Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1921

Julian Weisz (X.Y.Z.)

Széchenyi und die Frauen
Briefe der Komtesse A. an ihren Vater

Wien, Ende Juli 1857.

Mein teurer Vater! Ich war bei Széchenyi; ich habe ihn gesehen und gesprochen. Mein Herz ist übervoll. Meine Hand zittert. Ich weiß nicht, ob ich imstande sein werde, Dir zu schildern, was ich heute erlebte. Denn ich vermag nicht zu beurteilen, ob ich überhaupt die Gabe besitze, Gesehenes, Gehörtes, Empfundenes, das sich für alle Zeit in meine Seele einprägte, in Wort und Schrift wiederzugeben.

Doch beginnen wir mit dem Anfang. Es war nicht leicht, die Erlaubnis zum Besuch Széchenyis zu erlangen. Der Hinweis und der Beweis, daß ich seine Nichte sei, ihn seit Jahren nicht sah, ihm wichtige Familiennachrichten zu übermitteln hätte, all das machte nicht den geringsten Effekt. Die hohe Obrigkeit verhielt sich ablehnend. Die Tür zu Széchenyi blieb mir verschlossen. Glücklicherweise findet man in Wien immer ein Hintertürchen, wenn man mit dem landesüblichen Sperrgeld nicht kargt. So gelang es denn auch, einen schriftlichen Befel der Polizeidirektion zu – sagen wir – erwerben, der es mit ermöglichte, einen kurzen Besuch im Döblinger Irrenhause abzustatten.

Ein Kremserwagen wurde bestellt, und der Wiener Kutscher machte ein spitzbübisches Gesicht, als ich ihm mitteilte, wohin ich fahren wolle. Dann fragte er ironisch: „Hin und retour, oder bleiben Euer Gnaden draußen?“ Ich beruhigte ihn in landesüblicher Weise, das heißt mit einem Trinkgeld, und nun setzte sich der Wagen langsam und gemütlich in Bewegung. Bald hatten wir die Stadt hinter uns und Wiesen und Gärten grüßten von allen Seiten. Die Wiener marschierten, lustig singend, in hellen Scharen ins Grüne – es war Sonntag –, und während ich die fröhlichen Menschen betrachtete, mußte ich an den großen, edlen Patrioten denken, der einsam und verlassen, ja, fast vergessen, erst im Irrenhause ein Asyl fand, wo er sich vor seinen mächtigen Feinden zu retten vermochte. Dieser Mann, der Zeit seines Leens nichts anderes anstrebte, als einem Vaterlande zu dienen und zu helfen, der immer edel und gut, selbstlos und wahr gewesen; – auch er wurde verkannt, auch er hatte Feinde! Wozu verheimlichen, was Du ohnedies ahnst, mein gütiger Vater: mit schwerem Herzen betrat ich das Zimmer Onkel Stefans.

Er erkannte mich sofort, obgleich er mich seit neun Jahren nicht gesehen, und schloß mich in seine Arme. Als ich zu schluchzen begann, lenkte er liebevoll das Gespräch auf Dich und half mir also, meine pitoyable Stimmung zu bekämpfen.

- Wie groß Du geworden bist und wie hübsch, sagte er, führte mich zu einem Lehnstuhl, hieß mich Platz nehmen und setzte sich mir gegenüber auf einen Strohsessel. Jetzt erst konnte ich ihn genau betrachten. Sein Gesicht war voller, doch nicht mehr so frisch und rotbraun wie ehedem, sondern eher krankhaft fahl. Der Bart ungepflegt, der Schlafrock, den er trug, recht, aber schon recht bescheiden. Das ganze Zimmer weiß getüncht, ärmlich möbliert, wirkte geradezu deprimierend. Wieder drängten sich Tränen in meine Augen. Er sah mich mit herzlichen Blicken an – wie hell und klar sind seine großen Augen! – und bemerkte dann lächelnd: - Jawohl, mein Kind; sie haben mir die Wohnung nicht fürstlich eingerichtet. Immerhin ist die Gegend gesund und die Aussicht recht nett. Schade, daß sie mir Eisengitter vor die Fenster pflanzten. Anfangs kam ich mir vor wie ein wildes Tier im Käfig. Mit der Zeit gewöhnt man sich indes an alles; selbst an den Käfig und die Wärter. Freilich begreife ich nicht, warum sie mich unter Schloß und Riegel halten und von Beamten und Polizisten bewachen lassen. Habe ich doch meine Zähne längst verloren. Kann leider nicht mehr beißen.

Jetzt erst nahm ich wahr, daß ihm fast alle Zähne fehlten. Der Mund war denn auch ein wenig eingefallen und Széchenyi sah älter aus, als er eigentlich ist. Er dürfte zurzeit kaum mehr als sechzig Jahre zählen, glich jedoch einem Siebziger. Die Haltung war matt und müde, der Gang schwer und langsam, nur die Augen leuchteten in ihrem alten Glanz  und täuschten Energie und Kraf vor.

- Ich habe Glück; fuhr er nach einer Pause fort; heute erhalte ich Deinen Besuch und vor wenigen Tagen war Deák bei mir, der nach Marienbad reiste, wo er die Kur gebrauchen und ein paar Pfund Fleisch verlieren will. Ich werde in Döbling schließlich ohne Marienbader Kur mager werden... Welch kluger, edler Mensch ist dieser Deák. Ein Feind aller politischen Maulmacher. Ernst und gewissenhaft durch und durch. Wir sprachen ein, zwei Stunden miteinander, und ich hatte die Freude, feststellen zu können, daß er in die Zukunft unserer schwergeprüften Vaterlandes vertraut.

Nun wollte ich die Gelegenheit ergreifen, um politische Fragen aufzuwerfen. Kaum hatte ich einige Worte gesprochen, da murmelte er schon: - Die Wände haben Ohren; zumeist sogar Spitzelohren. Ich spreche übrigens nicht gern über Politik, und den Frauen möchte ich überhaupt empfehlen, sich recht wenig um politische Tagesfragen zu kümmern. Einst widmete ich den Ungarinnen ein Buch und bat sie um ihren Schutz. Ich nannte sie die bürgerliche Tugend und rühmte sie als Schutzengel der Nation. Wenn ich mich recht erinnere, rief ich ihnen zu: Ihr erhebt den Staub in den Himmel und macht aus Sterblichen Unsterbliche. Dank und Preis für Euch! In der Tat haben die ungarischen Frauen immer Vaterlandsliebe bekundet, und sie waren oft mehr Männer als – ihre Männer. Gern denke ich an die Zeit zurück, da die schöne Gräfin Károlyi und deren nicht minder schöne Schwester, die Gräfin Batthány, sich für die nationale Sprache, die nationale Tracht und den nationalen Tanz ereiferten und in ihrer Begeisterung die alte Fürstin Grassaltovich mitrissen, wofür sie wahrhaftig manchen Spott erdulden mußten; die brave Fürstin sogar den Namen: Amme der Opposition erhielt. Dabei hatten zahlreiche ungarische Frauen mehr Verständnis für die nationale Sache als die mesiten Männer, von denen die einen gar zu weit nach rechts, die anderen gar zu weit nach links ausgreifen wollten. Die Frauen ahnten, daß Ungarns Interessen am besten bewahrt werden, wenn wir weder den fremden Einflüssen uns willenlos überlassen noch die eigene Individualität anderen mit Gewalt einimpfen wollen. Die Frauen lehrten mich manche Wahrheit erkennen, und meiner geleibten Kreszenz verdanke ich das Verständnis für diejenigen Patrioten, die nicht ungarisch sprechen, aber ungarisch fühlen, nicht Patrioten mit der Zunge, sondern mit dem Herzen sind... Hätte man doch auf meine Warnungen gehört, manches wäre besser in der Heimat. Wie oft predigte ich – leider zumeist tauben Ohren –,daß im Friedenswerke der nationalen Umgestaltung die geringste Gewalt böse Reaktion erzeugt, und eine einzige Ungerechtigkeit sich tausendmal rächt. Nur die geistige Superiosität und die ewige Wahrheit siegen im großen Kampf der Nation und nicht die Quantität, sondern die Qualität der Kräfte bringt die Entscheidung. Hielte sich unser Volk stets innerhalb der gesetzlichen Schranken, dann würden die Leidenschaften niemals wild und töricht aufflammen, und viel Jammer bliebe uns erspart. Allerdings hört man nicht gern auf die Warner. Welche Herabsetzungen und Demütigungen mußten diejenigen erfahren, die sich vom Strom der Geistesverwirrung nicht treiben ließen, sondern der Gewalttätigkeit, Härte und Intoleranz die Stirn zu bieten wagten. Ist es ein Trost für mich, daß meine Vorhersagungen in Erfüllung gingen? Kann ich Freude darüber empfinden, wenn ich sehe, daß Leute, die sich gebärdeten, als wären sie von Staatsweisheit und Selbstlosigkeit erfüllt, bloß von Phantasie und Eigenliebe saturiert waren; daß sie, die als Propheten gelten wollten, nichts vorhersahen, ja, nicht einmal die Ereignisse vor ihren Augen klar erkannten; daß sie, die andere leiten wollten, sich selbst nicht zu beherrschen vermochten, so zwar, daß sie die Einrichtungen des Landes nicht verbesserten, sondern vollends in Verwirrung brachten, die Freiheit, die unser Ideal, unser Abgott war und sein muß, nicht sicherten, sondern preisgaben. Was wollen diese Unglückseligen, die ihre Nation und ihren König irreführten, zu ihrer Entschuldigung vorbringen? Natürlich, wie immer, ihren guten Willen, die Reinheit ihrer Absichten...

Voll Hohn und Erbitterung schloß er: Ein armseliger Trost angesichts des zugrunde gerichteten Landes. Es gibt kein größeres politisches Verbrechen als andere leiten zu wollen, wenn einem die Eigenschaften des Führers mangeln.

Széchenyi hatte sich erhoben und ging im Zimmer erregt umher. Ich stand ebenfalls auf, nahm seinen Arm und sich ihn zu beruhigen.

Verzeihe, mein Kind, sagte er, alsbald wieder lächelnd, daß ich mich in Zorn redete und überdies ganz vergaß, daß ich eigentlich krank sein müßte und vor allem nicht über Politik sprechen dürfte. Das soll ungesund sein; – für mich ebenso wie für andere. Jedenfalls ist die Politik ein fatales Metier für uns Männer. Euch Frauen kleidet sie besser, denn die Politik der Frau ist nichts anderes als edler Patriotismus. Die Frau kann – dem Himmel sei Dank – noch nicht die Ambition hegen, als Minister tätig zu sein, als Regierungschef Gnaden auszuteilen, und deshalb ist ihr politisches Wirken rein und keusch, von keinem egoistischen Gedanken getrübt, von keinem selbstischen Instinkt berührt. Es ist Idealismus, nicht Realismus, weit mehr Religion als Geschäft...

Hierauf setzte er fort: Wer, wie ich, schon in seinem siebzehnten Lebensjahr Husarenoffizier war, die Schlacht von Aspern mitkämpfte, an der Seite Schwarzenbergs dienen durfte, bei Leipzig einiges Verdienst sich erwarb, als lebenslustiger Soldat mit jener Armee, die den großen Napoleon besiegte, kurz, die große Welt sah, der hatte wahrlich manche Gelegenheit, die Weiber kennen zu lernen...

Ich lächelte, denn mir fiel ein, daß Du, lieber Vater, einmal erzähltest, eine unserer Tanten hätte dem guten Stefan nachgesagt, wenn er in den Himmel komme, werde man alle heiligen Jungfrauen in Sicherheit bringen müssen...

- Lache mich nicht aus, liebe Kleine, rief er heiter, denn nicht Eitelkeit oder Selbstgefälligkeit erfüllt mich, wenn ich an die Frauen denke, sondern Dank und Hochachtung. Wo immer ich ihnen auch begegnete, stets bewunderte ich ihre Liebe zum Vaterlande. Gewiß gab es auch Bösartige unter ihnen, Herzlose, die sich von der trüben Flut des Hasses treiben ließen, aber die meisten waren doch, wie der deutsche Dichter singt: Ein guter Engel für die gute Sache. Oft und oft dachte ich beim Anblick dieser lieblichen und gütigen Geschöpfe an die Worte der Heiligen Schrift: Siehe, ich sende meinen Engel, daß er vor Dir herziehe und Dich bewahre auf dem Wege und Dich führe an den Ort, den ich bereitet. Hab acht auf ihn und höre auf seine Stimme!

Er ergriff ein Buch, das auf dem Tische lag, und sagte: -Sie haben mir alle Zeitungen verboten und ich darf nur belletristische Werke lesen. In diesen finde ich oft Aphorismen über das schwache Geschlecht, die häufiger Widerspruch als Zustimmung in mir wecken. Hier ist ein Band Goethe und darin sind einige Zeilen angezeichnet. Darunter die folgenden: „Wir lieben an jungen Frauenzimmern ganz andere Dinge als den Verstand. Wir lieben an ihnen das Schöne, das Jugendliche, das Neckische, das Zutrauliche, den Charakter, die Fehler, die Kaprizen und Gott weiß, was alles Unaussprechliche sonst; aber wir lieben nicht ihren Verstand. Ihren Verstand achten wir, wenn er glänzend ist, und ein Mädchen kann dadurch in unseren Augen unendlich an Wert gewinnen. Auch mag der Verstand gut sein, uns zu fesseln, wenn wir bereits lieben, allein der Verstand ist nicht dasjenige, was fähig wäre, uns zu entzünden und eine Leidenschaft zu erwecken.“ Dies behauptet der große Dichter, der jedoch nicht in allen Stücken recht hat; wenigstens meiner Ansicht nach nicht. Denn ob jung oder alt, der Verstand , der tiefe, sichere Verstand einer Frau ist immer mit innigem und herzlichem Gefühl verbunden, und Geist und Seele eines weiblichen Wesens nehmen einen ernsten Mann mehr gefangen als Liebreiz und Liebäugelei. Wenn auch Goethe viel Glück bei Frauen hatte, scheint er mir dennoch nicht das weibliche Wesens ganz ergründet zu haben. Der junge Poet Jókai hingegen, dessen neue Romanze ich eben lese, schrieb manche sinnige, tiefsinnige Sentenz über die Frauen nieder, denen ich aufrichtig zustimme.

Wieder nahm er ein Buch zur Hand, blätterte darin und las dann: - „Dem Herzen einer Frau genügt nicht immer das Glück allein; es will manchmal auch unglücklich sein.“ Das ist ein schöner Gedanke und überdies eine rührende Weisheit. Auch die folgenden Fragen und Antworten fielen mir in einem neuen Werk des jugendlichen Dichters auf: „Was ist das weibliche Herz?“ Es ist ein unendliches Meer. Weißt Du, was seine Wogen bewegt? Weißt Du was die dunkelgrüne Tiefe birgt? Weißt Du was die fallenden Sterne dem Wasser zuflüstern? Weißt Du was heiß von einem Ende der Welt zum anderen strömt? Weißt Du was darin aufleuchtet in dunkler Nacht? Und wenn Du all das weißt, dann ahnst Du noch nicht, was in einem weiblichen Herzen wohnt...“

Mehr für sich, förmlich verträumt flüsterte er diese Worte und sah mich liebevoll an. - Doch wozu erzähle ich Dir all das? Du bist ein kluges, hübsches Mädchen und kennst daher die Frauen besser als jeder Mann. Immerhin denke immer an die Verse unseres Vörösmarty, die er der Ungarin widmete und die lauten:

Was nur heilig ist und schön und recht,
All das hoffen wir vom weiblichen Geschlecht.
Sieh, des Kindes Träume hangen ab von Euch,
Auch des hochbeseelten Jünglings Märchenreich
Und des Mannes Glück! Solch’ Schätze sind – erwägt –
Nimmermehr zum Gipfel in Eure Hand gelegt.

Jawohl, das Glück des Mannes, das Glück der ganzen Nation liegt in der Hand der ungarischen Frauen. Wenn sie bleiben, wie sie waren, wenn die Töchter den Müttern gleichen, dann kann dieses Volk trotz seiner Schwächen, trotz aller Schicksalsschläge niemals untergehen. Was ich einst behauptete, ich möchte es Tag für Tag wiederholen: Wir werden die wahre Vernunft, das wirkliche Verdienst und die echte Tugend feiern, wenn wir erkenenn, daß jene Mängel, die wir so oft bei anderen suchen, in uns liegen, und wenn wir beweisen, daß die Kraft zur Auferstehung in uns selbst ruht. Genug des phrasenhaften Lobes, das wir unseren Ahnen und uns spenden. Ich schaute niemals gern rückwärts, sondern lieber vorwärts. Ich pries auch nicht gern meine Nation, denn ich bin, wie jeder gute Ungar und jede gute Ungarin, so sehr mit mir verwachsen, daß alles Lob wie Selbstlob klänge. Und schließlich: bedarf das Vaterland überhaupt meiner Anerkennung? Gewiß nicht; – ich bedarf seiner...

Ein Beamter trat ein und deutete in recht unfreundlicher Weise an, daß die Besuchszeit abgelaufen sei. Széchenyi drückte mich an sein Herz und flüsterte mir zu: - Allen Lieben daheim, den tapferen und gütigen Frauen zumal, ein Lebewohl! Ihr dürft mir dagegen ein herzliches Stirbwohl! wünschen. Es naht mein Ende und ich werde es nicht zagend erwarten, sondern mit rascher Hand beschleunigen. Denn wie der poetische Feuergeist, will auch ich nicht in weichen Kissen dahinsiechen, nicht langsam verlöschen wie das Kerzenlicht...

Tränen entströmten meinen Augen. Ich küßte seine krankhaft weiße, von Leid und Weh geradezu erzählende Hand unzählige Mal und verließ dann den großen alten Mann. Daß ich ihn niemals wiedersehen werde, ahnte, fühlte, wußte ich, als ich verzweifelt in den Wagen stieg, der vor dem traurigen Hause hielt. Der alte Wiener Kutscher tröstete mich mit der ihm eigenen Philosophie: „Warum weinen denn Euer Gnaden? Man kann ja nie wissen, wo die Narren sind; ob drinnen oder draußen...“

Dann fuhren wir wieder in die Stadt zurück. Die Fluren leuchteten. Die Menschen sangen. Das Leben ging lachend weiter...