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Aus dem Pester Lloyd von 1936

Thomas Mann

Der Humanismus und Europa

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Meine Damen und Herren!

11. Juni 1936

Die englische Rede, die wir soeben alle mit soviel Vergnügen und Genuß gehört haben, bedeutet für mich persönlich noch eine besondere Genugtuung insofern, als sie die Zumutung etwas mildert, die darin liegt, daß auch ich mich meiner eigenen Sprache bediene. Ich tue das nicht nur, um etwa die sprachliche Koloristik unserer Unterhaltung etwas zu bereichern, sondern es läßt sich noch ein ernsterer und tieferer Grund dafür anführen. Mir scheint, daß es unter den heutigen Umständen weder der Ironie noch auch des Pathos entbehrt, wenn ich als Deutscher und in deutscher Sprache das Bekenntnis ablege, zu dem ich das Wort ergriffen habe: das Bekenntnis zu der Überzeugung, daß das Christentum und die die mediterrane Antike die beiden Grundpfeiler der abendländischen Gesittung sind und bleiben werden; zu der Überzeugung ferner, daß ein jedes Volk, das auch nur einen dieser Grundpfeiler aufzugeben und zu verleugnen sich entschlösse (denn man verleugnet nicht einen, ohne auch den anderen zu verlieren), sich aus der geistigen und sittlichen Gemeinschaft der europäischen Völker ausschließen würde. Dieser Überzeugung also, meine Damen und Herren, gebe ich als Deutscher absichtlich in deutscher Sprache Ausdruck. Auf der Liste unserer Mitglieder steht hinter meinem Namen das Wort „Allemagne”, Deutschland. Damit ist ohne Zweifel das Deutschland gemeint, das zu dieser Wahrheit sich bekennt und an ihr festhält, und für das hier zu sprechen ich die Ehre habe.

Der Begriff des Humanismus schließt diese beiden entscheidenden und konstituierenden Erlebnisse des europäischen Menschen ein, und das bedeutet, daß man diesen Begriff nicht allzu philologisch, nicht allzusehr als eine Sache der Gelehrsamkeit und der Schulbildung nehmen sollte. Ich denke zurück in meinem Leben, an meine Kindheit, die ich in einer norddeutschen Handelsstadt verbrachte, wo man von Humanismus nicht viel wußte und verstand, und ich denke zurück an ein altes Buch, das sich in dem Bücherschrank meiner Eltern fand und von griechisch-römischer Mythologie handelte. Dies Buch war die Lieblingslektüre meiner Kinderjahre. Die deutschen Hexameter-Übersetzungen aus Homer und Vergil, die es enthielt, wußte ich seitenweise auswendig. Ich hatte die Liebschaften des Zeus und seine Kämpfe am Schnürchen, und die passionierte Beschäftigung mit den Olympiern und ihren Schützlingen auf Erden ersetzte mir alle Indianergeschichten, die von derber veranlagten Altersgenossen bevorzugt wurden. Ich wußte nicht, daß es Humanismus war, was ich da trieb und was mich entzückte, aber ohne Zweifel drückte sich eine Tendenz meines Wesens, eine Neigung darin aus, die in meinem späteren Leben, in meinem Schriftstellertum manifeste Gestalt gewonnen hat. Nicht etwa, daß ich in einem engeren und gelehrten Sinn zum Humanisten geworden wäre: auf der Schulde, die ich besuchte, wurde zwar Lateinisch, nicht aber Griechisch getrieben. Aber mir scheint, das will nicht viel besagen. Schiller konnte nicht Griechisch und hat doch in seinen Gedichten den ganzen Zauber der griechischen Welt mit lebendigster Intuition und Intimität heraufgerufen. Friedrich der Große las die alten Schriftsteller in französischer Übersetzung, weil das Französische nun einmal die Sprache war, in der sein geistiges Leben sich abspielte. Noch einmal: Humanismus ist nicht bloße Philologie. Gerade heute ist es ratsam, ja notwendig, ihn anders zu definieren. Am besten und einfachsten faßt man ihn vielleicht als Gegensatz des Fanatismus. Denn gerade als solches ist er nichts Schulmäßiges und hat unmittelbar nichts mit Gelehrtheit zu tun. Humanismus ist vielmehr eine Gesinnung, eine geistige Verfassung, eine menschliche Stimmung, der es um Gerechtigkeit, Freiheit, um Wissen und Duldsamkeit, um Milde und Heiterkeit, zu tun ist; auch um den Zweifel, - nicht um seiner selbst willen, sondern um den Zweifel als ein Werben um die Wahrheit, eine liebende Bemühung um sie, die höher steht als aller Wahrheitsbesitzerdünkel. Eine solche Anlage und Stimmung führt den Namen „Humanismus” darum mit Recht, weil sie die geistige Gesinnung par excellence ist, die Gesinnung des Geistes und von dem Stolz auf den Menschengeist getragen, auf das, was den Menschen vor der übrigen Schöpfung auszeichnet, was ihm viele Leiden, aber auch höchste Freuden bereitet, Leiden und Freuden, die große, liebenswerte Bekenner gefunden haben, die bereit waren, für die Ehre des Menschengeistes heroisch einzustehen und bis in den Tod dafür zu zeugen.

Vielleicht wäre es zu wünschen, meine Damen und Herren, daß heute in der Welt sich mehr von dieser heroischen Bereitschaft kundtäte, als tatsächlich davon noch vorhanden zu sein scheint. Was heute nottäte, wäre ein militanter Humanismus, von der Einsicht erfüllt, daß das Prinzip der Freiheit, der Duldsamkeit und des Zweifels sich nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und ohne Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf; von der Einsicht, daß er das Recht nicht nur, sondern auch die Pflicht hat, sich zu wehren. Europa ist ein mit der humanistischen Idee eng und untrennbar verbundener Begriff. Europa wird nur sein, wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit nicht zum Freibrief ihrer Todfeinde und ihrer Mörder werden darf.

Das war es in Kürze, was zu sagen mir am Herzen lag und was in dieser Stunde und in diesem Kreise zu sagen mir wichtig schien. Indem wir von Humanismus sprechen, sprechen wir von den Grundlagen und geistigen Lebensbedingungen Europas, und darum schien es mir notwendig, von der Verbindung zu sprechen, die die natürliche Güte allen Humanismus mit männlicher Entschlossenheit eingehen muß, damit Europa bestehe.