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(c) Pester Lloyd / 08 - 2017    POLITIK      20.02.2017

Tabula rasa pro Hungária: MSZP-Spitzenkandidat will Orbán und Gyurcsány verjagen

In einer Grundsatzerklärung hat sich der Spitzenkandidat der ungarischen "Sozialdemokraten", MSZP, László Botka, am Wochenende kämpferisch präsentiert. Er griff nicht nur Orbán als "größten Verräter der ungarischen Geschichte" frontal an, sondern forderte auch, dass Ex-Premier Gyurcsány "endlich aus dem öffentlichen Leben" verschwinden solle, um Ungarns Zukunft willen. Von Botka kamen neue, für die Linke schmerzliche Töne, ob sie zu einer Katharsis reichen, bleibt abzuwarten...

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Geht der MSZP endlich ein Licht auf? Der Hühne Botka muss er noch beweisen, dass er auch eine politische Größe werden kann. Foto: MTI.

Das war etwas Neues in der ungarischen Oppositionszene. Zwar gibt es die Rivalitäten zwischen der DK Gyurcsánys und der sich als oppositioneller Platzhirsch gebärdenden MSZP schon lange, schließlich spaltete der Ex-Premier seine frühere Partei höchstselbst, doch bisher vermied man untereinander den offenen Bruch. Botka räumte mit der Schonung von Gyurcsány, die schon fast etwas vom Stockholm-Syndrom an sich hatte, auf. Man wolle weder, was Orbán abziehe, noch was Gyurcsány anzubieten hatte, so Botka sinngemäß. Denn letztlich sattelte Gyurcsánys Breitband-Versagen Orbán das Pferd. Offenbar hat er endlich verstanden, dass dieser, für die meisten Ungarn unwnählbare, politisch Untote letztlich nichts weiter als eine indirekte Wahlhilfe für Orbán darstellt, auch in Zukunft. Den größten Klotz am Bein einer Erneuerung der ungarischen Linken.

Nun baut Botkas Aufbruchstimmung auf dünnem Beton, nämlich nach wie vor einer sturen, funktionärslastigen, veralteten, unbeweglichen und teilweise kriminell vorbelasteten Kaderschaft der MSZP auf, eine Struktur, ohne die Botka nicht wäre, wo er heute steht und eine Struktur, die offenbar immer noch nicht verstanden hat, dass es für ihre Partei kein natürliches Existenzrecht gibt. Doch immerhin kann er als Bürgermeister von Szeged, der einzigen "roten" Insel im orang-braunen Meer, auf eigene Leistungen verweisen. Szeged führt er, wiewohl im Auge des Flüchtlingssturmes gelegen und von Fidesz finanziell wie adminstrativ gemobbt, mit ruhiger Hand und recht geschickt, wie die Stimmungswerte in der Universitäts-Stadt zeigen.

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Auge in Auge können sich beide nur gegenüberstehen, wenn Orbán einen Hocker benutzt... Orbán und Botka kürzlich in Szeged, bei der Kommunikation des “Modern cities”-Programms. Den Zugang zu EU-Geldern zögerte die Zentralregierung für das “rote” Szeged so lange hinaus wie es nur ging.

Bisher galt - trotz vieler Nicklichkeiten und persönlicher Untergriffe - auf der demokratischen Oppositionsseite ein unausgesprochener Nichtangriffspakt für das große Ganze (die LMP ausgenommen), der sich auf das gemeinsame Ziel der Ablösung Orbáns bezog. Diesen Pakt hat Botka aufgeschnürt. Denn die Prozentchen der Oppositionsparteien summierten sich bei den letzten Wahlen nicht, sie hoben sich gegenseitig auf. Oder anders gesagt: Botka hat wohl erkannt, dass die demokratische Opposition ganz Unten angekommen ist, - der beste Zeitpunkt für Tabula rasa...

 

Und ist der Tisch einmal leergefegt, könnte man ihn neu decken. Andererseits kann man in der recht voreilig - weil ohne Absprache mit möglichen politischen Partnern - gefällten Entscheidung, Botka zum "Kanzlerkandidaten" zu machen, auch eine gewisse Selbstaufgabe der Wahlen 2018 sehen. Offenbar positioniert man sich zunächst, um dann möglicherweise 2022 zum Zuge zu kommen.

Was hat Botka, der einen gewissen Schulz-Effekt erlebt und in
Direktwahlumfragen bis auf zwei Punkte zu seinem Rivalen Orbán aufschloss, anzubieten? Seine wichtigsten Ziele für eine Nach-Orbán-Ziele seien: Gerechtigkeit, Gleichheit und Ungarns Aufstieg. Die Ungarn wollten einen Wechsel, aber weder "Führer, die die Vorweltkriegs-Horthy-Zeit verherrlichen, noch solche, die versuchten die Kádár-Ära wieder zu errichten." Die Regierungen vor 2010 seien "selbstzertsörerisch" gewesen, während jene ab 2010 (also Orbán) von "Arroganz und konspirativer Aneignung der Macht" gekennzeichnet seien.

Der groß gewachsene, souverän und ruhig auftretende (kein unwichtiger Faktor für Wahlkämpfe) Botka nannte Premier Viktor Orbán den "größten politischen Verräter" der Nachwendezeit, "der seine eigene Versprechen gebrochen" habe und "eben nicht für ungarische Interessen" arbeite. Das sehe man schlicht daran, dass der Einkommensunterschied zwischen den ärmsten und den reichsten Ungarn seit 2010 um das Achtfache gestiegen sei und mehr als eine halbe Million Ungarn das "Land auf der Suche nach besseren Lebensstandards verlassen" haben, Orbán also mitten in Europa Wirtschaftsflüchtlinge produziere.

Mit das Erste, was er als Regierungschef unternehmen werde, sei, "die Abwanderung der Mitarbeiter des Gesundheitswesens zu stoppen, den Sektor in Ordnung zu bringen und die Wartelisten (für nicht überlebensnotwendige Operationen sind es mit die längsten in der EU, Anm.) zu verkürzen." - Ähnliches sei im Bildungsbereich notwendig: Es brauche Anstrengungen, "marktfähige Kenntnisse" zu vermitteln und von der "lexikalen Wissenseintrichterung zur Entwicklung der Kreativität" zu wechseln.

Ein gezielter Kampf gegen Korruption würde, so glaubt Botka, nicht nur die Finanzen des Landes in Ordnung bringen, sondern auch "die Schere zwischen Links und Rechts" verringern, weil man so allen Bevölkerungsschichten wieder das Vertrauen in die staatlichen Autoritäten zurückgebe.

Er, Botka, wolle dafür sorgen, dass "die Sozialisten ihre Wähler nie mehr im Stich lassen" (also Wasser predigen und anschließend Tokajer saufen) und er versprach auch, "keine Allianz mit der radikal-nationalistischen Jobbik einzugehen". Eine Abgrenzung, die andere Parteien des demokratischen Spektrums so nicht tätigen, ja, teilweise offen
von einer "notwendigen" Allianz sprechen. Selbst in den eigenen MSZP-Reihen ist man nicht frei von Gedankenspielen in diese Richtung.

Botkas Klarstellung ist hier wichtig, ja immanent, denn geht es in Ungarn nur vordergründig um die Ablösung Orbáns, damit gemeint ist aber die Re-Vitalisierung der Demokratie und ihrer Kontroll- und Schutzinstanzen zur Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten. Etwas, was mit der sich zwar bürgerlich gebärdenden, aber nach wie vor neonazistischen Jobbik, nie zu machen sein wird. Jobbik spekuliert auf die "Linke" lediglich als Steigbügelhalter zur Machtergreifung.

"Für unser Ziel brauchen wir alle demokratischen Wähler, - aber nicht alle Politiker. Jene, die eine Bürde geworden sind, weil sie das öffentliche Vertrauen verspielt haben, dürfen keine Chance mehr bekommen", so Botka in Richtung Orbán und Gyurcsány gleichermaßen und ergänzte in für die MSZP ungewohnter Selbstkritik: "Wer den Wählern für 2018 ein glaubwürdiges Wahlprogramm anbieten will, sollte zunächst seine Schlüsse aus den Verfehlungen der linksliberalen Regierung von 2002-2010 gezogen haben". Eine "Neue Chance" wünscht sich Botka indes für sich und die MSZP, vor allem aber für Ungarn. So steht es auch auf seinem Rednerpult.

In ungewohnter Härte stellte er Orbán und Gyurcsány in praktisch die gleiche Ecke: "Politiker, die in die Gesichter der Wähler logen, sind eine Bürde für die Linke und für das Land und sollten in Erwägung zu ziehen, sich zurückzuziehen." Das gelte vor allem für die "zwei spaltensten Politiker" des Landes, man brauche "keine Ikonen", weder rechts noch links, "weder verhasste, noch verehrte". Sie sollten aus den politischen "Heiligenschreinen" entfernt werden.

An Orbán hatte er dann noch eine spezielle Botschaft hinsichtlich der "ungarisch-russischen Beziehungen", die nichts weiter seien als die alte Abhängigkeit in neuem Kleide. "Der Jungdemokrat, der 1989 am Grabe Imre Nagys die Russen aufforderte, das Land zu verlassen und der dafür Hochachtung verdiente, hat jetzt die Russen für einen Preis (lies: Judaslohn) zurück ins Land geschmuggelt."

1708botkagyurcsany (Mobile)Fidesz reagierte in einer Aussendung gleichmütig und mit den üblichen Phrasen: Die Sozis, korrupt bis ins Mark, würden alle Steuern erhöhen, das Land den Multis überlassen, die Menschen ermutigen von Sozialhilfe zu leben, Wohnbeihilfen und Renten kürzen usw. Im Übrigen solle Botka mal nicht so tun, er sei schließlich ein Zögling Gyurcsánys (auf dem foto rechts beide zusammen). Letzteren am Leben zu erhalten, liegt offenbar in vitalem Interesse des Fidesz...

Jobbik ließ ausrichten, ihnen sei nun klar, dass die MSZP nicht den Sturz Orbáns, sondern lediglich die Beseitigung Gyurcsánys im Sinne habe, damit sei klar, dass es nur eine Alternative zu Orbán gebe: Jobbik, die auf der Seite der ungarischen Menschen stehe.

 

Gyurcsánys Reaktion auf Botkas "friendly fire" fiel zunächst relativ gelassen, fast ironisch aus. Der politische Überlebenskünstler ließ sich am gleichen Tag der Botka-Rede von seiner Anhängerschaft mit 98% zum DK-Parteivorsitzenden wiederwählen, wobei er betonte, dass alle Parteimitglieder, nicht nur Delegierte, abstimmen konnten, lies: er demokratisch legitmierter ist als Botka. Dem richtete er auf seiner Facebook-Seite aus, dass es ja wohl noch immer "Sache der Wähler ist, zu entscheiden, wer einen Platz im öffentlichen Leben Ungarns haben solle" und wer nicht. Von ihm aus, "als Wähler, würde ich Botka einen Platz einräumen, ich wünsche ihm sogar viel Glück."

Kenner Gyurcsány lesen aus dieser Bemerkung blanke Wut heraus, denn Gyurcsány ist, was Eitelkeit, Alleinstellungsanspruch und Rachsucht angeht, sozusagen der Orbán der Linken und hasst nichts mehr als wenn ihm jemand seinen Platz als "Retter Ungarns" streitig macht. Gyurcsány nannte Verhandlungen zwischen anderen Oppositionsparteien über Allianzen schon auch "Verrat", allein, weil man ihn nicht eingeladen hatte. Dass ihn das Volk, von ein paar "Gläubigen" abgesehen, schon lange ausgeladen hat, kommt Gyurcsány, ähnlich wie anderen Narzissten, wohl nicht in den Sinn...

red.


46pllogo (Andere)
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