismus wollen sich nun - da sie sonst nichts zu bieten haben - auch die demokratischen Oppositionsparteien zu Nutze machen und zielen mit ihren parlamentarischen Sprechstunden immer häufiger in Themenkreise, die fast jeden Ungarn persönlich betreffen, bei denen er mitreden kann und die ihn zuweilen sogar noch aufregen. Die Bildungspolitik ist eines dieser Felder, schließlich geht es da um unsere Kinder, unsere Zukunft, sind Eltern, somit die ganze Familie genervt, involviert, engagiert. Lehrer- und Schülerstreiks, Studenten"unruhen" waren denn auch die wahrnehmbarsten und konstantesten Proteste der jüngeren Orbán-Ära.

Was Orbáns Regierung im Bildungswesen, sowohl bei den Pflichtschulen, den Gymnasien aber auch und vor allem im Hochschulbereich konkret anrichtete,
ist auf dieser Themenseite umfassend dargestellt.

 

Wie weit die Wahrnehmung bzw. Darstellung des Pflichtschulsektors von der Realität entfernt ist, wurde bei einer von der MSZP angestrengten parlamentarischen Anhörung am Dienstag wieder einmal sehr deutlich: Die zentrale Pflichtschulverwaltung KLIK, die 4.000 Schulen im Lande befehligt und seit seiner Gründung ein Hort von Unfähigkeit, ideologischer Gängelung und dreister Korruption war und ist, habe "alle seine Schulden" (immerhin fast 300 Mio. EUR bzw. 92 Mrd. Forint) "zur Gänze bezahlt". Das verkündete László Palkovics, Staatssekretär für Bildung im Ministerium für "Humanressourcen".

Dass dies nur durch eine erneute Extrazahlung aus den Taschen der Steuerzahler geschehen konnte, erwähnte er nur am Rande. Allein Anfang 2016 häufte KLIK 17 Mrd. Forint neuer Schulden an. Dies aber nicht zum Besten der Schüler, sondern wegen vielfältiger, überteuerte vertraglicher Verpflichtungen, die man mit bevorzugten Unternehmen eingegangen ist. Diese liefern - wenn sie liefern - Schulbücher, die entweder unbrauchbar sind oder inhaltlich aus dem Mittelalter (Orbánsche Neuzeit) stammen. Renovieren Schulen zu Preisen, zu denen man sie neu bauen könnte oder fahren Schulspeisung zweifelhafter Qualität von über 100 Kilometern an, obwohl es in der Nähe günstigere Kapazitäten gebe.

KLIK überwacht - und das ist deren eigentlicher Job - zusammen mit den rund 170 lokalen Regierungskommissaren vor allem das Betragen der Lehrerschaft. Ein ideologisch befrachteter Direktiven-Dschungel mit Pressemaulkorb, gegenseitigen Bespitzelungen durch eifriges Berichtswesen, Kündigungen wegen "Vertrauensmangels", ständig wechselnde "Schwerpunktvorgaben" zu Ruhm und Ehre des Vaterlandes, die Vermittlung von militärischem Grundwissen, frömmlendem Nationalismus und überhaupt, "wie man ein guter Ungar wird" (den Kurs gibt es wirklich) sowie die Austreibung des liberalen Teufels aus Ungarns Schulen - das ist die Agenda von KLIK, die man Eltern und Lehrern als "Karrieremodell" verkauft. Und wirklich: wer mitzieht, bekommt etwas mehr Geld.

Dass KLIK eine einzige Misswirtschaft ist, weiß auch das Ministerium, sieht derzeit aber keine andere Möglichkeit einer anderen Schulverwaltung. Die Pflichtschulen wurden unter Orbán ja zwangsverstaatlicht, nun hat man sie an der Backe. Staatssekretär stammelte im Parlament etwas von einem "Bildungspolitischen Koordinationsrat", den die Regierung gründen wolle und noch einen Rat: jenen der "Bildungsbezirke", damit auch "die lokalen Strukturen" mitreden könnten. Also jene, denen man per Gesetz zuvor sämtliche Mitwirkung entzogen hatte.

Ein Fidesz-Sprecher fasste die Debatte zusammen: "Ungarns Bildungssystem ist problemfrei." "Lehrer würden hoch geschätzt und unsere Jüngsten bekommen immer mehr Fähigkeiten beigebracht".

Die Opposition sieht das natürlich anders. Der frühere Bildungsminister István Hiller von der MSZP sagte, dass die "Standards an Ungarns Schulen durchgehend abfallen", das ganze "System geht in die falsche Richtung". Er prangert vor allem die wachsende Chancenungleichheit an. Während gut betuchte Familien die Defizite des Systems durch private Nachhilfe oder gleich ganz im Ausland ausglichen, blieben den Armen und den Normalverdienern (von der Segregation der Romakinder ganz zu schweigen) nur die staatlichen Angebote, das die Kinder mit altbackener Pädagogik und fragwürdigen Inhalten gängele, anstatt sie denkend und fit für ihr Leben zu machen. Andere oppositionelle Politiker zeichneten ein noch dramatischeres Bild. Orbáns Politik stelle die Zukunft ganzer Generationen in Frage, das Schulsystem stünde ständig kurz vor dem Kollaps.

Selbst die rechtsextreme Jobbik bedauert, dass die Regierung die Bildung "offenbar als weniger wichtig" behandelt. Die Darstellungen des Staatssekretärs seien fern der Realität und "nichts weiter als Ministeriumspropaganda". Die Bildung brauche endlich wieder "ein eigenes Ministerium". Die Bildungsausgaben in Ungarn im Verhältnis zum BIP seien "die gerinsten im gesamten OECD-Raum" und die Regierung sei unfähig sich mit den professionellen Standesvertretern vernünftig zu unterhalten.

 

Jobbik übersieht, dass die Regierung das gar nicht will. Die Schule dient dem Orbán-Staat so wie die Schulen aller Diktaturen als Fabrik zur Formung einer gut beherrschbaren Untertanenschaft (man kann sich ungefähr ausmalen, wie dann ein Schulsystem unter Jobbik-Herrschaft aussieht). Diese Untertanen sollen produzieren, konsumieren, sich divertieren, aber das System nicht in Frage stellen. Es ist ja kein Zufall, dass die Hälfte aller Gymnasien vor der Schließung steht, die Akademikerquote halbiert wurde, dass klerikale Einrichtungen immer stärker gefördert werden und man die "Vorbereitung auf das Berufsleben" schon in die ersten Klassen trägt und die Kinder so auf ihren Lebensweg "programmiert".

Die aus dem Chaos wachsende Unzufriedenheit dieses "Verblödungssystems" ("Együtt") politisch für die Einleitung eines allgemeinen politischen Wandels zu nutzen, das wäre eine dankbare Aufgabe für die demokratische Opposition. Man gewänne die Jugend und deren Eltern auf einen Schlag. Kümmerte man sich auch noch um das marode, unsoziale Gesundheitswesen, hätte man auch die Rentner auf seiner Seite und könnte Orbán spielend beseitigen.

Allerdings ist bei beiden Themengebieten ein schlüssiges, nachhaltiges Alternativangebot nötig, das man auch noch verständlich und schlüssig kommunizieren müsste. Ein "So nicht!" oder "Orbán raus!" genügt hier nicht. Daher hat der Genannte bis auf Weiteres auch nichts zu befürchten.

red.

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