(c) Pester Lloyd / 35 - 2011
NACHRICHTEN 31.08.2011
"Der Herbst wird hektisch"
Aktuelle Nachrichten aus Ungarn im Überblick
Fraktionsklausur der Regierungsparteien bereitet neue "Kardinalsgesetze" vor + + + Budapester
Bürgermeister kriminalisiert Obdachlose + + + ein Meinungsforscher wird Regierungssprecher + + + Massenentlassungen bei Militärgeheimdienst + + + Arbeitslosenquote bleibt konstant + + +
Fidesz-Fraktionschef nimmt Regierung gegen Verschwendungsvorwürfe in Schutz + + + Schuldner protestieren vor Bankenzentrale + + + Schlachtfeld von Mohács mit neuem Besucherzentrum + + +
Kulturtipp: Jüdisches Sommerfestival hat begonnen
Fraktionsklausur der ungarischen Regierungsparteien
Ab 7. September treffen sich die Fraktionsführer und Ausschussvorsitzenden der
Regierungsparteien FIDESZ-KDNP mit Regierungschef Orbán, seinen Ministern und Staatssekretären in der ostungarischen Bäderstadt Hajdúszoboszló zu einer Klausur, um
die wichtigsten Punkte der Herbstsession des Parlaments abzustimmen. Im Zentrum, so sagt es jedenfalls Fidesz-Fraktionschef Lázár heute vor der Presse, steht die Ökonomie
und die Stopfung des neuen Budgetlochs. Man werde alles tun, um das Defizitziel zu erreichen und sich der Nöte der Schuldner von Fremdwährungskrediten annehmen.
Orbáns Musterschüler und Kettenhund, ist immer für ein paar ruppige Worte in die Richtung von
Nichtlinientreuen gut. Bei seiner PK blieb er aber frohgemut und freundlich.
Im Herbst werden auch weitere "Kardinalsgesetze" (also in der Verfassung verankerte, die
nur mit 2/3-Mehrheiten zu ändern sein werden), vorbereitet, u.a. das Justizsystem und das Wahlrecht betreffend. Der Innenminister wird eine Reform für die kommunalen
Verwaltungen vorlegen. Das neue Wahlrecht soll bereits zum 20. September im Parlament vorliegen (hier mehr dazu), die anderen Kardinalsgesetze bis Jahresende durchgebracht
werden. Bei der Justizreform geht es, so Lázár, vor allem um die Besetzung freiwerdender Richterstellen (klar, worum auch sonst...). Nächstes Jahr soll eine
"Erneuerung des Systems der Rechtsprechung und der Ermittlung" folgen, worauf man gespannt sein kann. Richter nehmen bei der Klausur freilich nicht teil. Auch das
Verfassungsgericht soll sich auf "neue Regeln" einstellen, diesmal will man es aber dabei mit in die Gespräche einbinden, wie es heißt.
Lázár stimmte die Abgeordneten und die Öffentlichkeit auf eine "sehr hektische
Herbstsitzungsperiode" ein, sieben Vier-Tage-Wochen stünden bevor. Auch der wichtigste ökonomische Berater von Premier Orbán, Mihály Varga, kündigte "kleiner
Zusatzmaßnahmen" zur Erreichung der Budgetziele an und gestand - freilich nur indirekt - ein, dass man sich bei den Einnahmen aus der Mehrwert- und Einkommenssteuer deutlich
verschätzt hat, zudem sei man enttäuscht darüber, dass die Menschen die "freigewordenen Mittel durch die Flat tax" nicht für mehr Konsum verwendet hätten. Die
Menschen müssten das zusätzliche Einkommen zur Abdeckung ihrer ausufernden Frankenkredite aufwenden. Ein weiteres Problem kommt auf den Haushalt zu, warnte
Varga: aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes müsse die Regierung Unternehmen Mehrwertsteuer in der Gröénordnung von umgerechnet knapp 1 Milliarde
EUR zurückzahlen, was aber nicht "aus den Rentenbeiträgen" geschehen soll. Varga erwartet zudem "kleinere Umbesetzungen" in der Regierung.
Oberbürgermeister von Budapest kriminalisiert Obdachlose
Der Budapester Oberbürgermeister hat sich vor den Medien wieder einmal über sein -
gleich nach der Umbenennung von Straßen und Plätzen - Lieblingsthema geäußert, den Obdachlosen der Stadt. "Manche der Obdachlosen neigen zur Radikalisierung", auch, weil
"die vorherige Administration zwanzig Jahre nichts gegen das Problem unternommen hat". Der OB meinte weiter, dass es hier nur zum Teil um ein soziales, vor allem aber ein
polizeiliches Problem geht. Er ging damit auf die Mordserie auf der Csepel-Insel in Budapest ein. Im Juil wurde dort vier lebendig Begrabene gefunden, denen man zuvor mit
Folter die PIN-Codes ihrer Bankkarten abpresste. Danach wurden mehrere Obdachlose unter dringendem Tatverdacht verhaftet. Tarlós schließt daraus: "Wenn wir
Obdachlosigkeit nicht als kriminelles Problem begreifen, wenn wir damit fortfahren zu sagen, Obdachlose sind keine Angelegenheit für die Exekutive, dann werden wir enden wir
andere Staaten, wo ständig schreckliche Dinge in den Nachrichten zu hören sind."
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Vier Leichen von lebendig begrabenen Menschen werden von der Csepel-Insel gebracht. Das Verbrechen
sorgte auch für internationales - mediales - Aufsehen. Mal sehen wie die Reaktion der Medien auf die Kriminalisierung der Obdachlosen ausfällt...
Das Entsetzen von Bürgerrechtsgruppen über die Gleichsetzung der Csepel-Mörder mit
Obdachlosen allgemein, hatte nur zur Folge, dass Tarlós feststellte, dass obdachlose Rechtsbrecher genauso bestraft würden wie normale. Von der verallgemeinernden
Kriminalisierung rückte er nicht ab. Er kündigte weiter an, dass man die "illegalen Lager", u.a. in bewaldeten Gebieten in und vor Budapest, weiter räumen werde, dafür werde
man drei Gebäude renovieren, um die Zahl der auf der Straße nächtigenden Personen von den geschätzten derzeit 6.000 zu verringern. Als Gegenleistung für die Unterbringung
"müssen die Obdachlosen Arbeiten verrichten". Die "Reinigung" der Fußgängerunterführungen in der vorjährigen Weihnachtszeit nannte Tarlós einen Erfolg,
86 der 120 dort lebenden Menschen haben das städtische Hilfsprogramm angenommen.
Meinungsforscher wird Regierungssprecher
Der Politikwissenschaftler András Giro-Szász wird Anna
Nagy als Regierungssprecherin nachfolgen. Diese hatte "aus privaten Gründen" ihren Rückzug erklärt. Der neue Regierungssprecher soll künftig politische
Entscheidungen "detailliert und täglich" kommunizieren. Für die große Linie bleibt indes der persönliche Sprecher des Premiers, Péter Szijjartó zuständig. Giro-Szász ist
Eigentümer des sich als unabhängig deklarierenden Meinungs- und Wirtschaftsforschungsinstitutes Szazadvég.
Massenentlassungen bei Militärgeheimdienst
Ungefähr jeder Dritte der 3.500 Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes wird noch
in diesem Jahr "wegrationalisiert", erklärte Verteidigungsminister Csaba Hende in einem Radiobeitrag. Viele Stellen könnte man dabei durch Pensionierung oder Umbesetzung
einsparen, andere würden gekündigt. Derzeit arbeite man an den Streichlisten. Die Funktionsfähigkeit des Dienstes würde all das nicht beeinträchtigen, man werde dadurch
jedoch die Korruption kompromisslos ausmerzen, hofft der Minister. Wer 25 Jahre im Dienst ist, wird wohl zwangsberentet, das könnte bis zu 1000 Mitarbeiter betreffen.
Arbeitslosenquote in Ungarn konstant
Die Arbeitslosenquote in Ungarn stagnierte in der Drei-Monats-Periode von Mai bis Juli bei
10,8%, meldet das Statistische Zentralamt in Budapest, KSH. Im Vorjahr lag die Quote zur gleichen Zeit bei 11%. Experten gehen davon aus, dass es in diesem Jahr kaum noch
spürbare Verbesserungen zu erwarten gibt, eher schon wird die 11%-Marke wieder überquert. 2012 würden die öffentlichen Beschäftigungsprogramm eventuell zu einer
numerischen Verringerung der Quote führen, jedoch zu keinerlei qualitativer oder nachhaltigen Verbesserung des Arbeitsmarktes. Zudem könnten viele, die aufgrund neuer
Regelungen ihren Status als Invalidenrentner verlieren, dann als Arbeitslose geführt werden müssen. Orbán-Sprecher Szijjartó erklärte hingegen, dass "43.000 neue Arbeitsplätze"
geschaffen worden seien, die höchste Steigerungsrate seit 2008. Er bekräftigte das Ziel von 1 Mio. neuen Arbeitsplätze binnen zehn Jahren.
Fidesz-Fraktionschef: Regierung kommt ohne Luxus aus
Der Fraktionschef des Fidesz, János Lázár (siehe Foto bei erster Meldung), nahm die
Regierung gegen Vorwürfe der Verschwendung in Schutz. Oppositionionspolitiker kritisierten den angeblich freizügigen Umgang der Regierenden mit Dienstwagen und
anwachsende Ausgaben für Kommunikationsmittel und IT. Im Gegenteil, meint Lázár, diese Regierung sei dem Luxus in jeder Form abhold, man denke gerade darüber nach,
regierungseigene Ferienimmobilien zu verkaufen, um sie in "Top Gesundheitseinrichtungen" oder "Ferienanlagen für Kinder" umzuwanden, was eine "gute
Nachricht für die Öffentlichkeit" wäre, Regierungsmitglieder könnten auch anderswo Urlaub machen. Die Dienstwagenkosten fahre man übrigens zurück, "eine Reihe von
führenden Offiziellen haben ihre Audis in preiswertere Skodas umgetauscht", so Lázár.
Kreditnehmer protestieren vor Bankenzentrale
Am vergangenen Freitag protestierten rund 100 Menschen vor der Zentrale der
Ungarischen Bankenvereinigung gegen zu zögerliche Hilfen für in Not geratene Schuldner von Fremdwährungskrediten. Deren Lage hatte sich in den vergangenen Wochen durch
den heftigen Anstiegs des Frankenkurses gegenüber dem Forint weiter verschlechtert, bei weitem nicht allen ist der Zugang zum staatlichen Hilfspaket mit Kursfixierungund
Ratenstreckung etc. gewährt. Die Protestierer forderten daher neue Gespräche und brandmarkten die Kursfixierung als wenig hilfreich, würden sich die Kreditverträge ja
lediglich in ihrer Laufzeit verlängern, z.T. von 20 auf 40 Jahre, was "lebenslange Sklaverei" bedeutet, so ein Sprecher.
Sie fordern ein Gesetz über die Privatinsolvenz nach dem Vorbild anderer Staaten. Darin
enthalten sein, solle die Möglichkeit bei Nichtbedienbarkeit eines Hypothekenkredites aus diesem auszusteigen und sich durch Verkauf der Immobilie von allen Lasten zu befreien,
unabhängig davon, ob der Veraufserlös die Kreditsumme abdeckt oder nicht. Die Demonstranten formulierten eine entsprechende Petition ans Verfassungsgericht, die
Bankenvereinigung sowie den Ministerpräsidenten. In den letzten Tagen traf sich mehrmals der Parlamentsausschuss für Finanzen, um die wachsenden Spannungen in
dieser Frage zu besprechen und die Implementierung des Hilfspaketes voranzutreiben. Auch bei der Klausurtagung der Regierung ab 7. September dürfte dieses soziale
Pulverfass (immerhin sind rund 900.000 Kreditverträge betroffen) eine wichtige Rolle spielen. Mehr dazu im FINANZMARKT und in den Beiträgen der letzten Woche
Mohács mit gläsernem Besucherzentrum in Form der ungarischen Krone
Auf dem Gelände der Gedenkstätte für die Schlacht um Mohács gegen die Türken 1526,
im Süden Ungarns, wurde ein neues Besucherzentrum eingerichtet und letzten Sonntag eingeweiht. Dabei handelt es sich um ein vierstöckiges Glasgebäude in den Umrissen der
"heiligen Krone". Neben der Besucherabwicklung sollen dort auch ständige und wechselnde
Ausstellungen und Vorträge veranstaltet werden "in Erinnerung an die tragische Niederlage des christlichen ungarischen Königreichs gegen das Osmanische Reich am 29. August
1526.", die in Ungarn als Endpunkt des unabhängigen Königreichs betrachtet wird.
Der Entwurf stammt vom gleichen Architekten, György Vadász, der auch das 1976
geschaffene Denkmal verantwortet. Über die Kosten schwieg man sich aus. Anlässlich der Einweihung hielt Parlamentspräsident László Kövér eine Ansprache, in der er sagte: "Die
ungarische Nation hat die Angriffe der letzten Jahrhunderte überstanden, weil ihre Führer stets bedingungslos für das nationale Interesse eintraten." Erst kürzlich hatte die
Regierung den Jahrestag der “Schlacht bei Belgrad”, ein paar Jahrzehnte vor jener in Mohács und ausnahmsweise einmal siegreich, zum Nationalen Gedenktag - ebenso wie Trianon - erhoben.
Kulturtipp: Jüdisches Sommerfestival in Budapest gestartet
Seit Sonntag und noch bis 5. September läuft in
Budapest das 14. Jüdische Sommerfestival. Die Programmvielfalt und die stetig wachsende Zahl in- wie ausländischer Besucher sei ein Beleg dafür, dass
das Event ein gesamtungarisches Ereignis sei, dass beweise, dass Ungarn der jüdischen Gemeinde seit Jahrhunderten eine Heimat bietet, sagte ein
Vertreter der lokalen jüdischen Gemeinde bei der Eröffnung. Ein Vertreter der Regierung, der Staatssekretär für Regierungskommunikation
Zoltán Kovács, stellte klar, dass die Regierung ihre Partnerschaft mit der Jüdischen Gemeinde fortsetzen wird, ebenso die Förderung solcher und ähnlicher Veranstaltungen.
Neben Konzerten in der Großen Synagoge wird es an verschiedenen Orten Darbietungen geben, darunter Weltmusik aus Osteuropa, Romagruppen vom Balkan, Klezmer.
Höhepunkt wird das "Idan Raichel Projekt" mit Weltmusik am 4. September sein.
Weitere Infos zu den Programmen: www.zsidonyarifesztival.hu
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