Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1911

Camille Flammarion

Unterhaltung mit einem Marsbewohner

übersetzt von Bertha v. Suttner

Ich hatte einen Vormittag damit zugebracht, Photographien der Landschaft aufzunehmen, die das Observatorium von Juvisy umgibt. Ich benützte ein Objektiv aus Quarz. Solche Objektive sind für ultraviolette Strahlen durchlässig, und so hatte ich ganz andere Bilder als die uns bekannten hervorgebracht; so zum Beispiel zeigte sich auf der Straße ein Mann, der keinen Schatten warf, wie Virgil an Dantes Seite in der Hölle, oder wie Peter Schlemihl. Man weiß, daß für diese Objektive Glas so undurchsichtig ist wie eine Mauer. Es ist dies eine andere Welt. Ins Laboratorium zurückgekehrt, hatte ich radiographische Studien angestellt, wobei ich mein eigenes Skelett beobachtete, das durch die Kleider und durch das Fleisch deutlich sichtbar war; und abends, zur Stunde des  Durchganges des Planeten Mars im Meridian, hatte ich aufmerksam die merkwürdigen, so oft wechselnden Gestaltungen dieses Gestirns betrachtet und aufgezeichnet. An diesem Tage auch waren zahlreiche Aeroplane, die vom benachbarten Flugfeld kamen, über meinem Kopf geflogen. Die wunderbaren und raschen Fortschritte der zeitgenössischen Wissenschaften stellten sich meinem Geiste dar und ich wurde von der Empfindung ergriffen, daß der einzige Wert des Menschen in seinem intellektuellen und moralischen Gehalt besteht, daß Titel und Reichtümer nichts bedeuten, daß einzig die Wissenschaft den Fortschritt der Menschheit ausmacht (denn die menschliche Rasse an sich ist noch ebenso barbarisch und zusammenhanglos wie zur Zeit des Darius und des Xerxes); dann, nachdem ich mich niedergesetzt und ein altes, zufällig daliegendes Heft der „Revue des Deux Mondes“ zur Hand genommen, begann ich einen Artikel des Herausgebers, Herrn Brunetiere, betitelt „Der Bankrott der Wissenschaft“, zu lesen, und war bald darüber eingeschlafen.
Da schien mir, daß aus dem Innern meines Körpers heraus meine Seele durch die geschlossenen Lider deutlich alles wahrnahm, was mich umgab. Ein Wesen, dessen Gestalt mich an den Jupiter aus Bronze des St. Peterdoms in Rom erinnerte, saß mir gegenüber und frug mich aus.
„Ich bin ein Bewohner des Mars,“ sagte er „und sehr unwissend über die Dinge der Erde. Heute nachmittags, als ich über das Meer kam, habe ich prachtvolle Schiffe, Meisterwerke der Industrie, bemerkt, mit Leuten darauf, die sehr ernsthaft beschäftigt schienen. Wissen Sie, welchen Zwecken diese Fahrzeuge dienen? Sicherlich sind sie auf der Suche nach neuen Entdeckungen auf den Weltmeeren?“
„Nein,“ erwiderte ich; „das sind die Eskaders der verschiedenen Nationen; diese Schiffe bestätigen ihre Seetüchtigkeit, und sie sind nur zu dem Zwecke gebaut, sich eines Tages mit ebensolchen Eskaders zu messen, wobei alte Leute, die sie führen, zerschossen, zersäbelt oder ertränkt werden.“
„Ay!“ machte er. „In einem Hafen habe ich deren mehr als einhundert gezählt, von allen Seiten mit furchtbaren Eisenröhren bewaffnet.“
„Ja, das ist der berühmte Kieler Hafen. Diese Röhren sind Todeswerkzeuge. Es gibt augenblicklich dreihundert erstklassige Schiffe, deren Bau mehr gekostet hat als unsere sämtlichen wissenschaftlichen Instrumente, und sie warten nur auf den Zeitpunkt, sich gegenseitig anzuschießen und in den Grund zu bohren.“
„Gegenseitig anschießen?“
„Sich Kugeln zuzuwerfen, sich zu zerfleischen und die Besatzungen samt ihren Palästen in die Tiefen des Wassers zu versenken.“
„Sonderbar! Diese Leute sind elegant kostümiert und tragen an der Seite einen Gegenstand mit glänzendem Griff.“
„Einen Degen, einen Säbel. Das dient zum gegenseitigen Blutvergießen.“
„Und Wimpel von allen Farben flattern in der Sonne.“
„Das ist, um sich im Kampfe zu erkennen. Das sind die einander feindlichen Farben.“
„Und warum sind diese Wesen so gegeneinander bewaffnet?“
„Sie wissen es nicht genau. Es ist eine alte Gewohnheit. Und die Gewohnheit, so heißt es, ist eine zweite Natur. Die irdische Menschengattung ist in verschiedene rivalisierende Sektionen geteilt, die man Nationen nennt und die durch Grenzen getrennt sind. Zuweilen machen sich in diesen Nationen beredte Helden bemerkbar, die sie aufreizen und erheben, dann ziehen sie gegen ihre Nachbarn in den Krieg. Sie nennen das: Vaterlandsliebe, Ruhm, Ehre. In allen Ländern liebt man es, sich zu schlagen und das soll, so versichert man, eine gesunde Übung sein. Die Heere sind kostümiert – ohnedem hätten diese Übungen keinen Reiz. Das war ordinär.“
„Ich bewundere ihre Geistesbeschaffenheit…Wirklich köstlich. Aber gibt es für diese mörderischen Spiele wenigstens Vorwände?“
„Das ist nicht unbedingt nötig. Das Gesetz ist, daß vierzig Millionen Menschen im Jahrhundert, zwölfhundert im Tag hingeschlachtet werden, regelmäßig. Und wenn die Menschheit einen einzigen Tag aus Vergessenheit aussetzt, so ist nichts verloren dabei; 2400 Opfer warten, daß am folgenden Tag die Reihe an sie kommt. Die Gewohnheit ist nun einmal genommen. Es ist die Lieblingsbeschäftigung der Bewohner unseres Planeten und die rühmlichste. Die Schlachtfelder heißen in allen Sprachen Felder der Ehre.“
„Ist’s schon lange her, daß Sie sich so amüsieren?“
„Seit undenkbarer Zeit. Wir sahen neulich wegen einer strittigen Grenze einen blutigen Kampf zwischen Russen und Japanern; einige Jahre vorher zwischen Amerika und Spanien, wegen einer reizenden Insel namens Kuba; vor vierzig Jahren hat ein ehrgeiziger preußischer Staatsmann Frankreich und Deutschland gegeneinander losgelassen, zweimalhunderttausend Männer hingemordet, zehn Milliarden vernichtet; vor hundert Jahren hat ein gewisser Napoleon aus ganz Europa ein prächtiges Schlachtfeld gemacht, auf dem fünf Millionen Menschen gefallen sind; vor Napoleon hatten wir Ludwig XIV. und die endlosen Kriege zwischen Frankreich und England; weiter zurück in der Geschichte zogen die Kreuzfahrer nach Jerusalem, in der naiven Überzeugung, daß die Erde Christi christlich sein müsse; wenn Sie unsere Geschichtsbücher lesen könnten, werden Sie in erster Reihe die Namen Cäsar, Alexander, Karl der Große, Attila, Tamerlan, Dschingis Khan – diese lärmenden Helden der ewigen Metzgerei – glänzen sehen; im Morgenrot der Geschichte haben die Dichter den trojanischen Krieg besungen, der um einer schönen Frau Willen geführt wurde, und die allgemeine Statistik lehrt, daß seit jenem trojanischen Krieg die Menschheit in ihrer Gänze nicht ein einziges Jahr gesicherten Friedens genossen hätte, kein einziges Jahr ohne Krieg und Bürgerkrieg. Das ist, was die Summe der vierzig Millionen Menschen pro Jahrhundert ergibt – als Opfer dieser Kampflust. So sterben noch gegenwärtig, mehr als vierzig Jahre nachher, Leute an den Folgen des deutsch-französischen Krieges. Wir hatten in Paris eine Belagerung, während deren die Entbehrungen und der Hunger mehr Todesfälle verursacht haben als die feindlichen Geschosse; vor mehr als einem halben Jahrhundert hat ein anderer Krieg zwischen Franzosen, Engländern und Russen, dessen Vorwand die Türkei war, 800.000 Opfer gekostet, von welchem neun Zehntel in den Spitälern gestorben sind. Und so weiter – so könnte ich endlos forterzählen.“
„Und wahrscheinlich kostet das alles sehr viel?“
Gewiß. Man kann es gar nicht erschwingen – und um sich anständig gegenseitig umzubringen, haben die Völker zur Stunden schon eine Schuldenlast von 165 Milliarden aufgehäuft…Diese Ziffer sagt Ihnen nichts, denn sie kennen auf dem Mars weder unser Zahlensystem, noch unser Geld. Aber wir, wir wissen, was das bedeutet. Die Soldaten kosten – an Kost und Wohnung – 23 Millionen täglich, die von den Arbeitenden geliefert werden müssen. Alljährlich steigen unsere Steuern.“
„Sie glauben gar nicht, wie Sie mich fesseln! Wie heißt denn ihr Geschlecht?“
„Das menschliche Geschlecht.“
„Wodurch unterscheidet es sich von den anderen Arten, die auf Ihren Planeten leben?“
„Durch die Vernunft.“
„Wer sagt das?“
„Der Mensch.“
„Dacht ich’s doch! Ist es lustig oder traurig, dies Geschöpf?“
„Eher lustig. So z.B. gibt’s in allen Ländern beim Militär ausgezeichnete Musiken.“
„Immer schöner! Ihr seid wirklich…na, ich finde keinen Ausdruck; habt Ihr denn keine Körperschaft von Leuten, die beauftragt sind, Gesetze zu machen und unter den Völkern einen anderen Zustand als den herbeizuführen?“
„Doch, wir haben in diesem lande und in allen Ländern eine Abgeordnetenkammer.“
„Womit beschäftigt sich die?“
„Die Ausgaben und die Steuern fortwährend zu erhöhen.“
„Wirklich – Ihr seid kostbar! Aber was sind denn jene Bauten, deren es in Paris so viele gibt, mit hohen Glockentürmen dran?“
„Das sind Kirchen. Dort wird gepredigt.“
„Was predigt man?“
„Liebet euch untereinander.“
„Sehr gut. Mir schien, als ich die Halbinsel im Süden durchquerte, daß zahllose Glocken erklangen.“
„Ja. Das ist Spanien. Eben wird das Osterfest  begangen und vermutlich wurden dort dem Gott der Heerscharen Tedeums gesungen.“
„So sind denn alle einig?“
„Ja, in allen Ländern ist der „liebe“ Gott derselbe, wie der Schlachtengott. Alljährlich in Berlin, seit 1871, danken der Kaiser und die hohen Würdenträger dem Schöpfer, daß er das Blut der Franzosen vergossen hat; und wenn Sie unsere Geschichte kennten, wüßten Sie, daß während der ganzen Regierung Napoleons die Kathedralen Frankreichs und Italiens nicht aufhörten, unsere blutigsten Siege mit Tedeums zu feiern. Es gibt auch in allen Ländern Tausende von Klöstern, wo Gemeinschaften von nur Männern und nur Frauen leben, ohne etwas zu arbeiten, da ihnen die Arbeit unnütz erscheint.“
„Und die Geschlechter getrennt, sagten Sie?“
„Ja. Es ist eine Entbehrung; und sie auferlegen sich allerlei Abtötungen, weil sie glauben, damit unseren Herrgott zu erfreuen. So gehen zum Beispiel die Kapuziner in der größten Kälte und im schmutzigsten Straßenkot sozusagen barfuß; die Karmeliter zerquetschen sich das Fleisch mit härenen Hemden; die russischen Betbrüder geißeln sich mit Peitschen, die Drehderwische drehen sich im Kreise bis zur Betäubung usw. usw.“
„Wirklich. Ihr seid eine außergewöhnliche Rasse.“
„Sie scheinen überrascht, verehrter Nachbar?“
„Ja, einigermaßen. Ich hatte keine Ahnung von Eurer Geistesverfassung; dieselbe ist sehr merkwürdig und ich kann Sie versichern, daß ich meine Reise nicht bereue. Auf dem Mars wird oft von der Erde gesprochen (wir sind einander ja so nahe!), aber so stellen wir uns ihre Einwohner nicht vor. Euer Planet ist so schön und glänzt in so herrlichem Feuer auf unserem Abendhimmel! Wir nennen die Erde die Göttin der Schönheit und Lieben. Wir dachten, daß Ihr intelligent seid. Wenn ich meinen Landsleuten unsere Unterhaltung wiederholen werde, so werden sie mir nicht glauben.“
„Warum? Existiert denn der Krieg bei Euch nicht? Noch der Patriotismus, noch die Nationalausgaben, noch Spione, noch Politik, noch rivalisierende Religionen, noch Klöster?“
„Was denken Sie von uns!“
„Aber wenn eine Nation der anderen den Krieg erklärt?“
„Wir haben keine Nationen – wir sind eine Menschheit.“
„Habt Ihr niemals Nationen gehabt?“
„In prähistorischen Zeiten, heißt es, als wir noch nicht von der Tierheit befreit waren. Wir hatten in der Tat einstmals Regierungen, die unter dem Vorwand von Patriotismus die Völker bedrückten. Die Steuern hatten furchtbare Höhen erreicht, unter deren Last die Bürger erdrückt wurden. Die Regierungen jedes Landes machten den Einwohnern Angst, indem sie den Nachbarländern Eroberungsabsichten zuschrieben, die ihnen vollständig fernlagen. Denn niemals haben Ackerbauer, Arbeiter, Industrielle, Gelehrte, kurz die Bürger eines Landes, welchem Beruf sie auch angehörten, von Eroberungen geträumt. Einzig die Regierenden sind es, die die Leute einander bekriegen machen, indem sie Fremdenhaß predigen und den Patriotismus der Untertanen aufstacheln. Da begann man nun zu zeigen, daß jedes Land seinen Wert hat, daß überall die Bürger nur den Frieden, die Ruhe, die Freiheit des Verkehrs und des Austausches, die Vermehrung des Wohlstandes durch den Welthandel wollen und daß es ihnen nicht beifällt, irgendein Gebiet zu stehlen. Dann bestand der Patriotismus nur mehr darin, den intellektuellen, moralischen und materiellen Fortschritt des eigenen Landes zu fördern, nicht aber den Nachbar zu vernichten. Während der einstige Patriotismus der Regierungen roh war, indem er die Gewalt rühmte, schädlich, indem er die internationalen Beziehungen störte, schändlich, indem er aus dem Menschen einen Gladiator machte, der für seinen Herrn sein Blut vergoß, und unmoralisch, indem er die Sklaverei an Stelle der menschlichen Würde setzte – glänzt der neue Patriotismus über unseren Gegenden wie die Strahlen einer gleichen Sonne, die unser ganzes Gestirn befruchtet. So sind alle die nationalen Trennungen von selber verschwunden, die Grenzen haben sich verwischt, und das alles ist so alt, daß wir uns kaum noch daran erinnern. Wirklich, bei Euch ist man noch stark im Rückstand und meine Freunde werden über den Zustand Eurer vermeintlichen Zivilisation Euch auslachen.“
„Was! Lachen?“
„Jawohl. Wir, die wir Euch für ernst und vernünftig hielten!“
„Mit nützlicher Arbeit, mit dem Genuß des Lebens, mit dem Studium der Natur, deren Wunder man bestaunt. Man sucht die großen Probleme der Schöpfung zu lösen und den Schöpfer zu verstehen – man betrachtet das unendliche Universum, in dessen Mitte sich unsere Schicksale abwickeln. Wir verwenden unsere Hilfsquellen für fruchtbare Werke, die unser Wissen und unser Glück vermehren, und wir sind alle zu reich, weil wir keine zerstörenden Ausgaben ersinnen. Wir fühlen uns glücklich, ohne irgend jemand totzuschlagen, und unser einziger Ehrgeiz ist der allgemeine Fortschritt unserer Menschheit.“
In diesem Augenblick wachte ich auf. Mein Nachbar vom Mars war verschwunden und ich dachte bei mir, daß, wenn die Bewohner der Erde wissend und aufgeklärt würden, sie glücklicher und ruhiger und weiser sein könnten, als sie es je gewesen, seit Anbeginn der Welt.