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(c) Pester Lloyd / 07 - 2017    POLITIK      15.02.2017

Zur Klage der Nation: Die nationale Metamorphose der einst grünen LMP in Ungarn

"Hungary first" wohin man schaut. Selbst die einst grün-liberale LMP folgt nationalistischen Schemata, weil sie glaubt, nur so die manipulierten Massen erreichen zu können. Doch so entfernt sie das Land weiter vom demokratischen, humanistischen Konsens einer europäischen Wertegemeinschaft und macht sich zudem als Opposition obsolet. Auf einer "Gegen-Rede zur Lage der Nation" missriet der Versuch, sich als Retter vor Orbán zu positionieren.

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Wenn von glaubwürdigen Alternativen zu Orbáns Fidesz im zerklüfteten Feld der demokratischen Opposition die Rede sein soll, kommt man auf die LMP. Die Partei LMP (Lehet Más a Politika = Politik kann ander sein) war 2009 - im Fahrwasser der rechten Fidesz-Hegemonisierung auf dem Weg der anstehenden Abwahl des links-liberalen Establishments -, als bürgernnahe, liberale, unbelastete Alternative gegen die Nachwende-Eliten angetreten. Mit einem basisdemokratischen und vor allem einem grünen Anspruch.

"Ungarns Grüne" sind sie jedoch längst nicht mehr. Ihre ersten Erfolge - u.a. der sofortige Parlamentseinzug 2010,
erneut 2014 - waren vielversprechend, doch im Anschluss zerlegte sich die Partei. Das Dogma der Äquidistanz zu allen anderen Kräften führte erst zur Isolation, dann zur Spaltung (Dialog für Ungarn), schließlich zur Marginalsierung, heute ringt man um die 5%-Hürde.

1707schiffer (Andere)Die Egozentrik, ein krampfhafter Intellektualismus von Gründer und spiritus rector András Schiffer (Foto), seine unbefangenen Kontakte mit Jobbik, bei gleichzeitiger Arroganz gegenüber der Linken und zuletzt - quasi als Todsünde - auch das Mitstimmen mit der Regierungspartei bei der Ernennung von Verfassungsrichtern, stellten mehr als einmal die Sinn- und Existenzfrage und entfernten die Partei nicht nur von weitergefächerten Wählerschichten, sondern auch von der eigenen Basis.

Dabei legt die LMP zwar immer wieder die Finger in die offenen gesellschaftlichen Wunden, wie Entdemokratisierung und Korruption, kann und will sich aber, nicht einmal zum Preis der Erfolglosigkeit, von einem Moralismus verabschieden, der nur belehrt, aber kaum Perspektiven aufzeigt - und in letzter Zeit immer stärker die Melodie eines unterschwelligen Nationalismus spielt, so als müsse man dieses Lied singen, weil "das Volk" einen sonst nicht versteht oder gar nicht erst zuhört.

Dieses Dilemmas, ja, dieses substantiellen Dfizits sind sich die Protagonisten, trotz ihrer gespielten Überlegenheit gegenüber anderen oppositionellen Kräften, offenbar immer noch nicht bewußt.

szelhadhazyDownloadIn einer Art Gegen-Rede zur Lage der Nation am vergangenen Samstag, versuchten sich die beiden Ko-Vorsitzenden Bernadett Szél und Ákos Hadházy (Foto) daran, die selbst konstruierte Isolation zu durchbrechen und ihre Partei wieder als universelle Alternative für den wachen Bürger zu präsentieren. Das Kooperationsverbot halten sie indes aufrecht und der Rest verkam zu parolenhaftem Stückwerk, verwechsel- und austauschbar. Wir geben hier Auszüge aus den Statements wieder.

Bernadett Szél möchte die Partei gerne als eine "Gemeinschaft von Bürgern, Umweltschützern, Rechtsverteidigern, Frauen, Studierenden, körperlich Arbeitenden, Politikern des Systemwechsels und jungen Politinteressierten" definiert sehen. Eine Partei, die "die alten Phrasen der alten politischen Eliten, die das Land verraten haben, hinter sich lässt und neue Lösungen anbietet." Ungarn "seine verlorene Zukunft" zurückgibt.

"Wir sind die, die sich über die Misshandlung Ungarns empören. Wir wollen die Macht aus den Händen jener nehmen, die uns enttäuschten, die das Land schwächten, die es missbrauchten, ... Wir wollen Ungarns Zukunft zurück von jenen, die im 20. Jahrhundert stecken geblieben sind und mit den gleichen Sprüchen wie in den 90ern hausieren gehen."

 

"2016 haben wir einen Punkt erreicht, wo die öffentliche Stimmungen auf das Niveau der 80er Jahre gefallen ist. (...) Es gibt nur noch die Behauptung von Ordnung und Wohlstand, die nur im Rahmen der Regierungspropaganda existieren." Es sei daher kein Wunder, dass Menschen, die nach der Wende geboren wurden, gar nicht wissen, was sie von den letzten 25 Jahren halten sollen, es "nicht als ihr eigenes System sehen" und "ihren Glauben darin verloren haben, Änderungen herbeiführen zu können."

Profitiert vom Systemwechsel hätten nur jene, "die ihre Hände rechtzeitig an öffentlichen Eigentum gelegt" hätten. Das gelte sowohl für die "Privatisierungen unter den Sozialisten" als auch für die "feudalartige Verteilung öffentlicher Mittel unter Fidesz." Die "ungarischen Menschen müssen anständig entschädigt werden", für die "Verbrechen, das unverantwortliche Verhalten und die Verfehlungen aller Regierungen seit dem Systemwechsel. Nur so könne man die "Paralyse" überwinden.

"Das heutige Ungarn ist nicht das Ungarn, das wir erwarteten", fuhr Szél fort. "Der Systemwechsel hat zu viele Opfer gefordert. Sie sagten uns, sie würden uns beschützen, doch sie lieferten uns aus. Sie sagten uns, wir hätten Mitsprache, doch sie schrien uns nieder, wenn wir eine eigene Meinung hatten. Sie sagten, wir könnten eine Gemeinschaft bilden, aber sie dachten nur an sich. Und was sie als "gemeinsam" bezeichneten, endete als Diebesgut."

Die politischen Hauptkräfte, Links wie Rechts sollten sich aber nicht darauf verlassen, dass die Enttäuschung und die Wut der Menschen immer in einer Abwendung von der Politik endet. "Das wird nicht immer so bleiben!" - Die heutige Regierung versuche alles, die Bürger von Politik fern zu halten, sie um ihre Mitwirkung, ihre Teilhabe zu bringen. Denn so, hoffen sie, "kommen sie davon, wenn es darum geht, Rechenschaft abzulegen". Aber damit "werden sie keinen Erfolg haben".

Die LMP versuche, "dem Land eine neue Richtung zu geben", denn "die Politik in Ungarn heute ist unendlich verbittert, abstoßend und außerordentlich selbstsüchtig. Die LMP will das durchbrechen. Unser Ziel ist es, jeden Einzelnen zurück in die Politik zu holen, um ihn an gemeinsamen Angelegenheiten (res publica, Anm.) zu beteiligen - einen anderen Weg, Ungarn zu erneuern, gibt es nicht." - Ungarn brauche daher "Idealisten", es gehe nicht darum, "das Unmögliche, sondern das Bessere zu wollen."

Szél sieht die LMP als eine der Kräfte, die dieses "Bessere" wollen. Vielleicht merkt sie gar nicht, dass ihre Rede bis zu dieser Stelle auch 1:1 von Jobbik gehalten hätte werden können? Jobbik, den "Besseren". Sogar wörtlich. Auch die These vom "Volk als Opfer" ist nicht neu. Sie bleibt falsch. Denn es war das Volk, das sein Schicksal aus der Hand gegeben hat, es anderen überließ, das Mandat für die Zerstörung von Demokratie und den Raubbau erteilte.

Das Gerede von einem "besseren Ungarn" bleibt jedoch eine hohle Phrase, tut sie weiter nichts als das Bestehende zu brandmarken und Werbung für die eigene Bewegung zu machen, ohne auch nur mit einem Satz zu sagen, welchem neuen Weg "das Volk" denn nun folgen solle. Klar ist nur, dass "die, die das Land zerstört haben, nicht jene sein können, die die Krise lösen können."

"Neue Kräfte werden dafür gebraucht." - Doch diese zu repräsentieren, das reklamiert sogar Orbán für sich ein, wenn er von einer neuen Weltordnung spricht, die an die Tür klopft und für die er sich als Vorreiter empfiehlt. Szél kontert, dass Orbáns Bemerkungen zu Trumps Wahlsieg und Weltsicht belegten, dass "die Orbán-Regierung unfähig" sei, Ungarn zu einem "souveränen Land zu machen", wenn man erst auf die "Erlaubnis" von Großmächten wartet. (Orbán hatte reklamiert, durch Trump nun das OK von höchster weltlicher Stelle für eine neue Weltordnung erhalten zu haben.) - Szél bezieht sich auf eine Abhängigkeit von den USA und Russland, Orbán auf jene von der EU und ihren "liberalen Eliten".

Der Ruf bleibt indes der Gleiche, "Ungarn den Ungarn..." hier, "Das ist es, was allen Ungarinnen und Ungarn zusteht", die LMP-Variante. Kein Wort vom demokratischen, humanistischen Wertekonsenes innerhalb einer europäischen Gemeinschaft, vielmehr die Betonung der Nation, "Hungary first", wohin man schaut. Die LMP geriert sich als neue, unverbrauchte Kraft, doch sie folgt dem alten nationalistischen Schema, weil man glaubt, so die Massen erreichen zu können. Dass man sie damit aufgibt, will man in Ungarn nicht mehr erkennen.

Nach diesen Ausführungen - in denen, wohlgemerkt die Marker Demokratie, Menschen- und Grundrechte, der Quasi-Sturz der Verfassungsordnung, die Gleichschaltungsbestrebungen der Gewalten und Medien ausgespart blieben - wurde es nun zwar etwas konkreter und man erkannte endlich, wo doch noch wesentliche Unterschiede der LMP zu Ungarns Rechten liegen, nämlich in der Empathie für den Schwächeren. Doch es blieb beim Stückwerk, da man vermied sich zu bekennen. Nationalismus und ein gerechtes Gemeinwesen - das geht nun einmal nicht zusammen.

"In einem erneuerten Ungarn ist kein Platz für Armut", womit Szél auch auf "Erwerbsarmut" zu sprechen kommt, also den Umstand, arm zu sein, trotz eines Vollzeitjobs. Die LMP vertritt die These, dass man dieses systemimmanente Phänomen "morgen beenden" könne. "Wir können erreichen, dass jene, die acht Stunden arbeiten, von ihrem Lohn leben können." Dazu würde man zum System progressiver Besteuerung zurückkehren und das ruinöse und antisoziale Flat-Tax-Regime Orbáns beseitigen. Dies gelte auch für die steuerlichen Bevorzugungen (u.a. durch Subventionen für Hausbau etc.) für eine virtuelle Mittelschicht und ein Steuersystem, das letztlich nichts weiter sei als ein Geschenk an die Besserverdiener auf Kosten der Geringverdiener.

Bildung sei der Schlüssel, die "Spirale der sinkenden Einkommen" wirklich nachhaltig aufzuhalten. Dazu wolle die LMP 20% der jährlichen realen Staatsausgaben für Bildung aufwenden, also mehr als eine Milliarde Euro. Gleichzeitig müsse man die Benachteiligung von kleinen und mittleren Betrieben gegenüber multinationalen Konzernen beenden. In einer "gesunden Wirtschaft ist Platz für Jeden", doch müsse man "jenen helfen, die diese Hilfe benötigten" und nicht aus eigner Kraft stämmen könnten, vor allem, wenn sie am Anfang stehen.

Anstatt "politische Beziehungen und Korruption" sollten "Leistung, Ideen, Kreativität und harte Arbeit" belohnt werden. Dazu gehöre auch, dass Frauen genauso entlohnt werden wie Männer. Fidesz habe außerdem "die kleinen Bauern bestohlen und ihr Werk zerstört", sich ihrer Ländereien bemächtigt. Dabei liege gerade in den "kleinen Höfen" die Zukunft, nur diese sollten unterstützt werden, dazu brauche es eines "Limits für die Aneignung von Landbesitz". Das sei auch eine Maßnahme, die Entvölkerung, die Landflucht zu stoppen. Die "LMP wird dafür sorgen, dass gute, ungarische Qualitätsprodukte auf den Tischen der Ungarn landen." Selbst hier übernimmt man unbesehen die Parolen des Fidesz von 2010. Warum?

Ein weiteres Thema, das die Regierung zu Tode politisiert hat, ist jenes der Erneuerbaren Energien. Es ist ein klassischer Fall von Verlogenheit, wenn die LMP auf der einen Seite jene Fidesz-nominierten Verfassungsrichter durchwinkt, die u.a. der Regierung die Entmachtung der Atomaufsicht - gegen EU-Recht und gegen die Verfassung - gestatten, auf der anderen Seite aber "Antworten des 21. Jahrunderts für Probleme des 21. Jahrhunderts" geben will. Man fordert die Absage von Paks II, erneuerbare Energien, an die "die Mehrheit der Ungarn glaube" (eine unbelegte Behauptung), schafften Arbeitsplätze und "Unabhängigkeit vom Ausland". Man hätte auch argumentieren können, dass der Wissenstransfer in diesem High Tech-Sektor die Kooperation mit entwickelteren Ländern beflügelge, aber man entschied sich für die Betonung der nationalen Komponente - ein weiteres Mal...

Ihr Co-Chef Hadházy stieß ins gleiche Horn, ein Horn, für das die Regierung freizügig Partituren liefert: "Mehr und mehr Ungarn werden gewahr, dass um sie herum ein täglicher,
von der Regierung organisierter Raub stattfindet, für den es in der Geschichte des Landes kein Beispiel gibt." (eine geflissentliche Verharmlosung der Geschichte, aber geschenkt). Es gehe nicht nur darum, dass Korruption "eine hässliche Sache" sei, sondern vor allem darum, dass die gestohlenen Mittel fehlen, um existentielle Problemlösungen im Gesundheits- und Bildungswesen finanzieren zu können.

Man solle sich nicht darauf herausreden, dass "Korruption irgendwie im ungarischen Charakter liege und man nichts dagegen tun könne" (
wie die Mehrheit glaubt). Es liege "an uns Ungarn selbst, das Ende von Korruption einzufordern." Er zählte die jüngsten Skandale auf: vom Missbrauch von EU-Mitteln durch den Fidesz-Roma-Funktionär Farkas, über die weitgehend unbemerkt gebliebene Auflösung des öffentlichen Gesundheitsfonds, womit die Mittelzuteilung noch mehr partei- und ideologiegebunden konditioniert würde. Er sprach von den 300 Milliarden Forint (900 Mio. EUR) Budgetüberschuss, den die Regierung praktisch in der Silvesternacht aus dem Budget entnahm und unter Gleichgesinnten für sinnlose Prestigeprojekte und fadenscheinige Entwicklungsprojekte verteilen ließ. Mit dem Geld "hätte man die Löhne aller Ärzte und Schwestern für ein Jahr verdoppeln können".

 

Es bleibe nur, Fidesz zu entmachten und das Land "in eine andere Richtung zu bringen". Es müsse ein Ende damit sein, dass die Regierung "Unsummen an öffentlichen Geldern rechtswidrig für Propaganda und Gehirnwäsche ausgibt". Eine Art von Propaganda, die uns "an die glorreichen Tage des Kommunismus in den 50ern erinnert." Diese Propaganda-Mittel ernähren "prostituierte Journalisten", während "unabhängiges Berichten" immer unmöglicher werde.

Auch wenn die Regierung für die 2018er Wahlen Hunderte Millionen ausgeben wird, um "uns zu sagen wie schön alles hier ist", "wir haben genug von ihnen. Unsere Kinder lernen aus Müll-Lehrbüchern, unsere Eltern sterben in furchtbaren Krankenhäusern, die Dörfer sterben aus. Geisteskranke regieren und entzweien uns. ..." Die Ungarn sollten sich nicht vor der Regierung fürchten, die Regierung sollte sich vor ihrem Volk fürchten, schloss der LMP-Co-Chef...

red.


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