THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 40 - 2014 POLITIK 01.10.2014

 

Ungarn auf dem Grill: Anhörung von Kommissionskandidat Navracsics beim EU-Parlament

Die Kultur am Gängelband nationaler Zensur, die Volksbildung durchzentralisiert, die Hochschulbildung als ständisches Privileg pervertiert, ideologisch disziplinierte Lehrer und gleichgeschaltete Lehrpläne. Roma-Kinder in Sonderklassen, entwürdigenden Billigstarbeitsprogramme ohne jede Perspektive für deren Eltern, die magyarische Jugend in hellen Scharen auf dem Weg gen Westen. Am heutigen Mittwoch soll Tibor Navracsics beweisen, dass er für den Job als EU-Kommissar für Kultur, Bildung und Jugend geeignet ist...

Hängt an den Lippen seines Chefs:
Tibor Navracsics mit Viktor Orbán im Parlament in Budapest

Der designierte ungarische EU-Kommissar für Kultur, Jugend, Bildung und "Citizenship", hat am Mittwoch ab 18 Uhr seine Anhörung vor dem Europäischen Parlament. Das "Grillen" kann hier im Live-Stream mit engl. Übersetzung (evtl. auch dt.) verfolgt werden.

UPDATE, 19:52 Uhr HIER GEHTS ZU UNSEREM EXPRESS-PROTOKOLL DER ANHÖRUNG

In Vorbereitung der Befragung vor dem Parlament, das letztlich in Gänze über den Kommissionvorschlag von Jean-Claude Juncker zu befinden hat, erhielten die Abgeordneten eine Mappe mit einer Beschreibung des Aufgabengebietes und der Entwicklungsschwerpunkte im Portfolio des jeweiligen Kandidaten sowie einen ersten von diesem beantworteten Fragebogen (pdf) als Basis für ihre Fragestellungen.

 

Architekt des "neuen Ungarn"

Tibor Navracsics, zuvor Außenminister, davor für Justiz und Öffentliche Verwaltung, über dessen "besondere" Qualifikation als Master-Mind hinter Rechtstaatsabbau und "Verfassungsputsch" zur "illiberalen Demokratie", wir in diesem Beitrag bereits ausführlicher berichteten, war mit der Nominierung sofort in der Kritik: Kulturverbände aus Deutschland und Österreich protestierten mit Petitionen und Schreiben, die deutschsprachige Presse übernahm - wie so oft - über die Agenturen unsere Einschätzungen und die liberale Fraktion ALDE äußerte kürzlich öffentlich massive Zweifel am Zustand von Rechtsstaat und Demokratie in Ungarn und stellte dies auch in Zusammenhang mit der Nominierung.

Die erste und wichtigste Frage lautete, welche Garantien der Unabhängigkeit er geben kann und wie er sicherstellen will, dass seine Aktivitäten als Komissar ausschließlich den Anforderungen der Kommission dienen.

Seine Antwort kaprizierte sich auf die Aufzählung von Einzelprojekten, von denen er wohl einmal gehört hat und sie begann so: "Aus einer Familie von Lehrern stammend und selbst ein Universitätsprofessor, bin ich besonders froh darüber, dass ich für das Portfolio für Bildung, Kultur, Jugend und Staatsbürgerschaft vorgeschlagen wurde. Ich glaube fest daran, dass die Jugend die Zukunft ist und Bildung die Hauptsäule zur Schaffung einer Europäischen Gesellschaft, die auf gegenseitigem Verständnis ruht: eine Gesellschaft, in der sich jede(r) wiederfinden kann."

"Außerdem habe ich mehrere Buchmessen eröffnet..."

Dann folgten Aufzählungen von Programmen aus dem Jugend- und Studentenaustausch, deren Durchführung er als Minister begleitet haben will, ein Bekenntniss zum Ausbau der europaweiten Notrufnummer 116 gegen sexuellen und Kindesmissbrauch, ein paar Stichworte zum Erasmus-Programm sowie die Manifestation eines offensichtlichen Missverständnisses. Navracsics glaubt offenbar, als EU-Kommissar für Kultur etc. vor allem Hände schütteln und Veranstaltungen eröffnen zu sollen und liefert dazu seine "Expertise" ab: "Ich habe aus erster Hand Erfahrungen damit gemacht wie Kultur zum öffentlichen Austausch beitragen kann, durch meine Aufsicht über das Netzwerk der ungarischen Kulturinstitute. Ich habe neue Institute in Istanbul, Peking, Zagreb und Belgrad eröffnet und die Eröffnung in Lubljana und Baku (!) vorbereitet. Außerdem habe ich mehrere Buchmessen in Belgrad, Sofia, Warschau und Moskau eröffnet."

Ungarns "feinfühliger" Umgang mit den Roma

Dass diese Tätigkeiten wenig Hinweise darauf geben, dass Navracsics die kommenden 5 Jahre unabhängig von seinem Chef Orbán tätig werden wird, stört ihn nicht, er fährt in seinem Fragebogen fort, die "Nationale Romastrategie" seines Landes als europaweit nachahmenswert in einem "besonders sensiblen Gebiet sozialer und kultureller Integration" von "historischer Tragweite" zu bewerben.

Nicht ganz so sensibel sieht die Durchführung dieser Stratgie in Ungarn selbst aus, wo der zuständige Minister Balog schon einmal zwischen förderungwürdigen und schmarotzenden Menschengruppen unterscheidet und den Roma, diesem "Volk ohne Geschichte", das "nie aus Ungarn deportiert wurde", eine lamoryante Opferrolle unterstellt, bevor er sie für die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohnes auf den Feldern der Bürgermeister unter Androhung jeglichen Mittebezugs schuften lässt, während die Romakinder in Sonderschulen "gefördert" werden und Navracsics seinem Kollegen gegen Gerichtsurteile gegen Segregation mit passenden Gesetzesänderungen zur Seite springt.

Fidesz-Bürgermeister stellen Roma-Stadteilen in Ungarn auch schonmal mitten im Hochsommer das Wasser ab, EU-finanzierte Strukturmaßnahmen enden meist am Anfang dieser Siedlungen und in Miskolc reißt man die Armensiedlungen ganz ab, bei Zwangsräumung der Bewohner und um noch ein schmuckes Stadion zu errichten. "Sensible soziale und kulturelle Integration" säuselt der Kommissar in spe.

Wird der Bock zum Gärtner?

Navracsics bekenne sich dazu in "meiner Rolle als Kommissar sicherzustellen, dass die Mitgliedsländer die europäischen Werte vollständig respektieren." Ein interessanter Ansatz des Politikers, der als Minister für Justiz und Öffentliche Verwaltung nicht nur ein gutes Dutzend EU-Vertragsverletzungsverfahren ins Rollen brachte (die Zwangspensionierung von Richtern als Highlight), sondern der maßgeblich an der Beseitigung der Gewaltenteilung und der Schaffung eines Systems beteiligt war, in dem die Verfassung der Einparteienmehrheit Untertan gemacht wrude, das Verfassungsgericht von wesentlichen Kompetenzen abgeschnitten und personell von Fidesz-Kadern übernommen ist sowie ein Grundgesetz installiert worden ist, das es durch die Integration von Tagespolitik künftigen Mehrheiten, die nicht verfassungsändernd sind, fast unmöglich macht, Politik überhaupt noch zu gestalten.

 

Navracsics entfernte Ungarn von europäischen Grundwerten

Die von Fidesz im Zuge der sog. "Nationalen Kooperation", also im Alleingang installierte Verfassung enthält u.a. direkte Verstöße gegen die in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages verankerten Grundwerte der Gemeinschaft, u.a. die Voraussetzung für die Kriminalisierung von Obdachlosen sowie die nominale Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen durch ihre Unterscheidung in "nationenbildend" (alle Ungarn, egal wo) und "staatsbildend" (ethnische und nationale Minderheiten), auf der letztlich auch die praktische Politik aufbaut. Navracsics selbst trug als Minister die von Orbán angeführte Diffamierungskampagne der EU als "neues Moskau" mit, deren "feindlich gesinnte Bürokraten" "ungarische Familien angreifen" und im Interesse "der Finanzspekulanten und Konzerne, die Extraprofite aus dem Land schaffen" arbeite, wie die immer wiederholten Hauptparolen im offiziell so benannten "Befreiungskampf" lauten. Freilich relativierte er vor EU-Gremien diese Aussagen immer wieder durch "Bekenntnisse" wie oben, doch der Doppelsprech der ungarischen Repräsentanten sollte mittlerweile in Brüssel verstanden werden.

Dass Ungarn heute ein Land ist, in dem die Kultur staatlich konzentriert und beaufsichtigt und "national" indoktriniert wird, die Pflichtschulen in einem System personeller Disziplinierung und ideologischer Gleichschaltung der Lehrpläne geführt werden, die Hochschulbildung immer mehr zu einem ständischen Privileg zusammengekürzt wurde, während die Jugend in hellen Scharen wegen Perspektivlosigkeit das Land verlässt und das Stichwort "Staatsbürgerschaft" vor allem ein Thema revanchsistischer Nationalpolitik gegenüber den Nachbarn wurde, sollte ausreichend Hinweis sein, wie sehr der treue Orbán-Gefolgsmann für diesen oder überhaupt irgendeinen Job in der EU qualifiziert sein mag und auch die Frage Nr. 1, jene nach der Loyalität gegenüber den Bürgern und den Werten Europas, erschöpfend beantworten.

Zu obigen Themenkreisen finden Sie ausreichend Hintergründe und Details in den jeweiligen Ressorts und Rubriken, am leichtesten aber über die Stichwortsuche:

 


e die Gesellschaft insgesamt zu geben, nicht Herr Orbán aus seinem “Kreml”...

red.

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