Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1913

Franz Molnár

Kinematograph

Kam da einmal ein alleinstehender Herr nach Paris und nahm ein Zimmer in einer Pension. (Diese Geschichte erzählte vor langer Zeit der französische Humorist Alphonse Allais.) Es war Abend und nachdem er seine Siebensachen im Schrank untergerbracht, begann der Herr sich zu entkleiden. Plötzlich hörte er ein Gespräch im benachbarten Zimmer, das von seiner Stube bloß durch eine dünne Wand getrennt war. Eine donnernde, strenge Stimme fragte:
„Was ist das?”
Eine zitternde kleinde Kinderstimme antwortete schüchtern:
„Glas.”
Wieder sprach die donnernde strenge Stimme:
„Iß das Glas.”
Nun folgte eine peinliche Stille. Nach einer Pause von einigen Minuten sprach die entsetzliche Stimme abermals:
„Was ist das?”
Die dünne, furchtsame Kinderstimme antwortete: „Tabak.”
„Iß den Tabak!” donnerte die Männerstimme.

Zu jener Zeit waren die Pariser Zeitungen voll mit dem Falle des zu Tode gemarterten Kindes, des „enfant martyr”. Unserem Manne, der an der dünnen Wand horchte, standen die Haare zu Berge. Er empfand es als seine menschliche Pflicht, dieser Kinderquälerei ein Ende zu bereiten, und er rannte, so wie er war, halb entkleidet, hinaus auf den Korridor und stürmte die Tür des benachbarten Zimmers. Ihm bot sich ein mildes Familienbild. Auf dem Tische brannte die Lampe und dabei saß ein alter Herr und lehrte sein kleines Enkelkind lesen. Er setzte ihm die Worte aus Schokoladenbuchstaben zusammen und das Kind durfte das gelesene Wort zur Belohnung essen.

Meinem Empfinden nach enthält diese Geschichte die Psychologie all jener Empfindungen, die dem Publikum Märchen und Geschichten reproduzieren wollen. Und von diesem Standpunkt aus ist weder der horchende Herr, noch das pädagogische Vorgehen des guten Großvaters wichtig, sondern das, was zwischen den beiden stand: die dünne Wand. Diejenigen, die mit lebenden Menschen, auf die Wand projizierten Bildern oder mit in Büchern gedruckten Buchstaben Geschichten für das Publikum reproduzieren, können das Interesse des Publikums nur halten, solange sie auf irgendeine Art zwischen Publikum und Geschichte jene dünne Wand stellen können. Je unsichtbarer, je unauffälliger diese Wand ist, umso besser. Doch sie muß da sein, sonst hat die Geschichte keine Seele. Und diese Wand will jetzt der sprechende Kinematograph abtragen.

Vor langen Jahren gründete eine kleine Gesellschaft von Schriftstellern und Komponisten in Budapest ein Kabarett. In diesem Kabarett führten wir einen kurzen Einakter auf, der uns allen sehr gefiel, nur dem Publikum gefiel er nicht. Das interessante kleine Werk dauerte kaum zehn Minuten, doch das Publikum ertrug selbst diese zehn Minuten nicht: es offenbarte eine laute Langeweile. Da kam einer von uns auf eine eigenartige Idee. Er meinte: „Spielen wir doch das Stück hinter geschlossenem Vorhang.” Und wir taten es. Der Conférencier kam mit der Meldung, daß wir den Einakter des Herrn X hinter geschlossenem Vorhang spielen werden, so daß das Publikum bloß die Worte hören wird, ohne etwas zu sehen. Diese Mitteilung wurde mit gespanntem Interesse begrüßt, und seither hat das Werk jeden Abend seinen großen Erfolg. Das Publikum amüsierte sich am besten über die einfachen Szenen. Zum Beispiel, als die Klingel ertönte, dann die Stimme des Dienstmädchens, die den Besuch anmeldete. Die Frau des Hauses gab Bescheid:
„Lassen sie den Herrn eintreten.”
Pause, dann die Stimme des Gastes:
„Guten Tag!”

Rauschende Heiterkeit. Die Leute freuten sich wie Kinder, da sie aus diesen einfachen Wörtern, Pausen, aus der Männerstimme, die sich plötzlich zu den beiden Frauenstimen gesellt, sich ein, wenn auch noch so belangloses, jedoch echtes und gekanntes Stück des Lebens rekonstruieren können. Der Umstand, daß die zu den Stimmen die Bilder sich denken mussten, interessierte, belustigte sie, öffnete ihnen Perspektiven und gestaltete diese einfache, kleiner Geschichte für sie geheimnißvoll, schön, unendlich.

Das war das erste und letzte Ohren-Kino, das ich gehört. Doch es war die ganz gleiche Psychologie wie die des Augen-Kino. Irgendwo auf einer Seite verbarg sich die Fabel vor dem Publikum, auf dieser einen Seite vertraute sie sihd em Zuschauer an, gab sie ihm zu schaffen, rief ihn zu Hilfe. Und der Zuschauer hörte sie mit Freude, sprang ihr mit Freude bei, denn seit Jahrtausenden findet sich der Zuschauer nicht deshalb an derlei Orten ein, um eine solche Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, sondern um dort zugleich mit dem Verfasser die Fabel auszudenken und weiterzuspinnen.

Die Menge geht ins Theater um ein Stück zu machen, und sie ist umso befriedigter, je mehr Arbeit ihr das Theater in dieser Beziehung anvertraut hat. Deshalb ist die Menge in den Kinematograph verliebt, wo die Abschaffung des Theaters ganz ihr überlassen ist, und deshalb glaube ich, daß sie nur so lange in das Kino verliebt sein wird, als man ihr diese spielerische Laune nicht dadurch verdirbt, daß man den Film auch den Text sprachen läßt, an Stelle der Musik, die im Kinotheater nichts anderes ist als eine ziervolle Stille, eine dekorative Hülle der winzigen Texte, ein geistreiches Unmöglichmachen des Textes überhaupt, denn sie wiegt mich in dem Glauben ein, daß ich wegen der Musik das Sprechen der auf der Leinwand sich bewegenden Gestalten nicht höre.

Die Musik ist es, die diese notwendige Stummheit wahrscheinlich macht, die Musik ist diese geschickte Draperie, mit der die eingangs erwähnten symbolischen Wand vor dem Zuschauer verdeckt ist. Die Vervollkommnunung des Kino wäre gleichbedeutend mit dem Verderben des Kino. Das Kino lebt von der Unvollkommenheit. Der Erfolg des Kino ist eine dse schönsten Zufälligkeiten, denn der Erfolg des Kino wurde dadurch verursacht, daß die Erfinder bei der fortwährenden Vervollkommnung ihres Werkes zu einem solchen Grade der Unvollkommenheit gelangt sind, der zufällig mit einem der ältesten Spieltriebe der Menschhei zusammenfiel, sie gelante bis zu jenen Mängeln, die der Menge aufregende Kurweil bieten. Wenn man diese Mängel beseitigt, wenn man das Kino ganz vervollkommnet, dann ist es vorbei mit der unter Musikbegleitung webenden Träumereien vor den stummen Bildern und es setzt die wohlgefeite Reproduktion des Theaters ein.

Dann wird das Kino dahin gelangen, wo heute das Grammophon ist: Es wird der Menge keine neue Unterhaltung sein, sondern die billige und überall zugängliche Reproduktion von etwas, dessen Original viel schöner ist. Die mechanische Reproduktion einer grossen Opernvorstellung wird bei aller Vollkommenheit immer so traurig und selbstanklägerisch sein, wie etwas heute der Fünffarbenabdruck einer Rembrandtbildes. Sie wird das ewige und unverwischbare Odium der Reproduktion an sich tragen und stets allem und jedem untergeordnet sein, das aus erster Hand stammt, sie wird das so sehr menschliche Gefühl aus dem Zuschauer auslösen: Um wie viel schöner mochte das Ursprüngliche sein!

Aber solange das Kino diesen unmöglichen Wettbewerb nicht aufnehmen will, so lange es von seiner anmutigen Unvollkommenheit lebt, so lange es bleibt, was es ist: ein für Erwachsene gefertigte Bilderbuch, das man von der Wand herablesen muß, wird es frisch, interessant und entwicklungsfähig bleiben. So wie aus den Romanen allmächtig die Illustrationen, mit denen die Einbildungskraft des Lesers unterstüzen wollte, verschwunden sind, weil man eben die Erfahrung machen musste, daß die Illustration die Phantasie nicht unterstützt, sondern hemmt, ebenso wird auch die gefundene Entwicklung des Kino jedwede die Bilder illustrierenden Text hinwegfegen.

Um auf das vorhin erwähnte Stück zurück zu kommen, das wir hinter dem herabgelassenen Vorhang gespielt haben: wie trefflich sind plötzlich unsere mittelmäßigsten Schauspieler geworden! Sie waren so gut wie jene lieben und geschickten amerikanischen Schauspieler auf dem Film, von denen wir aber wissen, daß die meisten von ihnen auf der Bühne unerträglich naturwidrig spielen. Der Schauspieler bessert sich unermeßlich, wenn man ihn entweder nicht sieht oder nicht hört. Die vollständige und intensive Anwesenheit des Schauspielers ist nur dann genußreich, wenn der Schauspieler ein großes Talent ist. In alten Zeiten nannte man das: Illusion erwecken. Illusion erweckt nur eine große, große schauspielerische Begabung. Nur einer solchen glaube ich.

Welche Erlösung ist das Kino für die mittlemäßigen Schauspieler! Sie können des Wesens der Schauspielkunst: des Berherrschens der menschlichen Rede entraten. Was in ihrem Beruf bislang von drittrangiger Bedeutung war: die Bewegung, das rückt mit einem Male zu eienr Forderung ersten Ranges vor. Und wie ich das Kino nicht für ein Theater halte, ist mir auch der Kinoschauspieler kein Schauspieler. Der Kinoschauspieler lebt ebenso von seiner Unzulänglichkeit wie das Kino selbst.

Es müsste eine große Überrraschung kommen, um mich von der Überzeugung abzubringen, die umso stärker in mir lebt, je mehr Kinovorstellungen ich sehe, daß nämlich auf dem Kinematographen nur derjenige am Besten spielt, der nicht einmal weiß, daß man ihn aufnimmt. Im Zuschauerraum des Kino ist dem Publikum sogar ein Teil der Aufgabe des Schauspielers überlassen. Ist es ein Wunder, daß die Massen das Kino so liebgewonnen haben, da es von ihnen so vielerlei verlangt, sie so sehr zur mitarbeit aufruft, ihr Aufmerksamkeit und Phantasie so sehr fesselt? Es ist der größte taktische Fehler des Kinematographen, den Schultern des Publikums eine Arbeit abnehmen zu wollen, die es so gern leistet, daß es selbst dafür noch zahlt.