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Aus dem Pester Lloyd von 1915

Hans Liebstoeckl

Der Komponist unserer Zeit

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Herr Richard Strauß ist der Komponist unserer Zeit. Kein anderer versteht sie so gut, und keinem anderen flüsterte sie so deutlich ihre Geheimnisse zu. Von ihr hat er die Kunst seines Schaffens, von ihr die Vorliebe für das Außerordentliche, von außen her Zwingende, von ihr endlich die unbegrenzte technische Fertigkeit und die verblüffende Geschäftigkeit im Artistischen. Alles kann er, überall ist er zu Hause; ihn schreckt kein Stil, ihn verwirrt kein Problem.

Auf dem Theater haben wir ihn in der „Feuersnot” das alte München in Musik setzen gehört. Später, in „Salome”, war er bei den alten Juden zu Gast, in „Elektra” bei den alten Griechen, im „Rosenkavalier” bei den Wienern zu Maria Theresias Zeiten. Über kurz oder lang wird er im alten Indien auftauchen. Der Sinfoniker Strauß, der „Tod und Verklärung” in berückend süße Klänge verwandelt hatte, sprang mit dem „Till Eulenspiegel” übers mittelalterliche Marktseil, begleitete den Ritter von der „traurigen Gestalt” bei seinen Abenteuern, sang das Lied eines Helden und seiner Frau Gemahlin, belauschte beide in der „Domestica” bei ihren häuslichen Leiden und Freuden, und taucht nun plötzlich in der „Alpensinfonie” als Bergsteiger auf, den kein Sturm hindert, kein Gewitter abhält, als Naturfreund also, mit starkem sportlichen Einschlag. Ziehen wir den Hut: es ist eine erstaunliche Gewandheit in ihm! Eine Aktualität ohnegleichen, und ich bin sicher, daß er auch zu des Weltkriegs Ehren noch voll ins volle Orchester greifen wird. Die fünfzigtägige Schlacht - warum haben wir noch keine Sinfonie darüber? Und keine Orchestersuite über das Notbuch? Und warum keine Kantate: „Also sprach Hindenburg”?

Überall sieht man Richard Strauß von irgend etwas ausgehen; überall findet er ein Reck, daran er seine schaffende Seele emporturnt; ein Zeitalter, das er kennt, eine Sensation, die er in Musik verwandelt. Seine Alpensinfonie hat noch den wildesten Anlaß; eine Bergpartie zwischen zwei Nächten, darin der Alpinist das ganze ruhige und wilder Repertoire der Natur aufführen läßt. Auch an besonderen Gefahren fehlt es nicht. Der Hörer wird angeseilt, ein schwieriger Kamin ist zu nehmen, und jeden Augenblick kann ein falscher Griff oder Tritt die Katastrophe herbeiführen. (Obacht! Obacht! ruft das Orchester dem Tollkühnen zu.) Im Grunde ist es eine gleichgültige Angelegenheit: muß man bergsteigen? Gefährliche Klettertouren machen, bei Neuschnee und Nebel obendrein?

Immerhin: Herr Strauß findet die Natur überwältigend schön. Die Nacht, der Morgen, das Gewitter, der Bach, der Wasserfall, die Windstille vor dem Sturm - einfach entzückend! Die Sonne geht auf, hören Sie, bitte, zu, wie sie durchs volle Orchester strahlt! Aber Herr Strauß, so schwelgerisch er die Empfindungen schildert, die in ihm erwachen, verwendet seine kühnst eKunst doch hauptsächlich zur Nachahmung der Natur. Seine Bemühungen sind erfolgreich; wer da weiß, was er will, der findet alles das täuschend gut, aber lesen m u ß man darüber vorher, ansonsten könnte es sich, im Augenblick der Gefahr zum Beispiel, ganz gut auch um eine Stunde beim Zahnarzt handeln.

Es ist also Musik, die Erklärungen nötig hat, die nicht für sich allein bestehen kann, die aus einer bildenden Absicht hervorgegangen ist. Andächtige Musik in den lyrischen Augenblicken, die doch aber nicht eigentlich ans Herz greift, sondern die vorüberweht, wie heißer Atem. Das Zwingende fehlt. Herr Strauß kniet nieder und betet, aber er hat eigentlich um nichts mehr zu bitten. Es ist doch alles da: Tantiemen, Erfolg, Berühmtheit auf allen Linien. Not und Bedürfnis und Sehnsucht singen ganz anders: ich kann mir nicht helfen, Straußens Wärme ist unglaubhaft, die „Alpensinfonie” ein ziemlich kaltes Vergnügen.

Aber gerade darob ist Richard Strauß der Komponist unserer Zeit. Das letzte Große, das die Musik hervorgebracht hat, wird doch auf lange hinaus der „Tristan” sein. Hier war die Bedrängnis einer hinreißenden Liebe, die Not eines Herzens, die Verzweiflung einer unbefriedigten und ewig sehnsüchtigen Seele. Neptunmusik im Aufstieg, höher als die Zeit, die sie gebar. Zu derlei letzten Offenbarungen fehlt unserem Geschlecht vielleicht der Schwung. Sie erhebt sich aus der Verstrickung in die Materie, zunächst zum Heroischen, zum Glänzenden, Sonnenhaften, zum Triumph der Äußerlichkeit. Der Lärm des Orchester wird sich steigern, die Regie der schaffenden Talente wachsen, aber der Absteig ins Innere auf sich warten lassen. Ich glaube Herrn Strauß jede königliche, jede löwenhafte Geste, ich glaube ihm aufs Wort die Kunst seiner musikalischen Strategie, seiner Eroberungskraft, seine Souveränität über jeglichen Widerstand, aber ich sitze ganz kalt, wenn er will, daß man an seine Ergriffenheit glaube. Wie doch, denke ich, ist er, der noch gar kein alter Mann ist, grau geworden und so gleichgültig beim Dirigieren, so unpersönlich, so unästhetisch? Wird man überhaupt, es sei denn durch Sorge, grau, wenn die Antriebe zum Leben immer frisch bleiben und sich erneuern, wenn das Herz sich eine Sehnsucht und die Sehnsucht sich eine Welt schaffen kann, darin sie lebt? Immerhin: im Grauwerden offenbart sich vielleicht nur eine Krankheit der Haare.

Aber müde muß man doch nicht sein, wenn man noch so grau wäre! Ich erinnere mich der wenigen Augenblicke, da Richard Strauß nichts anhatte, gleichsam als seine unsterbliche Seele. In der „Elektra”, da Orest eintritt, im „Rosenkavalier”, da die Marschallin zum ersten Male fühlt, daß die Liebe stirbt und die Zeit an uns hörbar vorüberrauscht. Hier stockte der Atem, hier war man sicher, daß etwas Höheres in Tönen vorüberzog. In vielen der Leider war es die Stimmung, die aufging, bei aller Trivialität der Melodie, die Strauß immer überfällt, so oft er ans Außergewöhnliche schreitet. In der „Alpensinfonie” mißlingt ihm gleichsam der Versuch, ein völlig anderer zu sein, etwa wie Goethe durch die italienische Reise ein anderer geworden ist. Der Wasserfall stäubt übers Orchester, der Blitz schlägt ein, und die Stille der Nacht greift dunkel um sich, aber alle Illusionen sind hin, sobald ich beginne, die wirkliche, erhabene, unnachahmliche Natur auch nur in der Erinnerung dahinter zu suchen: ein wirkliches Gewitter in den Bergen, einen wirklichen Wasserfall, eine echte sternenklare Nacht. Dann ist der Zauber der Musik überholt.

Ein altes, überlebtes Problem meldet sich: der Versuch, Natur „nachzuahmen”, der immer, im besten Falle, parallel mit ihr läuft, aber niemals zu einer völligen Wesensvereinigung führt. Die „Alpensinfonie” ist eine halbe Tat; ein Künstler hat sie gesetzt, der für sein Leben gern Dilettant sein möchte. Wir beugen uns, immerhin, vor seiner Meisterschaft in der Beherrschung der Mittel; bewundern seine Sicherheit der Farbe und seine Vertrautheit mit jeder Art der Mischung. Aber kommt es in letzter Reihe überhaupt darauf an, Farben aufzutragen und neue Klanghochzeiten zu feiern? In unserer Zeit vielleicht, und es sind die Mängel dieser Zeit, die ich tadle, nicht die Allüren, die ihr großer Sohn angenommen hat. Woher bezieht er sie? Die Lebensbeschreibung des Meisters Richard Strauß ist eine glatte und von großen Emotionen so ziemlich freie Sache. Er ist immer wer gewesen, ohne es gerade geworden zu sein. Ein Troß von unbedenklichen Lobsängern hat seine Wege begleitet, alle Hoftheater haben sich ihm aufgetan, die besten Orchester der Welt ihn gespielt, die vollendetsten Sänger ihn gesungen. Kein widriges Schicksal hat ihn verfolgt, keine Verkettung von Umständen seine Entfaltung gehindert. Letzte, überzeugende, und selbstverständliche Größe kommt eben nur aus solchen Kämpfen; aus Enttäuschungen, aus begrabenen Hoffnungen, aus hundert täglichen Dingen, die da immer aufs neue weh tun. Er hat niemals sein Kreuz selbst zur Richtstätte getragen...

Ich habe durch mehr als zehn Jahre der Entwicklung unserer modernen Musik zugesehen und mitten unter den Streitern gestanden. Das war falsch und war unter allen Umständen ein Fehler, oder doch Tadel an die unrichtige Adresse, denn jede Zeit macht die Musik, die in ihr steckt und die ihr zukommt. Das Problem stand niemals so, daß wir unseren Musikern raten durften, zur Musik vergangener Zeiten zurückzukehren, zu den bescheideneren Mitteln, zu größerer Innerlichkeit. Das Problem stand auch durchaus nicht so - wie die unbedingten Anhänger aller zeitgenössischen Musikschafferei immer schrien -, auch die Musik hätte ihren fortschritt oder ihre Entwicklung. Mit diesem Fortschritt, dieser Entwicklung ist niemals der Begriff einer steil oder sanft ansteigenden Linie zu verbinden gewesen. Sondern: es handelt sich durchweg um die Windungen einer Spirale, es sind nicht neue Seiten, vielmehr nur immer wieder andere Seiten der menschlichen Wesenheit zu entwickeln.

Sondern: was in einer Zeit, einer Epoche der nachatlantischen Runde steckt, bekommt der Künstler aus erster Hand. Er fühlt, er wittert immer zuerst, wie man jetzt zu den Menschen sprechen muß, und, unbewußt, macht er sich zum Vermittler der neuen und doch ewig alten Impulse. Seine Mission ist ohne Unterlaß eine göttliche, und wo er irrt, wo er Mängel zeigt, sind es die Irrtümer, die Mängel dieser Stunde, die eben auch ihn trügt. Die Menschheit hat Jahrhunderte gebraucht, um von der Erde Besitz zu ergreifen: bald hat sie es mit den Kräften des Gemüts versucht und bald mit denen des Verstandes. Nun wird sie, unter schweren Wehen, geschüttelt vom Haß und von Leidenschaft aller Art, dabei aber unglaublich heroisch und opferfreudig, mit dem größten Geschäft der Besitzergreifung bald fertig sein, die deskriptive Seite ihres Wirkens läuft ab. Was wir exakt nennen und ein Triumph der niedrigen Erfahrung gewesen ist, das neigt seinem Ende zu: die Herrschaft der Sinne ist befestigt, die Wollust der Errungenschaften zur Neige ausgekostet. Zum letzten Male wirft die Musik einen Blick auf diesen Prozeß, der alle Wesenheiten angeht und nicht nur die Menschen allein. Sie nimmt unter Lärm und stolzen Fanfaren von irgend etwas Abschied, vom Triumph der Sinne, von der Freude, die aus aller Eroberung strahlt. Die denkbaren Variationen der Materie sind erschöpft, das Hauptthema kehrt noch einmal, und diesmal in strahlendem Glanze, wieder. Die Spirale läuft weiter, läuft den Weg zurück, den sie gekommen ist, nur nicht mehr hinunter, sondern wieder hinauf, zum Ausgangspunkt. Ich glaube, daß wir jetzt in dieser großen Übergangszeit stehen, die von der Entdeckung der Erde zur Entdeckung des Menschen führt. Alle Musik, die jetzt entsteht, ist Übergangsmusik dieser Art, Musik an der Grenze, Musik einer Ruhepause zwischen kosmischen Vorgängen, schon geschwängert mit den Keimen und Impulsen des Kommenden. Darum kann man sie nicht tadeln, sondern muß sie hinnehmen, wie etwas, was notwendigerweise geschieht. Sie zu der Vergangenheit werten hat keinen Sinn; sie als Gegenwart schätzen, ist kurzsichtig; welcher Zukunft sie vorarbeitet, das Wichtigste. Ich warte und weiß, daß das Herz seine Herrschaft wieder antreten wird, und zwar in der Musik zuerst. Wir müssen wieder lernen, etwas aus ganzem Herzen lieb zu haben, die Seele muß wieder schwingen und in sich selbst horchen.

Das wird dann die neue Musik einer neuen Zeit sein, die alte Erfahrungen mit neuen Ausdrucksmitteln und Formen vereinigt. Sie wird der Erde gehören, aber schon den aufstrebenden Menschheitsidealen zustreben. Die Straußsche Musik bedeutet nur zehn Minuten Aufenthalt. Man steigt aus und sieht sich die Gegend an, aber diese Gegend ist doch nur ein Vorspiel, und hinter den Bergen wird es viel schöner sein: ein neues Leben winkt dort und eine neue Heimat...