Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1921

Maxim Gorki

Der Streik der Kinder
- Ein Bild aus Italien -

Auf dem weiten Platz vor dem Bahnhof in Genua ist eine bunte Menge versammelt. Zumeist Arbeiter, aber immerhin sieht man auch recht viele gutgekleidete, gutgenährte Menschen, in denen der Bourgeois auf den ersten Blick zu erkennen ist. An der Spitze der Menge stehen die Vertreter der Behörden, von städtischen Beamten umgeben, die das Banner Genuas hoch in Händen halten. Die Fahnen der Stadt und die Fahnen der Arbeitervereine flattern im Frühlingswind. Hell leuchten die Farben in der Morgensonne. Ein Murren, nicht laut, eher gedämpft, jedoch nicht Unmut, sondern freudige Erwartung kündend, geht durch den weiten Raum.

Auf hohem Piedestal, die Menschen überragend, steht die Statue des genialen Christoph Kolumbus. Die Silhouette dieses Träumers steigt in die Luft, dieses Phantasten, der viel leiden musste, weil er an sich und sein Werk glaubte, der aber auch siegte, weil er sich und seinem Werk vertraute. Er betrachtet die zu seinen Füßen wimmelnden Männer, Frauen und Kinder, als wollte er künden:

- Nur jene, die da glauben, können siegen!

Rings um den Sockel des Monuments haben die Musiker ihren Platz. Ihre Instrumente glitzern im Sonnenlicht wie Gold.

Plötzlich geht eine Bewegung durch die Menschen. Die Gesichter hellen sich auf. In der Ferne wird der Pfiff der Lokomotive hörbar. Immer deutlicher hört man das Pfeifen und Rasseln der Lokomotive des heranrollenden Eisenbahnzuges. Nun werden die den Platz füllenden Gruppen immer lebhafter, erregter. Auch an den Fenstern der Häuser in der Runde erscheinen Herren und Damen, auf jedem Balkon erblickt man weißgekleidete Frauen und Kinder mit Blumen in den Händen. Ein Sonntag, ein Festtag scheint herangebrochen zu sein.

Nun ist der Eisenbahnzug in der Halle angelangt. Gleich schwarzen Vögeln fliegen die Hüte und Kappen der Männer auf dem Platz in die Höhe. Die Musik beginnt nationale Weisen zu spielen. Eine Anzahl alter Männer, die offenbar Ordner sind, schafft Raum, damit die Ankommenden ihren Weg durch die Masse nehmen können. Ruhig und willig leisten alle den Anordnungen Folge.

- Wen erwartet man?

- Die Kinder von Parma!

In Parma ist nämlich ein Zwist zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgebrochen. Ein Streit, wie er jetzt in Italien häufig vorkommt, oft mit Erfolgen, oft mit Niederlagen der Arbeiter schließt. In Parma ist die Lage der Arbeiter verzweifelt. Sie sind seit Wochen brotlos, aber sie wollen sich nicht dem Diktat fügen. Um ihre Kinder nicht hungern zu lassen, richteten sie an ihre Kameraden in Genua die Bitte, sich der Kleinen anzunehmen. Die ganze Stadt ist bereit, den Kindern zu helfen, ihre Not zu lindern.

Und plötzlich erscheint eine sonderbare Prozession vor den Augen der Menge. Von der Bahnhofshalle ausgehend, schreiten die Kinder langsam über die Treppen und nähern sich dem für sie in der Menge vorbereiteten Weg. Welcher Anblick! Kleine, hagere Gestalten, mit traurigen Gesichtern, zerrissenen Kleidern und Schuhen, - so rücken sie an. Je fünf Kinder in einer Reihe. Sie halten sich an den Händen fest und sehen ein wenig ängstlich, ein wenig traurig auf die vielen Fremden, die sie erwarten. Doch mit einem Male stimmt die Musikkapelle den feurigen Garibaldimarsch an und diese feierlichen, stolzen, freiheitlichen, patriotischen Klänge versteht jeder Italiener. Ueber die Mienen der Kinder zieht ein schüchternes Lächeln und erhellt allgemach diese anfangs düster und traurig blickenden Gesichter.

Mit donnernden Zurufen der Freude und des Willkomms begrüßt die Menge die kleinen Gäste. Die Banner flattern ihnen entgegen, die Musik erklingt zu ihren Ehren. Die Kinder schauen erstaunt, verblüfft, überrascht um sich. Ihre Bangigkeit weicht, jedes Antlitz wird heiter und wie aus einem Munde erklingt der Ruf von hundert und hundert Kinderstimmen:

- Hoch Genua!

- Hoch die Kinder von Parma! ist die Antwort der Menge.

- Hoch Garibaldi! schreien die Kleinen, und die Großen stimmen ein. Denn jedes Herz in Italien ist für Garibaldi heute ebenso begeistert wie einst.

Aus den Fenstern, von den Balkonen fallen die Blumen in Menge auf die Kinder, die diese erhaschen und sich damit schmücken. Mittlerweile haben die Männer schon die Kinder ergriffen, emporgehoben und tragen sie mit sich fort. Jedes Kind ist versorgt. In wenigen Minuten gibt es keine hungernden Kleinen mehr. Ein rührender Anblick, diese bärtigen Männer zu sehen, wie sie die Kleinen zärtlich und vorsichtig an die Brust gedrückt forttragen, in ein neues Heim.

Man erblickt Frauen, die gleich zwei Kinder mit sich führen.
- Aber, Anita, Sie nehmen gleich zwei…
- Gewiß, aber Sie doch auch…
- Ich  habe der Nachbarin versprochen, ihr eines zu bringen…

Aus jedem Antlitz spricht Güte und Milde. Schreien und Lachen erfüllt die Luft. Die Musik wird übertönt von dem fröhlichen Lärm der Menge. Allmählich leert sich der Platz. Jedes Kind aus Parma hat ein gastfreundliches Heim, neue Pflegeeltern gefunden. Der Streik den Kinder wenigstens ist glücklich beendet.

- Man sollte es nicht für möglich halten, dass in unserer Zeit sich derartige Szenen abspielen, sagte ein feierlich aussehender Herr zu seinem Begleiter, der wie er festlich gekleidet war und ein gute Zigarre schmauchte.

- Sicherlich ist der Anblick ungewöhnlich, entgegnete der andere und setzte hinzu: Aber wenn auch ungewöhnlich, so doch einfach.

- Einfach wohl und – menschlich! bestätigte der feierliche Herr, und sie verließen mit den übrigen langsam den Platz, der, von Sonne beleuchtet und von Blumen bedeckt, bald in Ruhe und Stille sich ausbreitete.