Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1928

György Káldor

Vom neuen Zeitgeist

György Káldor (Budapest 1900 - 1958) Journalist, Mitglied der kommunistischen Studentenjugend, 1919 zur Emigration gezwungen, lebte in Wien und Heidelberg. Ab 1925 arbeitete er in Wien für die "Rote Fahne", seit 1926 Mitglied der Redaktion des Pester Lloyd. 1942 wurde er in ein Strafbataillon an die russische Front verbracht und musste am Bau des Ostwalls mitarbeiten. Dort geriet er in sowjetische Gefangenschaft. Nach dem Krieg wurde er zuerst Außenpolitikchef des ungarischen Rundfunks, später Redakteur der Nachrichtenagentur MTI. 1955 fiel er erneut in Ungnade und saß in Haft, Berufsverbot. Die letzten Jahre verbrachte er als Lektor in einem Buchverlag. m.s.

György Káldor, Freiheit - halb oder ganz, 1936


Das europäische Geistesleben der Nachkriegszeit gleicht einer Hexenküche, in der die schwarze Magie einer verzweifelten Epoche mit allerlei Geheimkünsten ein dekadentes Geschlecht zu Menschen mit festen Glauben und starkem Rückgrat umzuzaubern trachtet. An der Schwelle der Geheimkammern aller Gegenwartsseelen prangt ein Wort, worin sich der triebhafte Drang nach geistiger Erneuerung offenbart. Dieses Zauberwort heißt: Utopie. Wie nach allen großen historischen Erschütterungen, in denen Welten aus ihren Fugen geraten, menschliche Gemeinschaften zerstört, feste historische Bindungen mit rauer Hand auseinandergerissen wurden, sucht auch heute der Geist nach festen Stützpunkten, nach Orientierungsmöglichkeiten, die ihm Ersatz für den Verlust der gestörten historischen Kontinuität, des geschichtlichen Bewußtseins bieten könnten. Denn ohne Krücken und ohne Stützen scheint der Geist der Waffen nicht existieren zu können. In der kalten, klaren Höhenluft des Hier und Jetzt, des Einmaligen und Einzigartigen scheint nur das Genie zu gedeihen. Die „Menschheit“, die „Gesellschaft“, die „Klasse“, oder wie all die Produkte einer organisierten Massensuggestion heißen mögen, fühlt sich nur wohl im Warmbeete der Vergangenheit oder im Phantasiebezirk der Zukunft, diesem ewig fortgesponnenen Traum von der Fortsetzung der Art, der Unsterblichkeit und der Seelenwanderung. Oft befallen selbst den Starken die Zweifel: gibt es überhaupt eine Gegenwart? Müßte man nicht die Fragestellung umkehren und behaupten: nur die Vergangenheit und die Zukunft sind wirklich und die Gegenwart nur eine Hilfskonstruktion des Geistes, die aus der Kreuzung dieser beiden unendlichen Aspekte entsteht? Ja, man könnte mit der geistvollen biologischen Metaphysik Bergsons behaupten, daß es nur eine „durée réelle“ gibt, in die sich der menschliche Geist intuitiv hineinzuversetzen vermag, mit dem Strome schwimmend, distanzlos, miterlebend; daß also sowohl Gegenwart, wie Vergangenheit und Zukunft nur verschiedene Aspekte der gleichen, unteilbaren, unfixierbaren schöpferischen Entwicklung sind, die sich vollzieh, durch welche Brille immer man sie betrachtet.

Es ist hier nicht der Ort, diese Frage zu entscheiden, die sicherlich zu den interessantesten und anregendsten Problemen der Geschichtsphilosophie und der Individualpsychologie gehört. Aber die Anwendung der Kategorien des historischen und des utopischen Bewußtseins gegenüber einem Gegenwartsbewußtsein dürfte für die geisteswissenschaftliche Forschung auch dann produktiv sein, wenn wir die Frage nach dem Realitätswert dieser Kategorien vorerst unentschieden lassen. Man kann in der geschichtlichen Entwicklung unserer Kontinents deutlich große Perioden des Vorherrschens des historischen und des utopischen Bewußtseins konstatieren, und es gehört zu den bezeichnendsten Merkmalen einer Periode der Geschichte und der Kultur, welche der beiden Geistestypen vorherrschend war. Nach der Französischen Utopie etwa sprossen die Utopien – tiefe und originelle, ebenso wie seichte und flache – aus dem historischen Boden Europas wie Pilze nach dem Regen auf. Die verhältnismäßig ruhige Entwicklung des ausklingenden neunzehnten Jahrhunderts hingegen ließ das historische Bewußtsein, namentlich in Deutschland, in einem Maße aufblühen, daß diese Blickrichtung nach rückwärts bereits zu erstarren drohte, als der Krieg ausbrach und unser ganzes geistiges System in seinen Grundtiefen erschütterte.

Es scheint nun, daß nach dem Kriege das utopische Bewußtsein, wie nach der großen Französischen Revolution, seine Renaissance erleben würde. Wo Welten versinken, kann die Phantasie der Kunst ihre Orgien feiern. Und wahrlich, die Menschheit hat ihrer Einbildungskraft in diesen letzten zehn Jahren die Bügel schießen lassen, wie schon lange nicht vorher. Die Erlösung der Menschheit wurde zur Profession, Sekten und Parteien wetteiferten im Entwerfen neuer Lebensformen und einer neuen Gesellschaftsordnung. „Ein neues Leben begann“ – von diesem Rufe widerhallten die geistigen Zentren Europas, und das große Experiment der Meisterung der Zukunft nach der so jämmerlich gescheiterten Vogelstraußpolitik der Vergangenheit hub an.

Aber wenn man diese neuen Utopien , und namentlich die gesellschaftlich orientierten, mit den alten vergleicht, so muß ins Auge springen, daß ihnen eben jene Würze und Essenz abgeht, die die alten Visionen von einer besseren Welt, vom gelobten Lande, oder vom Reich der Freiheit so verführerisch und produktiv gestaltete: die konkrete Phantasie. Die Utopien des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts waren von romantischer oft religiöser Färbung, ein Sain-Simon, wie auch manche englische Utopisten besaßen Pathos und Schwung eines Glaubens, der sich nicht nur aus den dürftigen Säften der Vernunft nährte. Es war vielleicht die verhängnisvollste Leistung des Marxismus, im weltanschaulichen Dünkel eines schlecht verstandenen Rationalismus die Phantasie entthront, die konkrete Utopie verschmäht und das Zwitterding einer „wissenschaftlichen“ Utopie geschaffen zu haben. Die Kopulierung eines Klassenkampfgedankens mit der Idee von der historischen Sendung des Proletariats, die der Menschheit zum Sprung aus dem „Reiche der Notwendigkeit“ ins „Reich der Freiheit“ verhelfen würde, hatte etwas Advokatorisches-Theologisches, die armseligen, luftigen, utopischen Fetzen konnten nur dürftig die wahrlich nicht allzu verführerischen Reize eines dürren, rationalistischen Weltbildes verdecken.

Man hätte glauben können, die neue Generation des Marxismus würde die Lehre des Meisters eben darin weiterführen, daß sie, sich vom Ressentiment Marxens gegen die Utopisten freimachen (das ja auch nur als Reaktion gegen die großen Utopisten des französischen Sozialismus verstanden werden kann), die produktiven Kräfte der Zukunftserwartung, die neuen Erlösungsphantasien der Großstadtmassen freisetzt. Aber es kam anders. Weder der Sozialismus, noch der Kommunismus hatten den Mut zu der einzig echten und hinreißenden Utopie, die die irrenden, im Dunkel herumtappenden Massen der Nachkriegszeit hätte emporraffen können: zu der Utopie vom neuen Menschen, von der neuen Gemeinschaft, von der neuen Seele. Sie sind im Politischen und Wirtschaftlichen stecken geblieben und entwarfen einen Sozialisierungsplan nach dem anderen, einen Weltrevolutionsplan nach dem anderen, die Blicke stets auf die „Realität“ und auf die „Gegenwart“ gerichtet, aber an der Realität stets vorbeigehandelt. Die Massen sind aber der rationalistischen Phantasien müde: sie wollen Vernunft ODER Phantasie, Gegenwart ODER Zukunft, und lassen sich nicht dadurch täuschen, daß die beiden Gestalten des Geistes in gutem oder bösem Glauben vermengt werden.

In dieser Krise der sozialistischen Utopie tritt einer der bedeutendsten Utopisten unserer Zeitalters, H.G. Wells, auf den Plan, um in einem jüngst erschienenen Werke seine ethische, praktische, für die Tat und die Verwirklichung bestimmte Utopie zu entfalten. (H.G. Wells: „Die offene Verschwörung. Vorlage für eine Weltrevolution. Paul-Zsolnay-Verlag, Berlin, Wien, Leipzig, 1928.)“ „Dieses Buch“ – schreibt er in der Einleitung – „gibt so einfach und klar wie möglich die Leitgedanken meines Lebens wieder…Alle meine übrigen Werke, mit kaum einer Ausnahme, sind nichts als Vorstöße, Untersuchungen, Illustrationen und Kommentare, nichts als Ableger dieses Kernbegriffs…Hier folgt mein Glaubensbekenntnis.“ Und ferner: „Hier wird der freilich lücken- und fehlerhafte Versuch gegeben, wird erörtert, was dem Menschen und der Menschheit zu tun obliegt.“ Und schließlich: „So will ich denn Zeugnis ablegen und meinen Plan begründen. Hier, erkläre ich, ist die Wahrheit und der Weg der Erlösung.“ Nach solcher Vorrede nimmt man das Buch gespannt und mit hochgeschraubten Ansprüchen in die Hand, man erwartet etwas wahrlich Außergewöhnliches, Erschütterndes, Hinreißendes. Was folgt aber nach diesem prophetischen Pathos, diesem ethischen Werberuf von beispielloser Kühnheit? Ach, es ist besser, nicht danach zu fragen. Schon in der „Welt des William Clissold“ hat Wells den Gedanken skizziert, daß sich alle schöpferischen Männer und Frauen der Welt zur Verwirklichung des Weltstaates zusammenfinden sollten. Aber dort figurierte diese Idee nur als eine unter vielen anderen, und der Roman enthielt in einer anregenden, angenehm plaudernden Form Wells Ansichten über Liebe und Ehe, Wissenschaft und Technik, Weltstaat und Psychoanalyse, Reklame und Sozialismus. Wenn man auch hinsichtlich der Kernideen von Liebe und Ehe so manches verworren und unfertig finden konnte, so lag immerhin ein besonderer Reiz in dem Versuch, einmal sämtliche Gebiete unseres Lebens von einem bewußt utopischen Standpunkt abzutasten. Dieses neue Werk jedoch, das Wells mit einer prophetischen Geste in die Welt schleudert, greift aus allen diesen Problemen allein die Frage der Verwirklichung des Weltstaates heraus und maßt sich an, ein Leitfaden zur menschlichen Handlung zu sein.

Der sittliche Ernst, mit dem Wells diese Geste vollzieht, der religiöse Wille, den er für die Verwirklichung seiner Idee erneuert haben will, fordert dazu heraus mit dem gleichen sittlichen Ernst und der gleichen religiösen Entschlossenheit klipp und klar festzustellen: ein Leitfaden der menschlichen Handlung ist dieses Buch nicht. Eine Antwort auf die ewige, stumme Frage der Massen, auf die große Frage jeder Ethik, auf die Frage: as sollen wir tun? – erteilt diese prophetische „Vorlage für eine Weltrevolution“ nicht. Sie enthält allerlei, mehr oder weniger interessante, mehr oder weniger dilettantische, mehr oder weniger eklektische Ausführungen über die einheitliche Organisation der Welt, über eine Organisation, die die Gegensätze der bestehenden Regierungen abzuschwächen, die Vergesellschaftung des privaten, kommunalen oder staatlichen Eigentums, zumindest in den Fällen des Kredit- und Transportwesens wie auch der Waffengüterproduktion, vollziehen, biologische Fragen, wie Bevölkerungsdichte und Volksgesundheit, kontrollieren, dem Individuum ein Minimum an Freiheit und Wohlstand in der ganzen Welt gewährleisten soll, ohne sich im mindesten darum zu kümmern, ob und inwiefern bereits bestehende Versuche in dieser Richtung unternommen wurden und wieviel diese Versuche bisher erreichen konnten. Bezeichnend ist für die Utopie von Wells, daß er gegen den Sozialismus polemisiert, aber in aller Seelenruhe das sozialistische Programm übernimmt, daß er die Vorkämpfer des Völkerbundgedankens und sogar den Namen des Völkerbundes kein einziges Mal auch nur erwähnt und dabei in der naivsten Art Fragen aufrollt, die die aufrichtigsten und verantwortungsvollsten Vorkämpfer der Völkerbundidee im harten und zähen Ringen einer Lebensarbeit, aber in voller Kenntnis der Hindernisse zu verwirklichen suchten und suchen. Nein, es ist eine Verachtung der Menschheit, einen solch wässerigen, flachen und seichten Optimismus als eine neue Heilslehre, als eine neue Religion auftischen zu wollen. Wer je von der Qual des Glaubens heimgesucht war, jenes echten Glaubens, der stets die eigenen Kinder, die Mißgeburten der Skepsis, treffen muß, wird eine solche „schnelle Heldentat“ des Geistes, einen solch durchsichtigen Versuch zur Verblendung der allzu sehend gewordenen Menschheit durch einen falschen politisch-ökonomischen Rationalismus mit einem Achselzucken von sich weisen.

Wir wollen keinen verwässerten Aufguß der sozialistischen und kommunistischen Utopie in liberalem Gewande. Wir sehen uns nach einer Führung der Welt, die über konkrete Phantasie verfügt und ein konkretes Bild vom neuen Menschen und der neuen Welt besitzt. Die abstrakten, rationalistischen Schemata vom Weltstaat und der Weltrevolution, der „offenen Verschwörung“ bei Wells, oder der geheimen Konspiration der Kommunisten sind grau und langweilig, ebenso wie das Kriegsgeschrei einer erstarrten reaktionären Generation. Überall in der Welt gehen neue Menschen mit neuen Visionen trächtig: Architekten, die das neue Haus und die neue Stadt, Techniker, die neue Energiequellen, Staatsmänner, die neue Formen der Gesellschaft erträumen. Es wird gewiß auch der große Schöpfer, der große Gestalter und Bildner erstehen, der alle diese Bestrebungen in einer großartigen Synthese zusammenfaßt: in der Vision vom neuen Menschen, die trotz Technik und Wirtschaft, trotz Weltstaat und Eigentumsreform der göttliche Funke aller Utopien bleiben wird. Ob dieser Künder ein Schriftsteller oder ein Arzt, ein Politiker oder ein Geistlicher, ein Soldat oder ein Techniker sein wird, ist irrelevant. Nur daß eine ist sicher, daß er kein seichter Optimist und kein leichtfertiger Propagandist sein kann. Denn die wahre Vision der Erneuerung und Verjüngung, die wahre Utopie des kommenden Menschen wird eine religiöse sein, vielleicht ohne es zu wissen, sie wird ein Glaube sein, vielleicht ohne als solcher empfunden zu werden. Europa ist zukunftsträchtig. Es möge in der Auswahl seiner Geburtshelfer Vorsicht und Ruhe walten lassen, auf daß es keinem Scharlatan auf den Leim gehe.