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Aus dem Pester Lloyd von 2008

Peter Stiegnitz

Zwischen Wohlstand und Ohnmacht

Zur Identität und Lage der Juden in Osteuropa nach Krieg und Wende

Es gibt heute kein „Judentum“ mehr, nur mehr Juden. Einzelmenschen mit ihrem guten oder bösen Schicksal geschlagen; sie leben in Frieden und Freiheit, in Gefahr und Gebrechlichkeit, im westlichen Wohlstand und in östlicher Ohnmacht. Eine Reise von Wien, nach Prag, Budapest, Bukarest und weiter...

WIEN

Beginnen wir in Wien, weil wir hier zu Hause sind, oder weil wir hier wohnen, oder weil wir hierher zurückkehrten, wo unsere Eltern und Großeltern mit ihren Zahnbürsten den Gehsteig reinigen mussten, oder weil wir – nach 1949 aus Osteuropa – hier in Freiheit und Sicherheit leben und unsere Existenz aufbauen konnten. Nirgends lässt sich so prächtig leiden wie in Wien. Und das ist gut so. Die Wurzel des Wiener Leids und Lieds liegen in der Unbestimmtheit der eignen Herkunft. Kulturen kennen nicht nur positive, sondern auch negative Gemeinsamkeiten.

So fanden, um unserem Thema gerecht zu werden, Juden und Wiener auch in der gemeinsamen Ermangelung echter Identitäten zueinander. „Wir (Juden und Österreicher) hatten Identitätsprobleme. Ich, der ich aus einem fragmentarischen Österreicher einen ganzen Juden machen musste – und das kleine, arme Übrigbleibsel des Habsburgerreichs, das nicht wusste, was es aus sich machen sollte“ – formuliert diese negative Gemeinsamkeit der aus Wien 1938 emigrierte Rabbiner Joshua O. Habermann.

Drei Generationen

Drei Generationen der Wiener Juden kämpfen und krämpfen mit ihrer „Jüdischkeit“. Die ersten (Jahrgänge 1910 bis 1920) haben Holocaust und Emigration als erduldende Opfer er-, und wenn sie viel Glück hatten, auch überlebt. Die Generation ruderte nach der Befreiung von der Nazi-Barbarei möglichst weit weg von all dem, was man mit „Judentum“ in Verbindung bringen konnte.

Die zweite Generation, die der heute 67-jährigen (plus/minus zehn Jahre), fand zaghaft zu ihren „jüdischen Wurzeln“. Diese zweite Generation, die Holocaust und Emigration als Kinder erlebten oder knapp nach dem Krieg geboren wurden, wurde in die ungute Rolle eines „Sozial-Puffers“ gezwungen. Sie verstanden die Ahnungs- und Widerstandslosigkeit ihrer Eltern nicht, wir wollten nicht begreifen, wie Hunderttausende und Millionen Menschen ohne Widerstand in den sicheren Tod gingen. Die Entschuldigung unserer Eltern („Widerstand wäre zwecklos gewesen…!“) wollten und konnten wir nicht akzeptieren.

Die dritte jüdische Generation, heute um die 40, lebt entweder „vollassimiliert“ in Wien und geht, meist einem akademischen Beruf nach, oder hat sich in der englischsprachigen Welt Australiens, Englands, Kanadas und den USA endgültig niedergelassen und nur im Winter, zum Schifahren, besucht sie die fremd gewordene Heimat ihrer Eltern und Großeltern. Den Weg der Assimilation, also den der vollständigen Aufgabe jüdischer Tradition und jüdischen Glaubens und Lebens gingen bis zum Holocaust in Österreich, Deutschland, aber auch in den großen mittel- und westeuropäischen Städten (Wien, Berlin, Prag, Warschau, Budapest, usw.) sehr viele jüdische Familien.

Binsenweisheiten im Schatten der Shoah

Nichts stört Juden so sehr wie der Antisemitismus. Diese Binsenweisheit formt seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten bis zum heutigen Tage – und sicherlich grenzenlos weiter – das gesamte Leben der Juden in der Diaspora. Natürlich ist der Judenhass kein Produkt nationalsozialistischen Ungeistes, er ist nur die absolute, blutige Pervertierung eines fast zweitausend Jahre alten christlichen Hasses gegen das Volk ihres Messias Jesus Christus.

Der EU-Durchschnitt der tolerant eingestellten Menschen, die sich durch die Anwesenheit von Andersgläubigen nicht beunruhigt fühlen, beträgt 82 Prozent. In Österreich liegt dieser Anteil bei 82,3 Prozent, also knapp über dem EU-15-Durchschnitt. Der deutsche Anteil mit 75,7 Prozent liegt etwas unterhalb des EU-15-Wertes. Noch nie haben Statistiken so wenig ausgesagt, wie im Fall des (Welt-)Judentums. Obwohl die Zahl der Juden lediglich rund 15 Millionen beträgt, wird ihre Bedeutung weit darüber hinaus geschätzt und von gar nicht so wenigen auch gefürchtet. Eines steht fest: Kaum ein Tag, dass nicht in den Medien – vor allem in den deutschsprachigen – von „Juden“ berichtet würde. Haupt- und Lieblingsthemen der Medien sind die Erinnerung an den Holocaust, die Frage der Wiedergutmachung, der Restitution und – immer wieder – der Antisemitismus.

Das einst reichhaltige, pulsierende jüdische Leben in Wien ernährte sich immer schon aus der „östlichen“ Zuwanderung der (späteren) k.u.k.-Monarchie. Ein Gutteil der fast 200.000 Juden in der Monarchiemetropole, vor allem aber ihre „Intelligentia“, stammten nahezu vollzählig aus den Kronländern. Heute zählt die jüdische Kultusgemeinde in Wien knapp 7.000 Mitglieder, hierzu kommen noch ungefähr so viele Juden, die nicht Mitglieder der „Gemeinde“ sind; in den Bundesländern, vor allem in Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck, leben insgesamt einige hundert Juden.

II

OSTEUROPA

UNGARN

In Ungarn, wo Anfang der vierziger Jahre noch 900.000 Juden lebten, kamen 600.000 ums Leben. Und trotzdem redete im Land der ermordeten Magyaren, deren „Pfeilkreuzler“ und Gendarmerieeinheiten brutaler als die SSler wüteten, nach dem Krieg keine einzige offizielle Stelle vom Holocaust und Antisemitismus. So konnten auch die ersten wissenschaftlichen Arbeiten, über das Martyrium der ungarischen Juden nicht in Budapest, sondern mussten im Westen erscheinen. Die erste umfassende Analyse erblickte in den Niederlanden das Licht der (interessierten) westlichen und (desinteressierten) östlichen Welt. Der Historiker und Universitätsprofessor Péter Várdy zog die Bilanz des Schreckens seiner ehemaligen Landsleute und Schicksalsgenossen: „Das offizielle ungarische Judentum bot nach dem Krieg das Bild einer in sich gespalteten, zerstrittenen und schließlich verängstigten Minderheit.“

In Ungarn leben nach inoffiziellen Statistiken rund 100.000 Juden, davon 75.000 bis 80.000 in Budapest. Heute tobt im Land der Magyaren ein offener Antisemitismus, getragen von rechtsextremen Parteien (MIÉP und Jobbik), beziehungsweise Bewegungen (Ungarische Garde), die sich offen auf die Nazi-Pfeilkreuzler berufen. Eines der „Hauptnahrungsmittel“ des „gefräßigen“ Antisemitismus in Ungarn der Jetztzeit ist die relativ hohe jüdische Beteiligung in den KP-Führungsgremien nach dem Ersten (zum Beispiel Béla Kuhn) und nach dem Zweiten Weltkrieg (Mátyás Rákosi, der „ungarische Stalin“). Dass sich weder Kuhn noch Rákosi als „Juden“ und letzterer sich sogar als Antisemit deklarierte, das registrieren die heutigen Judenfeinde in Ungarn nicht. So etwa der Führer der rechtsrechten Lebens- und Wahrheitspartei, István Csurka.

Die Situation in Ungarn ist paradox: hohe Assimilation und trotzdem viele Glaubensjuden? Diesen Widerspruch kann man nur dann verstehen, wenn man die „Inselmentalität“ (Marta S. Halpert: "jüdische Gemeinden in Europa") der Ungarn, eingebettet zwischen Slawen und Germanen, versteht. Dieses kulturelle „Alleingelassensein“ züchtet ein hohes, oft auch neurotisches Selbstbewusstsein. Diese „Wir-sind-Wir“-Mentalität charakterisiert auch das Selbstbewusstsein der ungarischen Juden, die „Juden“ und „Ungarn“ in einer Person sein möchten.

Politische Freiheit schafft auch dem ideologischen Hass freien Raum. So kann im heutigen Ungarn der Chef der rechtsrechten MIÉP-Partei, István Csurka, offen gegen die Juden poltern: „… so lange eine winzige Minderheit der ganzen Gesellschaft erreichen kann, dass nur ihre Wahrheit die Wahrheit ist … so lange gibt es keine Aussicht, dass sich die großen völkischen Massen in ihrer Heimat wohl fühlen. Ungarn, erwache!“

RUSSLAND

Für die sowjetische Ideologie bildeten die Juden keine Religions-, sondern eine ethnische Gemeinschaft. Der einzige Vorteil dieses „Rassismus light“ ist die Erleichterung der Doppelloyalität: Die meisten Juden bleiben ihrer Schicksalsgemeinschaft treu und bekennen sich gleichzeitig zur „russischen Kultur“. Trotzdem, oder vielleicht eben deshalb, kann die 1990 gegründete „Russische Nationale Einheit“ auf ihren Flugblättern schreiben: „Plündert die Wohnungen von Juden! Brennt sie nieder!“ Psychologisch verständlich, politisch selbstmörderisch ist die Reaktion der russischen Juden auf den zunehmenden Antisemitismus in ihrem vom Kommunismus befreiten Land; statt ihre Kräfte zu bündeln und vereint gegen den judenfeindlichen Mörder vorzugehen, streiten sie untereinander ohne Ende. Obwohl ca. 800.000 Juden aus den GUS-Staaten hauptsächlich nach Israel, in die Vereinigten Staaten, nach Kanada und – nicht wenige – nach Deutschland auswandern konnten, leben immer noch 500.000 Juden – die drittgrößte jüdische Gesamtgemeinschaft der Welt – in der Ex-Sowjetunion.

Obwohl die Führer der exsowjetischen antisemitischen Parteien und Bewegungen – dabei sollte vor allem das Sammelsurium des „Pamjat“ („Erinnerung“) erwähnt werden – immer wieder von der „großen Beteiligung“ der Juden am KP-System faseln, erleben wir heute in den GUS-Staaten keine wirkliche „jüdische“, sondern viel mehr eine antisemitische „Renaissance“.

POLEN

Nachdem fast drei Millionen der polnischen Juden brutal ermordet wurden, leben heute, hauptsächlich in Warschau und in einigen Großstädten Polens, 25.000 Juden, die recht erfolgreich bemüht sind, ihre jüdische Identität wiederzuerlangen. Immer wieder sollten wir uns die Schreckensbilanz polnischer Juden vor Augen führen: Von über drei Millionen Juden haben ganze 250.000 die Nazi-Barbarei überlebt; 120.000 verließen sofort nach Kriegsende das Land und 1956 wanderten noch einmal 50.000 Juden aus. Seit dieser Zeit konnte jeder Jude – im Gegensatz zu seinen russischen Schicksalsgenossen – Polen, meist nach Israel, frei verlassen.

Das große Problem der heute in Polen lebenden Juden ist ihre starke vereinsmäßige – und nicht religiöse – Aufsplitterung: ein Dutzend Dachorganisationen, die ihrerseits unzählige kleinere und größere Vereine umfassen, konkurrieren gegeneinander. Durch den exorbitant hohen Blutverlust polnischer Juden können die heute im Land Lebenden an keine wirkliche Tradition anknüpfen.

TSCHECHIEN

Die große Geschichte der Juden – mehr der Prager als der Pressburger – in der ehemaligen Tschechoslowakei mündet unwillkürlich in der kleinen jüdischen Gegenwart. In Prag leben, so die Legende, seit über 1.000 Jahren Juden. In den Jahrhunderten blühte die Prager jüdische Gemeinde auf, neben gut ausgestatteten Synagogen, wie zum Beispiel die berühmte „Alt-neue Synagoge“, entstand der jüdische Friedhof, der heute noch unzählige Touristen anlockt. Und noch ein erfreuliches Kuriosum der Prager Juden: Sie durften ein eigenes Rathaus samt Bürgermeister und Magistratsbeamten ins Leben rufen. Die Prager Universität war die erste „Höchste Schule“, die auch Juden besuchen durften.

Nach Krieg und Holocaust gelang den überlebenden Juden in der heutigen Tschechischen Republik – von 130.000 wurden 78.000 ermordet, und der Rest, bis auf 10.000 Menschen, verließ das Land – die Wiederherstellung ihrer Gemeinde zunächst kaum. Der Geist des legendären Prager Wunderrabbis Loew ben Bezalel, der den „Golem“ schuf, schien keine Fortsetzung zu haben. Die Vereinigung Jüdischer Gemeinden – die offizielle Vertretung der tschechischen Juden – hat rund 3.000 Mitglieder; die Gesamtzahl der Juden wird auf rund 8.000 geschätzt. Diese, wie auch alle anderen Juden des „Ostblocks“, durften aus Deutschland keine Wiedergutmachungszahlungen annehmen. Die Regierung nach der Wende hat eine gewisse finanzielle Hilfe, je nach Länge der KZ-Zeit, aus eigenen Mitteln der Juden gezahlt und strebt jetzt – aus guten Gründen – weitere Verhandlungen mit Deutschland an.

SLOWAKEI

Die Juden in der Slowakei standen lange Zeit unter dem Schutz der ungarischen Könige, die „dafür aber eine staatliche Judensteuer zahlen“ mussten. Wie Rabbi Loew in Prag, residierte der wohl bekannteste slowakische Rabbiner Raw Moshe Schreiber (Chatam Sofer genannt) in Pressburg. An seinem rabbinischen Hof verkehrten die berühmtesten Gelehrten seiner Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts.

Im Gegensatz zu den Tschechen lieferten die Slowaken „ihre“ Juden mit Genuss den Nazis aus; dafür sorgte schon der Staatschef der slowakischen Nazi-Trabantenregierung, der katholische Priester Tiso. Der nach der Befreiung hingerichtete slowakische Nazi-Führer wird jetzt von gar nicht so wenigen Slowaken zum „politischen Heiligen“ erklärt. Die zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallenden slowakischen Juden schauen neidvoll nicht nur über die Grenze nach Österreich, sondern auch nach Tschechien; und so gehören sie heutzutage zu den wenigen Bindegliedern zwischen Pressburg und Prag. Eine in Prag erscheinende jüdische Monatszeitung ist die einzige ihrer Art, die auch in Pressburg gelesen wird.

RUMÄNIEN

Eines der letzten Länder Europas, das „seine“ Juden frei und zu den gesellschaftlichen Futtertrögen ließ, war Rumänien; erst knapp vor dem Ersten Weltkrieg (1910) wurde der langsame Prozess der jüdischen Anpassung und Assimilation mit der Gründung des „Verbandes der einheimischen Juden“ („Uniuena Evreilor Prämanteni“) vollzogen. Es ist kein Zufall, dass sich diese erste offizielle jüdische Organisation in Rumänien noch nicht „rumänisch“, sondern nur „einheimisch“ nennen durfte. Erst im Balkankrieg (1913) und im Unabhängigkeitskrieg Rumäniens (1916 bis 1919) durften Juden beweisen, dass sie nicht nur „Einheimische“, sondern auch „Rumänen“ sind.

Der Nazidiktator Antonescu und seine „Eisernen Garden“ haben aus dem alten, noch halbwegs „friedlichen“ Judenhass eine mörderische Politik gemacht und zur großen Freude der „deutschen Waffenbrüder“ mordeten sie in der Bukowina, in Bessarabien und in Dorohoi, wo viele, vor allem orthodoxe Juden leben.

Vor dem Holocaust lebten in Rumänien zirka 800.000 Juden; 400.000 wurden von deutschen, rumänischen, aber auch von ungarischen Nazis brutalst ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg verließen 480.000 Juden das Land Richtung Israel und den USA, und so blieben kaum 20.000 Juden in Rumänien über, dessen politische Führung, trotz kommunistischer Moskauhörigkeit, von Anfang an gute Beziehungen zu Israel aufrecht hielt. Die im Land gebliebenen Juden haben unter der geistlichen Führung des Rabbiners Moses Rosen das kulturelle, soziale und religiöse Leben in ihren Gemeinden praktisch von Null aufbauen müssen.

Mit der politischen Wende (1989) gelang es den rumänischen Juden, den in diesem Land durchaus begehrten Status einer eigenen „ethnischen Gruppe“ zu erzielen. Heute leben in Rumänien rund 14.000 Juden, die ein reges kulturelles, religiöses und soziales Leben entfalten; in 23 der insgesamt 124 Synagogen und Bethäusern werden täglich Gottesdienste abgehalten.

Der Autor, Prof. Dr. Peter Stiegnitz, geboren in Budapest, einst verfolgt von den Nazis wie den Stalinisten, lebt in Wien, ist Professor für Philosophie und Soziologie sowie Autor zahlreicher Bücher.