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(c) Pester Lloyd / 51 - 2016    KULTUR     22.12.2016

Hexenschauen vom Luzienstuhl: Bräuche und Gedanken zu Weihnachten und einem besseren, neuen Jahr in Ungarn

Der martialische und lächerliche Aufgalopp gepanzerter Sondereinheiten auf den ungarischen Weihnachtsmärkten soll uns den Schutz der letzten Bastion des christlichen Abendlandes in Europa vorgaukeln. Doch der Weihnachtsmann ist einfach stärker als der  "Große Vorsitzende". Ob es dem nun passt oder nicht: die meisten Ungarn feiern Weihnachten familiär, dabei ziemlich entspannt multikulturell, nämlich europäisch und schöpfen aus einem bunten Punsch von Traditionen.

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Denn auch in Ungarn vermischen sich ganz friedlich, entspannt und unaufgeregt seit Jahrhunderten christliche und östliche Traditionen mit uralten, heidnischen Bräuchen und ländlichen wie neuzeitlich kommerziellen Ritualen. Entgegen der Behauptungen der "neuen Rechten", für die Orbán ja so etwas wie der Vorreiter in eine neue Ordnung ist, fußt Europa ja gänzlich auf Multikulturalismus, er ist sein Geheimrezept, wenn auch die Verkostungen manchmal zunächst bitter schmeckten.

 

Europa existierte ja gar nicht ohne die gewinnbringende Vermischung von Kulturen, die Adaption, den Wissens- und Kulturtransfer. Von den Wikingern über die Phönizier, die Seevölker und die Mauren, die Goten, Slawen, Griechen, Römer, Roma, Juden, viele unbekannte, finstere Stämme und auch die wilden Turkvölker, die sich später zu Ungarn "adelten", waren Teil dieses Prozesses. Schon die Vereinigung zwischen Neanderthalern und Neumensch fand in Europa statt. Es wäre also absurd, zu versuchen, irgendetwas Reinrassiges in einem Europäer zu suchen, man wird es nicht finden und das ist auch gut so.
 
In Ungarn ist der einst in der heutigen Türkei stationierte Hl. Nikolaus der "Mikulás" und der Sage nach auch der Vater des Winters - schon hier begeben wir uns auf ganz dünnes, nämlich unchristliches Eis - denn die traditionellen Kirchen kennen bekanntlich nur einen Vater aller Dinge. Mikulás macht sich nichts daraus, er entspricht in etwa unserem Weihnachtsmann, jener rotgewandeten Fabelgestalt, die vielleicht doch nicht nur von Coca Cola in den USA erfunden wurde, mit einem kleinen Einschlag von Väterchen Frost aus Russland, auch wenn man das keinem Ungarn laut sagen darf. Die Bischofsfigur des Hl. Nikolaus mit Mitra und Krummstab kommt nur noch in streng katholischen Haushalten am Nikolaustag vorbei, um die Menschen – insbesondere die Kinder – zu beschenken.

Trotz der "christlichen Erneuerung", die die Politik in Ungarn betreibt, bleiben die Ungarn weitgehend säkularisiert, das Weihnachtsfest ist in erster Linie eine Tradition, ein Familienfest und der glitzernde Ausklang des Jahres, denn ein Glaubensfest. Selbst der strengste Christ feiert, ob er es weiß oder nicht, mit uralten heidnischen Symbolen, denn auch darauf fußt Europa.

Der "deutsche" Nikolaus – und mittlerweile auch eine ungarischen Variante – kommt am 6. Dezember ins Haus und legt meistens die Geschenke in die aufgestellten Kinderschuhe. Wer das Jahr über ungezogen war, der bekommt nur eine Rute oder mit ihr auch ein paar sanfte Schläge. Begleitet wird der Mikulás von zwei kleinen bösen Jungen, den Krampuszen (öst. Krampus, was etwa dem deutschen Ruprecht, Rupperich entspricht).

Hexenschauen vom Luzienstuhl

Eine besondere Bedeutung hat in Ungarn der St. Luzien-Tag, auf ungarisch Luca Napja (Luca-Tag), am 13. Dezember. Früher war es an diesem Tag den Frauen verboten zu arbeiten, damit – so glaubte man – sollte die Produktivität der Hühner gesteigert werden. Noch heute ist der Brauch des Luca (Luzien)-Stuhls bekannt. Danach soll jeder Mann am 13. Dezember damit beginnen, einen Stuhl zu bauen und dabei nach Möglichkeit sieben verschiedene Holzarten verwenden, da ja die magischen Zahlen sieben und neun seit dem Altertum mystische Bedeutung besitzen.

Zum Fertigstellen des Stuhles bleibt dann Zeit bis zum 24. Dezember, wobei bis dahin an jedem Tag ein neues Stück Holz angefügt wird. Daher lautet eine ungarische Redewendung für etwas, das sehr viel Zeit braucht: „Das dauert so lange wie der Luzien-Stuhl“. Wer sich am Weihnachtsabend während der Mitternachtsmesse auf diesen Stuhl stellt, der kann der Sage nach erkennen, bei wem der Anwesenden es sich um eine Hexe handelt!

Der Luzien-Tag ist aber auch der Tag der Voraussagen in Liebesangelegenheiten. Beim Bleigießen versuchen viele Mädchen herauszufinden, welchen Beruf ihr Lebenspartner haben wird. Und manche schreiben die Namen von 13 Jungen auf 13 Zettel. Jeden Tag wird einer dieser Zettel ungelesen weggeworfen. Am Weihnachtstag ist schließlich nur noch ein Zettel übrig, der den Namen des Zukünftigen verraten soll.

Beliebt ist auch heute noch der Brauch des Hirtenspiels – nicht nur in der Kirche. In Städten und Dörfern verkleiden sich Jugendliche und ziehen von Haus zu Haus, um die Weihnachtsgeschichte nachzuspielen. Im Mittelpunkt dieser Theaterstücke stehen dabei nicht die Heiligen Drei Könige oder die Heilige Familie (übrigens Flüchtlinge!!!!!), sondern die Hirten, die einfachen Leute des Volkes. Besonders erhalten hat sich dieser Brauch in Siebenbürgen (ehemals Ungarn, heute Rumänien) und Ostungarn um Debrecen, wo nicht Kinder die Hirten spielen, sondern erwachsene Männer. Sie verkleiden sich mit Furcht erregenden Masken aus Tierhäuten und erschrecken damit die eigenen Leute sowie die vielen Gäste, die alljährlich diesem Spektakel zuschauen.

Weihnachtsbaum erfreute schon Beethoven

Zu Weihnachten (karácsony) ab dem 24. Dezember trifft sich die Familie um im kleinen Kreise zu essen, meistens gibt es dann Fisch oder Pute. Ein wirklich traditionelles Weihnachtsessen wie z.B. die obligatorische deutsche Gans am 1. Feiertag ist hier nicht anzutreffen. Am Abend des 24. oder am 25. in der Früh gibt es dann die Geschenke, die je nach Familiengläubigkeit das Christkind (Jézuska), ein Weihnachtsengel oder der besagte Weihnachtsmann mit Rute, Sack und weißen Vollbart unter den Weihnachtsbaum legen.

In vielen Familien hat auch der Weihnachtsbaum in die Zimmer Einzug gehalten, allerdings nicht in dem Umfang, wie in Deutschland oder Österreich. Den ersten Weihnachtsbaum in Ungarn hat – ebenso wie das Konzept des Kindergartens – die österreichisch-ungarische Gräfin Therese von Brunswick im Jahre 1824 aus Tirol importiert. Sie war die Schwester von Sophie von Brunswick, der „Fernen Geliebten“ von Ludwig van Beethoven, der mehrere Jahre in Martonvásár lebte und komponierte.

Während viele Familien den Weihnachtsbaum gemeinsam schmücken, erledigen das mancherorts auch noch heimlich die „Engelchen“. Dann werden die Kinder am Nachmittag unter einem Vorwand nach draußen geschickt. Wenn sie dann wiederkommen, haben die „Weihnachtsengel“ den Baum aufgestellt und mit vielen Lichtern und Süßigkeiten geschmückt. Unter diesen süßen Dingen befinden sich an jedem ungarischen Weihnachtsbaum auch eine Menge an „szaloncukor“ (Salonzucker) – das sind in glitzerndes Papier eingepackte Schoko-Bonbons mit Marzipan-, Fruchtgelee- oder Schokocreme- Füllung.

Ungarische Kinder entwickeln bereits im jungen Alter ein erstaunliches Maß an Expertenwissen darin, wie diese Schätze möglichst schon während der Weihnachtstage unauffällig entwendet werden können, ohne die Verpackung, die am Baum hängen bleibt, zu beschädigen. Auch das eine Schule des Lebens. Wie profitiere ich meinen Profit auf Kosten Anderer, ohne, dass die es merken...

Die Zuckerstückchen haben ihren Namen von den gutbürgerlichen Salons, wie sie im 19. Jahrhundert auch in Budapest entstanden und wo sich die feinen Gesellschaft auch mit derartigem Zuckerwerk verwöhnte. Und auch die Bejgli (Beugel), jene süßen Teigrollen mit Mohn- oder Walnussfüllung dürfen zu Weihnachten und Silvester nicht fehlen. Sie sind die weit entfernten – aber eigentlich nicht vergleichbaren – Verwandten des erzgebirgischen oder Dresdner Butterstollens.

Silvester: Große Hymne für ein kleines Land

Eine Besonderheit findet in Ungarn am 2. Weihnachtsfeiertag (den es übrigens erst wieder seit 1956 gibt) statt. An diesem Tag bringen viele Familien noch heute ihren Wein in die Kirche, um ihn vom Priester segnen zu lassen. So bekommt er magische Kräfte und wird dazu benutzt, kranke Menschen und Tiere zu heilen. Schließlich ist das ungarische Volk – insbesondere auf dem Lande, wo es z.T. noch Schamanen gibt – voller Aberglauben, ob nun aus amtskirchlicher oder volksgebundener Überlieferung.

Der letzte Weihnachtsfeiertag, der allerdings meist schon wieder ein Arbeitstag ist, also der 28. Dezember, ist der Tag der „Kleinen Heiligen“. Dieser Tag soll an die Kinder von Bethlehem erinnern, die auf Befehl von Herodes damals angeblich massenweise ermordet wurden. An diesem Tag gelten alle Jungen (denn die betraf es ja laut Testament nur) als „Kleine Heilige“. Noch heute werden sie zu den Nachbarn geschickt, wo sie mit Ruten geschlagen (d.h. meist nur berührt) werden, damit sie auch im kommenden Jahr gesund bleiben.

 

Neuerdings wird das Neue Jahr auch in Ungarn mit Knallern und Böllerschüssen eingeleitet. Sie haben vor einigen Jahren per Gesetz die Kindertuten und Hupen, die auch von Erwachsenen betätigt wurden, fast vollständig verdrängt. Man feiert auch hierzulande im Familienkreis oder etwas lauter in einer der zahlreichen Gaststätten. Um Null Uhr wird es allerdings – ganz im Gegensatz zu anderen Ländern – in ganz Ungarn für ein paar Minuten still und besinnlich. Alle erheben sich von ihren Plätzen, viele legen die Hand ans Herz und singen voller Inbrunst drei Strophen ihrer gewaltig klingenden Nationalhymne, die in ihrer melodiösen Dimension ein wenig an die einstmaligen Ausmaße des heute kleinen Landes mitten in Europa erinnert.

Dass manch einer seine Hymne eher grölt, weil der Alkohol aus ihm einen noch größeren Patritoten gemacht hat, andere Tränen vergießen, ob des vielleicht erlittenen Leides im Vorjahr oder aus allgemeiner Rührung, andere schweigen, aus Scham, was mit ihrem Land geschieht, den meisten das Absingen der Hymne eher eine Routine zu sein scheint wie Zähneputzen, auch das spiegelt ein Land in allen seinen Facetten wieder, dessen Menschen jedes Jahr auf ein besseres Jahr hoffen, wie überall in Europa, in der Welt und das gelingen kann, wenn man sich auf die Weihnachtsbotschaft besinnen würde: dem Schwächeren, sei er auch fremd, helfen, das Gemeinsame vor dem Trennenden erkennen.

red.

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