Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1909

Bertha v. Suttner

So - und doch ganz anders

"Toutes les energies contre toutes les violences“ - Alle Kräfte gegen die Gewalt, mit diesen Worten schloß die Wiener Friedenstaube Bertha von Suttner am 9. Juni 1908 ein Feuilleton im Pester Lloyd, als sie vom 1. Antiduellkongress in Budapest berichtete. Das pazifistische Bestreben der 1843 in Prag geborenen Bertha Gräfin Kinsky von Wchinitz und Tettau war immer auch ein sozialer, emanzipatorischer Kampf, der sich in einer verkrusteten monarchischen Ordnung als Anrennen gegen Windmühlen heraustellte. Im Juli 1909 erschien im Pester Lloyd die Posse „Reiseärger“, der aus „dem sanftmüthigsten Lämmchen auf dem großen Weideplatz Erde“ die „wildeste Hyähne“ machen konnte. Mit viel humoristischem Geschick berichtet sie darin über die Unannehmlichkeiten des Pass- und Zollwesens auf der Eisenbahn, nicht ohne auch in der sinnlosen „Uniformiertheit“ der Amtshandlungen „sie reißen Wagenabteile auf, ohne zu kontrollieren - so lebt die Form immer länger als der Geist“ gewitzte Systemkritik zu üben. In der Weihnachtsausgabe dieser Zeitung 1911 erschien eine Reihe von “Aphorismen zu Krieg und Frieden”, 1913 durfte Sie noch die Verfilmung Ihres Erfolgswerkes „Die Waffen nieder!“, das gleichzeitig Vermächtnis ist, erleben. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, im Juni 1914 starb die Wiener Friedenstaube, gerade rechtzeitig, um die bis dato unvorstellbaren Schrecken dieses Abschlachtens nicht erleben zu müssen, aber viel zu früh als Stimme der Vernunft in einer Welt der Unvernunft und Barbarei. m.s.

Es war in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Zwei Jünglinge, in enger Freundschaft verbunden und eifrig beflissen, ihren Geist zu bilden, pflegten oft stundenlang über Gott und die Welt, über Leben und Menschen miteinander zu philosophieren. Der Eine, Karl, war der Sohn eines Pastors und strebte die Laufbahn eines Geschichtsprofessors an. Der Andere, Friedrich, der Sohn eines höheren Beamten, hatte sich dem Studium der Naturwissenschaften, besonders der Chemie ergeben und wollte sich gleichfalls dem Lehrfach widmen. Dabei aber waren sie keineswegs Pedanten, sondern im Gegenteil, romantisch veranlagte, phantasievolle Naturen.

Damals war gerade die Eisenbahn erfunden worden und die erste Fahrt auf der ersten Strecke – von München nach Fürth – war schon glücklich vollbracht. Die beiden Freunde besprachen das große Ereignis. Welche Perspektiven für die Zukunft! Wenn diese Reisemethode sich ausbreiten und vervollkommnen sollte, wie müsste das auf den Verkehr, auf die Annäherung der Völker, auf den Aufschwung des Handels, auf die Bereicherung und Verschönerung des Lebens wirken. Darüber malten sich die Jünglinge die glänzendsten Bilder aus, wenn sie auch mitunter ihren Enthusiasmus durch die Erwägungen dämpften, die damals stark im Umlauf waren: die neue Fahrgelegenheit wäre doch mehr eine Spielerei als eine praktische Sache, große Gefahren wären damit verbunden – wie, wenn zum Beispiel eine Kuh übers Geleis läuft?! Die Kosten wären nicht zu erschwingen, der Widerwille, die Angst der Landbevölkerung nicht zu überwinden – und die vornehmen Leute, die ihre eigenen Reisekutschen haben, würden sich doch nie herbeilassen, anders zu reisen als bisher. Schrecklich wäre auch auch der den Fahrpostunternehmern – Fürst Thurn und Taxis an der Spitze – zugefügte Schaden, die Existenzzerstörung so vieler Postillione und Landstraßenwirte... – die würden sich gehörig gegen die pustende, hässliche, ihren Erwerb bedrohende Maschine wehren.

Aber, bei aller Berücksichtigung dieser Hindernisse, Karl und Friedrich waren, wie gesagt, ein paar phantasievolle, junge Leute und unterhielten sich mit Spekulationen über die herrlichen Möglichkeiten, welche durch die Einführung des „Dampfrosses” sich eröffnen könnten.

„Die Welt wird eine ganz andere werden”, rief Friedrich. „und wer weiß, bis zu welchen Höhen der menschliche Erfindungsgeist noch sich schwingen wird. Hat man es dahin gebracht, ohne Zugtiere zu fahren, so könnte man sich auch einen Wagen vorstellen, der ohne Schienen läuft”. „Und vielleicht”, erwiderte Karl, „ein Fahrzeug, das die Luft durchquert!” „Oder auch ein Boot, das unter dem Wasser gleitet.”

Sie mussten beide lachen: aber sie fanden Vergnügen daran, ihre Einbildungskraft anzustrengen, um die sonderbarsten und unfassbarsten Dinge vorzubringen, welche, als Ergebnis der menschlichen Geschicklichkeit, die Welt noch umgestalten könnten. Sie trachteten einander durch die kühnsten Vorstellungen zu überbieten. Wohl fühlten sie sich dabei, dass sie ins Reich der Märchen glitten und die Einfälle des einen riefen meist die Heiterkeit des anderen hervor, der sich dann bemühte, noch etwas Tolleres zu ersinnen.

„Wenn man imstande wäre, Bilder, wie sie ein Spiegel auffängt, auf der Platte festzuhalten, und so Porträts und Landschaftsgemälde herstellen würde, die sich sozusagen von selber zeichnen würden...”

„Oder noch schöner: diese fixierten Bilder müssten nicht nur die Linien, sondern auch die Bewegungen wiedergeben...”

„Nein, Unmögliches sollten wir uns nicht vorstellen! Nichts, was Zauberei wäre, sondern nur, was mit Berücksichtigung der Naturkräfte im Bereich der Erfindungsmöglichkeit liegt.”

„Nur keine Einschränkungen! Wenn man sich schon eine veränderte Welt vorstellt, so braucht man sich keine Grenzen zu stecken. Wir kennen ja nicht alle Gesetze und alle Kräfte der Natur.”

„Wohlan, so will ich mir einen Apparat vorstellen, in den man hinein spricht oder singt, und der diese Töne festhält und auf Wunsch immer wiedergibt.”

„Noch besser wäre ein Apparat, durch den man auf weite Entfernungen hin sich mit Freunden unterhalten könnte, von einer Straße in die andere.”

„Warum nicht aus einer Stadt in die andere? Meinst Du, dass die leibhaftige Stimme auf solche Distanzen hörbar wäre?”

„Ich meine nur eine Verständigung durch Zeichen, ein Draht müsste diese Zeichen weiterleiten.”

„Etwas langen Draht müsste man da haben. Aber diese Schwierigkeit soll uns nicht aufhalten. Übers Meer ließe sich allerdings keine Leitung spannen.”

„Also dann unterm Meer...”

„Wenn wir schon dabei sind, sagen wir ohne Draht...”

Hier lachten sie unbändig. Der Witz war zu gut. Dann huben sie wieder an: „Und sagen wir: nicht nur die Zeichen, sondern die menschliche Stimme soll vom Absender zum Empfänger dringen.”

„Und Licht, mehr Licht müssten wir haben. Wenn es Abend wird, sind unsere Gassen nur gar spärlich beleuchtet. Ich denke mir Fluten von Licht, die mittels eines Drucks auf einen Knopf augenblicklich in allen Laternen aufflammten.”

„Ebenso in den Häusern, auf jedem Kronleuchter, an jedem Schreibtisch – mit einem Ruck zu entzünden und auszulöschen.”

„Dabei müsste dieses Licht in den zauberischsten Farben leuchten können, um über Gärten und Fontainen feenhafte Schönheit auszugießen...”

„Und Maschinen denke ich mir, die durch ihre Leistungen den armen Menschen – und auch den armen Tieren – die Last aller schweren Arbeit abnehmen...”

„Und Maschinen, die in einer Stunde, in einer Minute solch eine Summe von Arbeit verrichten, wie sie die Menschenhand nur in ebenso vielen Tagen leisten kann.”

„Maschinen, die säen und dreschen und schreiben und nähen.”

„Räder, auf die man sich hinaufsetzen kann und sausend weiter rollen.”

„Vehikel, in denen man sich in die Luft erhebt und in schönen Kurven über Felder und Wälder fliegt.”

„Methoden, durch die man das Wachstum von Getreide und Gemüse beschleunigen und zu enormen Größen entwickeln könnte – das heißt also, doppelte und dreifache Ernte im Jahre in zehnfachen Qualitäten erzielen, und so jede Hungersnot, jeden Mangel bannen.”

„Eine schöne, glückliche Welt wird das sein!”

Und nun begannen sich die beiden Freunde die Wirkungen auszumalen, die solche Errungenschaften nach sich ziehen müssten. Jetzt aber versagte ihr Zukunftsblick. Was sie, ohne selbst an die Möglichkeit ihrer Erfüllung zu glauben, von technischen Wundern ausgemalt hatten, ist durch die Wirklichkeit erreicht und übertroffen worden. Was sie aber auf Grund einfachster Vernunftschlüsse als die unabweislichen Ergebnisse ihrer phantastischen Vorraussetzungen annahmen, d a s  war toller Märchentraum.

Glückliche Menschen, stolz jubelnde Menschen sahen sie im Geiste. Ihrer grenzenlose Macht, ihres schönheits- und freudereichen Schatzbesitzes vollbewusste Geschöpfe, die das mit so vielen Zaubergewalten ausgestattet Göttergeschenk „Leben” dank- und weihevoll geniessen wollten und die solchen Genusses würdig waren. Denn auch das stellten sich die naiven Jünglinge vor: dass gleichzeitig mit der Beherrschung der physischen und dem Wachstum der technischen Kräfte sich auch die seelischen Kräfte in gleicher Weise entwickeln würden. Dass Moral, Verstand, Güte, Hochsinn, und wie sonst die Attribute edlen Menschentums heissen, mindestens ebenso sieghaft zur Entfaltung und Anwendung gebracht würden wie Licht und Wärm, Luft und Wasser, Dampf und Benzin.

„Was glaubst Du, Freund,” sagt Friedrich, „wie würden so vervollkommnete Wesen, die von einem Kontinent zum anderen sprechen, die durch die Lüfte fliegen, kurz, die das alles können und alles besässen, was wir da zusammengeträumt und die dadurch auch verhältnismässig um so viel besser und klüger wären, als unsere Zeitgenossen – wie glaubst Du wohl, dass diese Wesen denken, fühlen, handeln würden?”

Auf diese Frage können wir heute Antwort geben. Wir sind ja die glücklichen und mächtigen Wesen aus dem Traumland der einbildungsstarken Jünglinge. Nun denn, was fühlen die meisten unter uns? Hass, Neid, Furcht. Worauf sinnen sie? Der Wenzel sinnt, wie er dem Michel, und der Michel, wie er dem Wenzel am meisten schaden kann. – Wie nützen sie die neuen Erfindungen, zum Beispiel ein wolkenhoch schwebendes Schiff aus? Sie beladen es mit 2.000 Kilogramm Todesregen! – Und was denken die meisten? Die meisten denken gar nicht!