Aus dem Archiv des Pester Lloyd

zurück zur Startseite

 

 

 

(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 2005

Iván Boldizsár

Geflügelte Variationen

Vorbemerkungen unseres ehemaligen Mitarbeiters und Übersetzers dieses Feuilletons, Thomas Edmund Konrad, aus London: Iván Boldizsár (1912-1988) war, ab 1938, einige Jahre lang Mitarbeiter des Pester Lloyd. Ich habe ihn damals gut gekannt, war sogar öfters bei ihm, einer Einladung von ihm und seiner französischen Frau Josette folgend. In den 30er Jahren hatte er an der Berliner Universität Medizin studiert. Nach seiner Rückkehr nach Ungarn befasste er sich mit der Studie des ungarischen Dorflebens und ist schließlich Journalist geworden. Nach dem Krieg war er Chefredakteur einiger Zeitungen, darunter „Magyar Nemzet“, „Új Magyarország“, „Szabad Szó“, und „New Hungarian Quarterly“. 1947 wurde er Staatssekretär im Außenministerium. Ab 1970 war er Präsident des ungarischen PEN (Verband der Schriftsteller) und ab 1984 der internationale Präsident dieser Prestige-Organisation. Ein Posten, den er bis zu einem Lebensende bekleidete. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter die Sammlung von Geschichten und Reiseerlebnissen „A Filozófus Oroszlán“ (Der philosophische Löwe), 1971 beim Verlag Szépirodalmi Könyvkiadó erschienen, aus dem die nachfolgende Erzählung von 1964 stammt.

Aufregung

Es gibt zweierlei Menschen: die einen sind vor einem Flug aufgeregt, die anderen leugnen das ab. Das klingt zwar so ganz geistreich, ist aber nicht wahr. Oder, genauer gesagt, es ist nicht mehr wahr. Früher, als das Fliegen noch ein Abenteuer, ein Sport, ein Unternehmen, eine Sensation bedeutete, waren wir entweder aufgeregt oder wir haben unsere Aufregung abgeleugnet. Seitdem aber das Flugzeug zu einem einfachen Verkehrsmittel abgestuft (oder eher promoviert) wurde, müssen wir uns folgendes klarmachen: es gibt zweierlei Menschen, die einen sind vor dem Flug aufgeregt, die anderen sind schon einmal geflogen.

Vor seinem ersten Flug hat jeder so ein unsicheres, prickelndes Gefühl in der Magengegend. Nicht viel schlimmer, als vor einer anderen Auslandsreise. „Wie werde ich mit allem fertig?... Es soll nur nichts im letzten Moment dazwischen kommen… Das Hotel soll anständig sein; mein Gesprächspartner soll mich erwarten oder die Firma, deren Einladung ich folgte, oder der Verwandte, der mich eingeladen hatte… Auch schönes Wetter soll es geben… Dann sollen wir alles anschauen können, was ich mir vorgemerkt habe und alles einkaufen, womit mich andere beauftragt haben.“ Das sind diese so genannten prickelnden Gefühle vor einer Reise. Hinzufügen kann man noch einiges, was sich „nur“ auf einen ersten Flug bezieht. Meine Frau (oder mein Mann) soll mich nicht aufregen; auch meine Mutter und meine Kinder nicht. Ich nämlich, bin ohne alle Aufregung. Es kommen noch einige schwere Minuten. Am Vörösmarty tér, vor dem Malév Büro oder am Flughafen in Ferihegy muss man versprechen, sofort nach Ankunft zu telefonieren. Es wird einem angeordnet, alles zu essen, was auf dem Flug serviert wird, „…das ist doch sicher im Preis inbegriffen…“ Und bei vollem Magen soll es einem leichter ergehen, wenn man sich… Jetzt muss man streng auf seinen Ratgeber schauen und verschweigen, dass man schon mit der geeigneten Tablette versorgt ist, die man eine halbe Stunde vor Abflug schlucken soll. „Noch einen Schwarzen?“ Danke, nein. Es kommt mir ja jetzt so vor, als hätte sich mein Magen versiegelt. Was für ein Unsinn: ich werde mich doch nicht etwa aufregen? Wir sind immerhin in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts! Nur gut, dass das Kind in der Schule ist, es würde mich schön auslachen. Die sind doch voriges Jahr mit der ganzen Klasse auf einem Spazierflug gewesen und keinem ist es eingefallen, dass daran etwas besonders oder unüblich ist. Es ist ja auch nichts dabei. Doch freut man sich, wenn es endlich zum Einsteigen kommt; jetzt sind uns schon die meisten Bekannten auf die Nerven gegangen.

Ein erhebender Augenblick: ich betrete zum ersten Mal das Innere eines Flugzeugs. Die Stewardess ist sehr hübsch. „Danke nein, meinen Überzieher hänge ich selber auf.“ (Was glauben die denn: wir leben doch nicht im Mittelalter?) Solche wilden Gedanken kommen einem in den Kopf. Aber im Mittelalter hat es doch noch keine Flugzeuge gegeben. Das muss ich der schönen Prinzessin später sagen, aber erst, wenn ich etwas freier atme. Die Luft in mir ist hier nämlich jetzt etwas gedrückt. Die Sitze sind sehr bequem. Man hat auch eine gute Aussicht. Dort steht meine ganze Familie auf der Terrasse. Sie winken mir zu, stampfen mit den Füßen... Ich kann von hier aus sehen, wie aufgeregt sie alle sind. Lächerlich. Ich winke ihnen beruhigend zu: regt euch doch nicht auf! Die Maschine setzt sich in Bewegung. Jetzt habe ich nur mehr ein Gefühl: den Stolz darauf, wie schön es ist, zu fliegen.

Geschwindigkeit

Im Auto ist die Geschwindigkeit das Beste, im Flugzeug das Tempo. Die beiden sind nicht das Gleiche. Im Auto geht es um die Geschwindigkeit, um das Gefühl, an einem schönen Frühlingstag in die freie Natur zu jagen, bei offenem Fenster die sausende Luft zu spüren, die geschmeidige Kraft des Motors, die angespannten Nerven, mit denen man ganz frei das Schöne mitfühlen kann. Das Flugzeug bewegt sich viel schneller als das Auto, aber man fühlt das Tempo nicht. Es ist wie in einer Traumjagd. Vielleicht ist es das, was mir beim Fliegen am besten gefällt. Und das erklärt auch, warum ich das Flugzeug eher als Verkehrsmittel betrachte als das Auto. Man genießt die Fahrt zwar nicht körperlich, mit seinen Lungen, mit den Nerven; von der Geschwindigkeit ist nichts zu merken, aber durch die ersparte Zeit und, im anderen Sinn, durch die beruhigten Nerven kann man das Tempo erst richtig genießen.

Vor einigen Jahren habe ich in Rumänien, im Donaudelta, inmitten von Lotusblüten und Seerosen an einem Drehbuch gearbeitet. Es war eine wunderbare Welt, weit entfernt von allen Städten, Geräuschen. Als wäre man mit der Fischerbarke mitten ins Herz der Natur gefahren. Ich habe meine Augen an den lilafarbenen, tulpenartig schlanken Hälsen einer Flamingoflocke geweidet, als plötzlich diese Welt der Pelikane, der Lotusblumen, der Seerosen und Schilfe begann, sich im Kreis um mich herum zu drehen. Als ich wieder zu mir kam, sagte der Fischermeister: „Halászlé!“ Also die Fischsuppe. Ich habe ihn gleich verstanden. Ich hätte gestern nicht so viel von dieser örtlichen Fischsuppe essen sollen, das Donauwasser spricht meinem städtischen Magen eben nicht zu, nicht einmal im aufgebrühten Zustand. Das Fieber näherte sich mir mit einem Gesicht wie das eines breit schwingenden Flamingos. Alles war bisher so schön und aufregend bei dieser Reise: die Entfernung von einer Stadt, von einem Arzt, von Autos, all dies war jetzt auf den Kopf gestellt. Die winzige Fischerbarke hätte mit ihrem kleinen Motor vielleicht auch in Florida einen Weltrekord aufstellen können, so rasch ist sie jetzt stundenlang gerast. Tulcea war der Name der Stadt, in der wir schließlich ankamen; das habe ich allerdings erst später erfahren, zumal das Nest des Flamingos meine Augen verschleierte und ich weder hören noch sehen konnte. Mein Fieber ist inzwischen auf über 40 Grad gestiegen.

Tulcea ist eine kleine Stadt, etwa so groß wie Paks, aber es gibt hier einen Flughafen. Ich wurde sofort auf das fahrplanmäßige Bukarester Flugzeug befördert. Mein Unwohlsein hatte in der Früh begonnen, um zwei Uhr nachmittags kamen wir bereits in Bukarest an. Denselben Weg hatten wir eine Woche früher mit dem Autor über drei Tage zurückgelegt. Die rumänischen Ärzte untersuchten mich und nannten den hässlichen Namen meiner Krankheit, mit der noch hässlicheren Botschaft der zu erwartenden Zeitdauer bis zur Genesung: zwei Wochen. Das spielte sich noch auf dem Bukarester Flugplatz ab, wohin meine rumänischen Freunde die Ärzte bestellt hatten. Jetzt, bei vollem Bewusstsein, konnte ich mein Gesicht zu einer Grimasse verzerren: zwei Wochen krank in der Fremde, das ist schlimm! Die Schlagzeile der Geschichte, eigentlich eine alltägliche, ergibt sich von selber und das Schöne daran ist, dass sie kaum einer Erklärung würdig ist: Man hat mich sofort auf ein ungarisches Flugzeug gesetzt und anderthalb Stunden später konnte ich in einem Budapester Spital genießen, wieder in die Bewusstlosigkeit zu sinken. Ich füge noch hinzu, dass ich diese Reise als Gepäckstück absolvierte, nicht nur, weil ich vollkommen unfähig war, für mich zu sorgen, sondern weil alle Plätze besetzt waren. Man hat mich als Gepäck gewogen und als solches befördert, als wäre ich ein Koffer. Auf der Reise habe ich dann den ganzen Limonadevorrat getrunken, den das Flugzeug mit sich führte. Nicht schlecht für einen Koffer…

Aus dem Ungarischen von Thomas Edmund Konrad