(c) Pester Lloyd / Archiv
Aus dem Pester Lloyd von 1913
Georg v. Lukács
Der Dramatiker des neuen Ungarns
Jedem Menschen, der mit unbefangener Freude, also weder mit dem Vorsatz, alles wundervoll zu finden, noch mit dem Entschluß, das ganze als eine Abirrung aufzufassen, den schönen und starken Aufschwung unserer Literatur betrachtet, mußte es auffallen, daß allein das Drama von der Vertiefung und der Erinnerung, von dem Intensiv- und Dichterischwerden der neuen Bewegung so gut wie unberührt blieb. So freudig wir auch jeden ausländischen Erfolg unserer begabten Szeniker begrüßen, so müssen wir uns doch darüber klar werden, daß sie ihre Erfolge nicht den besten Instinkten des ausländischen Publikums, vielmehr dessen Sensationsgier verdanken und daß durch ihre Verbreitung wenig oder gar nichts für die Anerkennung des neuen Ungarns als Bringers neuer, kulturell bedeutsamer Werte geschehen konnte.
Wir leben in einer Zeit, in der die Bereitschaft der Massen für das echte und große Drama sehr ungünstig ist, die aber aus ihrer Feindschaft dem Drama und der Tragödie gegenüber seine Konsequenzen gegen das Theater zog (wie die Zeit nach Shakespeare), sondern das Theater als Heimstätte für unsere unedelsten Interessen und flachsten Emotionen bestehen ließ. Es ist eine Zeit, wo die echten Dramatiker von der Bühne ferngehalten werden und in vielen der literarisch fein Empfindenden das Vorurteil gegen Drama und Theater als etwas Minderwertiges, Rohes und Geistloses wieder erwacht; wo die wenigen echten Dramatiker, die immer zugleich Meister der Bühne sind, wenn ihr Theater auch ein Kleistsches, „welche da kommen soll“, ist, nur von kleinen Kreisen der Eingeweihten anerkannt werden. Wenn wir nun daran denken, was in Europa als wirklich hohe Dichtung anerkannt wird, wenn wir bedenken, wie viel wir selbst von derart Wertvollen besitzen und dann betrachten, was von unseren Werten „siegreich“ nach Europa kommt, so müssen wir uns wahrhaft als nicht allzu adäquat repräsentiert empfinden. So angenehm es ist, daß von dem allgemeinen Niedergang des Dramas und dem Aufblühen des Theaters auch unsere Schriftsteller einen Nutzen zu ziehen vermögen. So dürfen wir uns doch keinen Augenblick verhehlen, daß diese Tatsache literarisch fast gleichgültig ist, und sogar für die echte Dichtung sehr gefährlich werden kann.
Es würde eine eigene kulturphilosphische Untersuchung verdienen, warum neben der tiefen und starken ungarischen Lyrik und Epik nie ein gleichwertiges Drama stand. Jetzt sollen wir uns nur darüber freuen, daß unter uns endlich ein Tragiker entstanden ist, der an Wucht und Gewalt der Empfindung, an formeller Tiefe und Vollendung in der Gestaltung, gleichwertig neben dem Größten unserer heutigen Literatur, neben Ady, bestehen kann, dem als Sucher und Finder der für uns wiedererwachten ewigen dramatischen Form die Bedeutung eines Paul Ernst oder Paul Elaudel zukommt.
Béla Balázs ist wie jeder echte tragische Dichter (im Gegensatz zum bloßen Szeniker) Lyriker und Philosoph, Mystiker und Menschgestalter, Visionär und Realist. Die Tragödie ist also für ihn nicht ein merkwürdiges und auffallendes Geschehen, das mit geschickten Mitteln für die Bühne zurechtgemacht wird, sondern ein Urfaktum: d a s Leben. Ein Lebensmoment, in dem der Sinn des Lebens zur sinnfälligen Realität geworden ist. Dieser zum Sein erwachte Sinn ist in der gewöhnlichen Wirklichkeit, die sich den gewöhnlichen Menschen als Erlebnis darbietet, immer verborgen und bis zur absoluten Unkenntlichkeit von den kleinlichen „Realitäten“ verdeckt.
Darum muß der Tragiker ein Visionär sein, um die Tragödie als die zum platonischen Urbild kristallisierte und konkret gewordene Essenz aus dieser Verschüttung auszugraben und ins Leben zurückrufen zu können. Darum muß er aber zugleich Realität sein, um nicht einen sehnsuchtsvollen, lyrischen Abstand zu diesem Sinne des Lebens zu haben, sondern ihn mit derselben Selbstverständlichkeit und naturalistischer Gesinnung (freilich: mit einem Naturalismus des Visionären) zu gestalten, mit dem ein klarer und sinnlich stark stehender Novellist etwa die gewöhnlichen Geschehnisse des Lebens abbildet. Darum bedeutet für diesen Tragiker seine Mystik keine Abwendung vom Leben und seiner Formenwelt: das mystische Erlebnis ist für ihn diese Enthüllung des Weltsinnes und die reine „Gegenwart“, die dieses Erlebnis hat, läßt nicht (wie bei dem religiösen Mystiker) alle Formen der zeitlichen Wirklichkeit in ihr nichts zerfallen, sondern das Wesentliche an ihnen ewig werden. Sein und Sinn, Wesenhaftigkeit und Leben, Gegenwart und Ewigkeit sind für diese Mystik identisch. Darum ist aber dieser Dichter – eben weil er Philosoph und Lyriker ist – Tragiker, und als solcher Dichter der Szene: nur für die gewöhnliche, sinnlos ablaufende Wirklichkeit sind das Innerliche und das Aeußerliche voneinander getrennt; nur hier steht der „abstrakte“ Begriff im Gegensatz zum Blühen des Lebens und die lyrische „Seele“ zu den Taten, Handlungen und Gebärden der äußeren Welt.
Hier ist diese Einheit, die einzig mögliche formelle Voraussetzung für ein Drama, für die szenische Dichtung, für die sinnlich wirksam gewordene Entschleierung des Sinnes, erreicht: indem die Menschen, die dieser Dichter gestaltet, s i n d, sind sie tragisch, indem sie aus ihren einfachen Bedürfnissen heraus handeln, entsteht die alles enthüllende und alle Kreatürliche vernichtende Tragödie; jede ihrer spontanen Gesten ist zugleich spontane Lebensäußerung eines bestimmten, konkreten Individuums und das symbolische Ornament einer alle menschlichen Schicksale zusammenfassenden Schicksalsituation.
Es gibt wohl heute wenige Dichter, deren künstlerische Darstellungsformen so tief und so einfach aus ihren menschlich-unmittelbaren Erlebnisformen herausgewachsen wären, wie die von Béla Balázs. Darum war seine Entwicklung so schwer und gehemmt: er ist naiv in des Wortes eigenster Bedeutung, er spricht nur sich aus und hat weder Neigung noch Talent, irgendetwas durch Geschicklichkeit zu verschleiern. Weil aber seine großartige künstlerische Begabung apriorisch die Richtung auf die ewigen Formen nimmt, diese nicht als etwas historisch Distanziertes zu erwerben sucht, sondern sie als die einfachsten Ausdrucksmöglichkeiten seiner Innerlichkeit in sich vorfindet, ist der Weg zur Vollendung für ihn unendlich schwierig gewesen. Seine „naturalistische“ Gesinnung widerstrebte diesem ihm geradeso eigenen Willen zur formellen Gebundenheit, und seine künstlerische Reife konnte nur kommen, als für ihn dieser Widerstreit endgültig gehoben war. Dies hat sich in diesen Mysterienspielen (am stärksten und siegreichsten im letzten der drei) vollendet.
In diesem kleinen Drama ist die heute mögliche Tragik so klar und so gestaltet zutage getreten, wie nur in der „Brünhild“ von Paul Ernst. Die Gesinnung, daß weder „Schuld“ noch „Verwicklung“, und wie die anderen Begriffe der Oberfläche heißen mögen, die Tragödie ausmachen, sondern das einfache Leben selbst: der tragische Held ist der als Mensch vollendete Mensch, der, welcher das Leben ohne Abbiegung und Kompromiß haben will, für den Fülle, Tiefe und Echtheit, nicht aber Breite, Buntheit und Dauer das Leben ausmachen, für den seine Persönlichkeit eine Aufgabe ist, ein Weg, den er zu Ende zu gehen hat. Und am Ende eines jedes Weges, der wirklich zu Ende gegangen wurde, steht die Tragödie als glorreiche Krönung, als Aufhebung des tiefsten Lebensleides, als Erlösung der Seele aus der Verworrenheit: die Eindeutigkeit, die Echtheit, die wahre Realität. Damit hat die Tragödie jene transzendente Pathetik verloren: das Schicksal ist die Lebensform des innerlich echten Menschen geworden, und sein Zutagetreten in äußeren Ereignissen (Handlungen usw.) ist zwar nur ein Symbol der inneren Entschiedenheit des tragischen Menschen, hat aber eben deshalb die bunte und bewegliche Fülle der alten großen tragischen Handlungen. Die Handlung geht in jedem Augenblick auf Leben und Tod, jedes Wort ist eine Entscheidung und jede Gebärde ein Urteil.
Man beklagt sich oft, daß unter Leben nicht mehr die – szenisch notwendige – Farbigkeit und Ornamentalität früherer Zeiten besitzt. Man vergißt dabei nur, daß die Bedeutsamkeit, aus der die ornamentale Wucht der alten Tragödie entstand, eine einfache Folge dieser Entschiedenheit, dieser seelischen Heldenhaftigkeit ihrer handelnden Menschen war. Wenn die Handlungen moderner Dramen uninteressant sind, so kommt das daher, weil ihre Dichter keine echten, tiefen, in sich entschiedenen Menschen, sondern bloß Kopien der Alltagskreaturen zu schaffen vermögen. Alles, was auf Leben und Tod geht, ist interessant, auch im rein theatralischen Sinne des Wortes, ja nur dies kann die wahrhafte und wesenvolle Spannung des Theatralisch-Dramatischen haben. Wenn Béla Balázs in seiner jetzt erreichten Reife eine Tragödie schreibt, die in unseren Tagen spielt, so wird sie, ohne jeden bühnentechnischen Handgriff, aus sich heraus interessant und spannend sein, wie auch in seiner reissten Novelle ein alltäglicher „Lebensausschnitt“ zu einem blühenden Märchen voll tiefer und zarter Hintergründe erwachsen ist.
Es wäre eine unendlich interessante und lohnende Aufgabe, diese Dramen einzeln zu analysieren, und besonders auf die derzeitige Meisterschaft Béla Balázs’, auf sein unbeirrbares Tempogefühl, auf die schlagende Kraft seines Dialogs, auf die farbige Bedeutsamkeit seiner Handlungen, auf die sinnliche Fülle seiner Gestalten ausführlich hinzuweisen. Nur verbietet uns leider Zeit und Raum eine solche Analyse, die von letzten Formenproblemen herabsteigend ihre Erfüllung im Detail nachweisen sollte. Wir wollten nur auf das nachdrücklichste auf diese höchst bedeutsame Erscheinung aufmerksam machen und an unsere Theater die bescheidene Anfrage richten: Ist es wirklich notwendig, daß in der Zeit einer sogenannten „dramatischen Renaissance“ d e m Dramatiker unserer Literatur ständig die Bühne versagt bleiben muß? Die Zeit gibt ja trotz allem auch am Theater den großen Dichtern recht: wo sind die Bühnenautoren, die in Laubes Burgtheater Hebbel von der Bühne verdrängt haben, dessen „unaufführbare“ Tragödien jetzt auch theatralisch wertvoll geworden sind? Viele sehen das ein: muß aber der Direktor immer schon vor Jahrzehnten gestorben sein, damit aus dieser Einsicht eine Tat wird? Das moderne Leben zwingt uns, daß wir vieles „einsehen“ lernen; solche Unsinnigkeiten können in un aber doch nur eine immer lebendige Empörung wachrufen.
|
|