Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1908

Franz Herczeg

Das ungarische Bürgertum

Franz Herczeg (1863 - 1954) war Schriftsteller, Dramatiker und Journalist ungarndeutscher Abstammung. Er schrieb seine ersten Werke in deutscher Sprache und lernte erst im Gymnasium Ungarisch. Er repräsentiert das Paradoxon eines erzkonservativen Kaffeehausliteraten und war in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einer der produktivsten und meistverlegten wie gespielten Autoren Ungarns. Sein heute bekanntestes Werk ist das Theaterstück "Blaufuchs" (1917). Für den Pester Lloyd verfasste Herczeg zahlreiche Artikel zum Zeitgeschehen ("Der Haß in der Politik" 1913), aber auch Theaterkritiken sowie Prosastücke ("Affentheater - eine Szene" 1925) und Humoresken ("Die Legende vom Journalisten" 1936).

Sein, prominent in der Weihnachtsausgabe vom 25. Dezember 1908 als Leitartikel, platzierter Beitrag "Das ungarische Bürgertum", spiegelt nicht nur die damalige Lage, sondern mit seinen aktuellen Bezügen auch kontinuierliche ungarische Befindlichkeiten zwischen Bürgerstolz und Selbstmitleid. m.s.

Einen aufschlussreichen biographischen Beitrag zu Ferenc Herczeg finden Sie hier

Seht, meine Nächsten, mit Euren Augen, was wir sind!
(Sermo super sepulchrum)

Während wir stromab gleiten auf dem Flusse des Lebens, müssen wir bisweilen in den Laderaum des Schiffes hinabsteigen, um das Gepäck zu prüfen, das wir mitgebracht haben. Wir finden da waren, die wir bei der Abfahrt mit eifersüchtiger Sorge eingeschifft haben und von denen jetzt offenkundig wird, daß sie den Raum nicht verdienen, den sie einnehmen, geschweige denn die Angst, die wir in stürmischen Tagen um ihretwillen ausgestanden haben. Ins Wasser mit dem wertlosen Ballast! Ist uns auch die Ernüchterung aus dem Reichtum unserer Vergangenheit peinlich, ins Wasser damit! Allerdings gibt es Lebenskünstler, die sich hüten, ihre Werte einer ernsten Schätzung zu unterwerfen. Die werden im Besitze einer Schuttladung als reiche Schiffsreeder sterben. Sie sind zu beneiden, ihre Erben jedoch keineswegs.

Zu den verdächtigten Werten,, die wir gar viele mit uns schleppen, zählen auch unsere den ungarischen Bürgerstand betreffenden Illusionen. Wir allesamt akzeptieren den ungarischen Bürger, sprechen über ihn als von einem selbstverständlichen ergänzenden Teil der Kulturgemeinschaft; seine Gestalt jedoch ist von dichtem Nebel umgeben, eine phantastische Begleiterscheinung, die bei solch einem werktätigen, prosaischen Geschöpfe zumindest auffällig ist. Ich zum Beispiel weiß absolut nicht, wie es um den Typus des ungarischen Bürgers bestellt ist. Den deutschen, den französischen, den englischen, den österreichischen Typus kennt jedermann, den ungarischen kennt niemand.

Man sagt, die intelligente, wohlhabende bürgerliche Mittelklasse, als organisierte und selbstbewußte Volksschicht, sei das Rückgrat eines wohlgebauten nationalen Körpers, den alsdann obere und untere Extremitäten ergänzen. Wenn das stimmt, dann ist die ungarische Nation ein anatomisches Unikum unter den Völkern des Westens, denn ihr Körper besteht nur aus Extremitäten. Das ungarische bürgerliche Rückgrat ist überhaupt nur eine willkürliche Hypothese. Wir akzeptieren sie als Basis der Berechnung, in Wirklichkeit jedoch zählt sie nicht. Vielleicht ist auch das mit ein Grund, daß sie so viele unserer Berechnungen falsche Endsummen ergaben.

An eine bürgerliche Gesellschaft, als organisierte regierende Klasse, glauben bei uns nur die sozialdemokratischen Redner und Schriftsteller. Das ist aber ein Köhlerglaube. Sie könnten sich die Überzeugung selber verschaffen, wenn sie berücksichtigen würden, daß nur feudale und klerikale Banderien sich dem politischen Vordringen des Proletariats ernst widersetzen. Der Arbeiter findet sich dem Grafen und dem Bischof gegenüber. Was zwischen diesen beiden extremen Lagern liegt, das ist nichts, oder doch nur eine farblose, eine fühl- und willenlose Masse. Es gibt bei uns Bürger, aber es gibt kein Bürgertum.

Nur von zwei gut organisierten gesellschaftlichen Klassen kann gesprochen werden: dem industriellen Proletariat und dem grundbesitzenden Adel. Binnen kurzer Zeit wird sich ihr voraussichtlich noch eine dritte gesellen: die Bauernschaft. Wirtschaftliche Interessen halten die erstere Klasse beisammen, geschichtliche Überlieferungen die zweite. Der Adel, dessen Kraft bei uns ohne ersichtlichen Grund unterschätzt zu werden pflegt, ist der wirkliche Herr im Lande. Allerdings ist seine Hegemonie für den Bürger individuell nicht drückend, auch nicht erniedrigend, da der Adel gesellschaftlich guten Geschmack, in der Politik liberale Formen zeigt und weil er schließlich seine Pforten für die Bürger offen hält, deren hervorragendste Persönlichkeiten auch recht gern als seine Führer akzeptiert.

Die liberalen Überlieferungen des Adels datieren aus der Zeit der Kämpfe gegen das absolutistische Kaisertum, als die Stände in den bürgerlichen Honorationen wertvolle Waffengenossen fanden. Diese oppositionelle Taktik ließ die ungarische Bürgerschaft zu Luft kommen, legte sie aber andererseits ins Steckkissen, indem ihr die Bedingungen der zukünftigen Entwicklung vorgeschrieben wurden. Die Entwicklung besticht darin, daß der Bürger, der im öffentlichen Leben eine leitende Rolle erlangt, den Sieg der von dem Begriff des Bürgertums untrennbaren demokratischen Idee absolut nicht fördert, sondern selber ein rezipiertes Mitglied des Adels wird. Charakteristisch hiefür ist der Junkerton, die junkerhafte Auffassung, die im Hause unserer Volksvertretung auch für den Kreis der bürgerlichen Abgeordneten mit denkbar rötestem Blute obligatorisch ist.

Die Bürgerschaft spielte und spielt auch heute noch im staatlichen Leben neben den höheren Klassen die Rolle von Hilfstruppen. Sie hat weder ihr besonderes Selbstbewußtsein, noch ihren besonderen Willen. An den fünf Fingern könnten wir berechnen, in welch schiefe Situationen dieses Nichtorganisiertsein die Bürgerschaft hineinwirbeln kann. Zu Westeuropa sind die gesellschaftlichen Kämpfe – deren Wellen früher oder später auch unsere Wässer aufwühlen – auf die Beseitigung der Klassenherrschaft eines übermäßig gesättigten, übermäßig egoistischen und übermäßig sich überhebenden Bürgertums gerichtet. Bei uns zu Lande kann sich nun die tragikomische Situation ergeben, daß von unten und von oben solche Positionen gestürmt werden, die das Bürgertum gar nicht inne hatte und daß man um den Besitz solcher Schätze ringen wird, die es gar nie sei eigen nennen konnte.

Gar oft hört man Klagen, das Bürgertum erfreue sich bei uns nicht der gleichen Achtung, wie in den westeuropäischen Ländern. Es gibt aber auch nichts, das natürlicher wäre. Man pflegt die Menschen nicht im Verhältnis zu ihrer Nützlichkeit, sondern im Verhältnis zu ihrer Vornehmheit zu achten. Jedwede Art der menschlichen Vornehmheit entspringt aber der Quelle irgend einer Macht. Und jede gesellschaftliche Klasse muß sich ihre eigene Macht selber erkämpfen. Die englische Bürgerschaft tat das zur Zeit der Parlamentskämpfe. Die französische zur Zeit der großen Revolution, die deutsche und italienische im Zeitalter der Blüte städtischen Lebens. Das ungarische Bürgertum siegte niemals, da es niemals kämpfte, zumindest nie unter seinem eigenen Banner. Heute aber ist es in vollständiger Demoralisation begriffen. Seine materiell stärksten Schichten sind infolge der massenhaften Nobilitierungen fortwährend auf der Fahnenflucht. Der Kern der Bürgerschaft dokumentiert hiedurch so offen die Geringschätzung seiner selbst, daß es förmlich komisch klingt, wenn er von den Angehörigen anderer Klassen Achtung fordert. Ein Teil der Jugend, die endgültig Ernüchterten folgen ihrem kriegerischen Instinkt, wenden sich in stetig wachsender Zahl dem Lager der organisierten Proletarier zu. Die Lage der Bürgerschaft wird noch durch den Umstand verschärft, daß die Bürgerschaft im Alfölder Volksbassin nur dem Namen nach Bürgerschaft ist. In Wahrheit sind es Grundbesitzer, halb Aristokrat, halb Bauern, alles eher, nur nicht Bürger.

Ob Ungarn neben seinem historischen Adel, der sich Mittelklasse nennt, noch einer besonderen bürgerlichen Mittelklasse bedarf, ob es heute möglich und der Mühe lohnend ist, an die Organisation und Ausrüstung einer solchen Klasse zu denken, das sind Fragen, die ich nicht beantworte. Ich begnüge mich damit, die Illusionen, die ich gleich so vielen anderen Ungarn eine gute Weile mit mir geschleppt habe, ins Wasser zu schleudern.