Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1893

József Vészi

Reise um den Antisemitismus

József Vészi (geboren in Arad 1858, gestorben 1940 in Budapest) war von 1877 bis 1893 der Parlamentsreporter dieser Zeitung und ihr Chefredakteur von 1913 bis 1937. Er war Mitbegründer und Herausgeber vieler wichtiger ungarischer Zeitungen, 1905 Leiter der Pressestelle des ungarischen Ministerpräsidenten. Vészi galt als Mentor der jungen ungarischen Literatur, in seiner Berliner Zeit gründete er die legendäre Gruppe "Jung Ungarn". Er folgte Max Falk als Leiter des Journalistenverbandes nach. Seine Übersetzung von Katonas Nationalepos Bánk bán führte zur deutschen Erstaufführung. 1927 wurde Vészi Mitglied des Oberhauses. 1937 musste er aufgrund der ungarischen Judengesetze seine Position als PL-Chefredakteur aufgeben. József Vészi war der Vater der Literatin Margit Vészi, Ferenc Molnárs erster Frau. m.s.

Ausgestattet mit einem Rundreisebillet, dann mit einer guten Tracht von Humor und Wißbegierde – Literaten ziehen es vor, mit solch portofreiem Gepäck zu reisen – , machte sich ein junger Schriftsteller auf den Weg durch Europa, um bei den Gelehrten, Politikern, Künstlern und Dichtern der verschiedensten Völker Erkundigungen einzuholen über die garstige Zeitkrankheit, die sich Antisemitismus nennt. Ihn hatten die einander völlig widersprechenden Definitionen dieses Nebels irre gemacht und ein Sehnen faßte ihn, den Patienten selbst über das Leiden, das ihn quält, auszuhören. Dieser Patient ist aber kein anderer als die zeitgenössische Kultur. Diese galt es mithin, ins Gebet zu nehmen, daß sie offen bekenne, was ihr fehlt: ein strenges, eingehendes Auskundschaften, wie es der Aufstellung der Diagnose vorangehen muß. Und unser Mann machte seine Aufwartungen bei der europäischen Zivilisation. Die ist freilich eine große Dame, die nicht Jedem Rede und Antwort steht. Aber der Schriftsteller, von dem wir sprechen, hatte sich mit einem guten Empfehlungsschreiben versehen: das war sein Esprit, ein scharfer und feiner Geist, – und diesen öffneten sich alle Pforten. So pochte er denn überall an, wo die europäische Zivilisation wohnt: in den Couloirs der Parlamente, in Gelehrtenstuben, in Redaktionskabinetten, in Ateliers, in Lehrsälen, in Pfarrhäusern. Man empfing ihn, da mürrisch, dort liebenswürdig, da gelangweilt, dort genirt: aber man empfing ihn und er konnte seine Aufgabe lösen, er konnte beobachten.

Hermann Bahr – dies der Name des fahrenden Diagnostikers – hat nun seine Wahrnehmungen in einem Buche zusammengefaßt, welches unter dem Titel „Der Antisemitismus. Ein internationales Interview“ in Berlin (Verlag S. Fischer) soeben erschienen ist. Man braucht es mit dem „internationalen Interview“ nicht au pied de la lettre zu nehmen. Der Mann ist kein handwerksmäßiger Reporter, sondern ein Literat von Geist und von einer vielleicht nur zu originellen Begabung. Eine dürre Wiedergabe so und so vieler Äußerungen ist also sein Buch nicht. Er läßt seine Leute nicht nur sprechen, er schildert sie auch wie sie sind, wie sie denken, wie sie sich gehaben. Man macht da manche interessante Bekanntschaft, und Mancher, den man bereits sattsam zu kennen wähnte, erscheint in der Darstellung Hermann Bahr’s in einem neuen Lichte. In diesen leicht hingeworfenen Skizzen, die durch ihren flotten Plauderton bestechen, erkennt man die schaffende Hand eines begabten Künstlers, der oft mit einem übermütig scheinenden Striche, mit einer wie in der Laune gezogenen Linie treffender als der gediegenste Photograph zu charakterisieren versteht.

Mit solchen Vorsätzen und Talenten zog Bahr in die Welt, um den Antisemitismus in seinem innersten Wesen kennen zu lernen. Eine große Entdeckung zu machen, so hoch reichte sein Zweck nicht. Denn er kennt die reiche Literatur über den Antisemitismus, er kennt sie, ob er auch ihren Wert nicht zu hoch taxiert. In dieser Literatur fand er viele Bücher, darunter die einen gescheidt, die anderen dumm. Aber seiner Ansicht nach – und wahrhaftig, er hat so Unrecht nicht – trifft keines der Bücher das Richtige. „Sie reden immer an der Sache vorbei.“ Da war es denn wirklich dankenswerth, einmal auch das zu ermitteln, wie nicht die Bücher, sondern die Gebildeten verschiedener Völker über die Sache denken. Für Bahr selbst hat das antisemitische Problem kein Geheimnis mehr. Er wenigstens glaubt, die Sache ergründet zu haben. In Ermangelung einer großen Idee, welche die Wonnen der Begeisterung erwecken könnte, will die Masse im Gefühl des Hasses schwelgen. Um diesen Haß und um die starken Anstrengungen, die er gewährt, handelt es sich beim Antisemitismus. Die verwüsteten Nerven heischen künstliche Reizung. Die Reichen halten sich an Morphium, der Morphinismus der kleinen Leute aber ist der Antisemitismus. So denkt Hermann Bahr über die Sache. Nun ist ja all das recht hübsch gedacht; auch ist am Ende etwas Wahrheit darin. Ob auch die ganze? Darüber sollen zunächst die Interviewten des Buches selbst befragt werden.

Die Ersten, an die der Verfasser sich wandte, waren die Deutschen. Das Material, das er sich bei ihnen holte, ist interessant, aber zum überwiegenden Theile unerbaulich. Von zehn Deutschen sind sieben im Grunde ihres Herzens Antisemiten, nur wagen die Wenigsten, dies offen zur Schau zu tragen, die Einen aus Klugheit, die Anderen, weil sie sich ihrer selbst, die Dritten, weil sie sich ihrer Bundesgenossen schämen. Der verlotterte Wicht, der sich Ahlwardt nennt, hat manches Verhehlen sonst gut antisemitischer Gesinnungen auf dem Gewissen. Mit solch infamen Lumpenpack will man denn doch nicht in einer Gesellschaft sich zeigen.

Und das bewegt so Manchen in Deutschland dazu, sich lieber den Verdacht der Judenfreundlichkeit gefallen zu lassen, als das Schicksal, mit Ahlwardt in einen Topf geworfen zu werden. Aber zu Hause, in der geruhsamen Stille des eigenen Heims, da legt man die Maske ab; da läßt man sich gehen, macht kein Hehl aus seinen Empfindungen, plaudert sich den Groll über die Juden so wohlig vom Herzen, den Groll über die jüdische Unmoralität, über das jüdische Protzenthum, über die jüdische Aufdringlichkeit, kurz über all die Dinge, die man dort draußen verbeißen muß – aus Furcht, von den Kloakenmännern á la Ahlwardt brüderlich umarmt und dabei erheblich beschmutzt zu werden. Da ist zum Beispiel Friedrich Spielhagen, –  jawohl, der große, der berühmte Spielhagen, der Roman-Spielhagen. Auch diese deutsche Eiche wurzelt im Sumpfboden des Antisemitismus. Aber freilich ist dieser Antisemitismus ein gesitteter, ein wissenschaftlich motivierter, wie es sich für einen so vornehmen Dichter geziemt, der selbstverständlich mit dem ordinären Wirthshaus-Antisemitismus nichts gemein haben kann. Spielhagen findet, der Judenhaß seine „eine ökonomische Frage, die mithin eine ökonomische Lösung finden müsse“. Sie Juden seien nämlich schändliche Wucherer, wenigstens zu Hause bei ihm, im Thüringischen. Daß es aber auch außerhalb Thüringens einen Antisemitismus gibt, u.A. in Ländern, wo die Juden keinen Wucher treiben, das übersieht Friedrich Spielhagen.

Und dann, warum wendet sich der Antisemitismus auch gegen die Armen unter den Juden, die gar nicht in der Lage sind, zu wuchern? Gesetzt, jeder fünfte Jude wäre ein Wucherer; eine höhere Verhältniszahl wird wohl selbst Ahlwardt nicht annehmen. Wohlan, was will man dann von jenen vier Juden unter fünfen, die unbefleckt sind von der Sünde des Wuchers? Warum vergilt man an fünf Fünfttheilen einer Masse das, was ein Fünfttheil derselben verbrochen hat? Ob der Wucher nicht auch von Christen betrieben wird, das wollen wir Herrn Spielhagen gar nicht fragen. Hermann Bahr hat es versucht, diese Frage an ihn zu richten, aber es ist nur eine verlegene Ausrede dabei herausgekommen. Friedrich Spielhagen hat es sich eben in den Kopf gesetzt, daß die wirtschaftliche Noth die Wurzel des Antisemitismus sei. Ja aber reicht denn sein Blick nicht von Thüringen nach Rußland? Das Zarenreich ist doch wohl das klassische Land des praktischen Antisemitismus. Und ist nicht gerade dort das jüdische Element von beständigen Entbehrungen, vom düstersten materiellen Elend heimgesucht, von einem Elend, mit dem verglichen das Loos der übrigen, wahrlich nur zu viel darbenden Bevölkerung, als die üppigste Schwelgerei betrachtet werden muß? Freilich, auch Spielhagen fühlt, daß es mit seinen Gründen nicht recht klappt, und er mag speziell die Empfindung haben, daß die wirtschaftliche Noth z.B. den Antisemitismus der wohlhabenden Bourgeoisie denn doch nicht gut erkläre.

Da behilft er sich denn – man bewundere doch die Findigkeit des Dichters – mit dem Hinweise „auf die höhere Tüchtigkeit und den größeren Fleiß“ der jüdischen Studenten; das wecke die Eifersucht der Christen gegen die besser gerüßteten Konkurrenten. Ob das zutrifft, wollen wir nicht untersuchen: rathsam will es uns jedoch am allerwenigsten vom antisemitischen Standpunkte scheinen, der jüdischen Race, die man ja als eine inferiore behandelt, eine so namhafte geistige und sittliche Überlegenheit zuzuerkennen. Indessen, vorausgesetzt, daß diese Superiorität bestehe: was folgt daraus? Alles, nur nicht das, was Spielhagen daraus stillschweigend zu folgern scheint. Wenn die Juden eine intellektuell und moralisch wertvollere Potenz darstellen, so muß diese Potenz im Interesse der Höherzüchtung der Menschheit eben gehegt und gefördert, nicht aber verfolgt und unterdrückt werden.

Auch Häckel kommt im Bahr’schen Buch zu Worte. Der Interviewer hat an dem großen deutschen Naturforscher ein bißchen gekratzt und richtig ist dabei der Antisemit zum Vorschein gekommen. Häckel schickt vorsichtigerweise voraus, daß er viele jüdische Freunde habe, die er innig verehre und schätze; auch habe er, wie jeder anständige Mensch, vor Ahlwardt einen Ekel. Aber es begreife sich, „daß man den Juden ihre fremde Art nehmen, sie zu deutschen Gewohnheiten und Sitten erziehen wolle“. Der gelehrte Professor fordert daher  „die völlige Verschmelzung der Juden“; wer national fühle und denke, müsse das von ihnen verlangen. Bei allem Respekt vor dem wissenschaftlichen Ruhm Häckel’s fragen wir aber nun: wie in aller Welt sollen es die Juden anstellen, sich mit den Deutschen zu verschmelzen, wenn sie von den Letzteren in der denkbar unsanftesten Weise zurückgestoßen werden? Der Herr Professor ist einer der aufgeklärtesten Geister in Deutschland und er bekennt sich gleichwohl ganz offen zu dem, was er „den berechtigten Sinn des Antisemitismus“ nennt. Dieses „berechtigte Sinn“ hat aber den absurden Inhalt, daß er den Juden eine Aufgabe zumuthet, die sie nicht lösen können, weil ihnen der Antisemitismus im Wege steht.

Wenn man einem Menschen, dessen Füße gefesselt sind, den Auftrag gibt, sich vorwärts zu bewegen, so muß man doch wohl damit anfangen, ihn seiner Ketten zu entledigen. Aber seine Ketten nicht lösen und ihn dann strafen, weil er nicht von der Stelle gekommen ist, das ist schlimmer als verrückt, das ist barbarisch. Eine solche Barbarei ist es, von jenem „berechtigten Sinne des Antisemitismus“ zu sprechen. Der Antisemitismus hat gar keinen Sinn, keinen berechtigten und keinen unberechtigten, ja er hat jenen berechtigten, den Häckel in ihn hineinlegt, viel weniger als irgend einen anderen unberechtigten. Die Juden zu erschlagen, blos weil sie Juden sind, darin ist wenigstens so viel Verstand, wie in einem rohen und gemeinen Naturtriebe. Aber den Antisemitismus, indem man in ihm einen „berechtigten Sinn“ entdeckt, gutheißen und gleichzeitig die Verschmelzung der Juden fordern, also die Juden extra muros bannen und sie gleichzeitig verschelten, weil sie ihre „fremde Art“ bewahren: darin ist gar kein Verstand, das ist der helle Wahnsinn. Herr Professor Häckel ist also Antisemit, er ist es trotz seiner jüdischen Freunde, die er verehrt, und trotz Ahlwardt, den er verachtet.

Ja, er ist es, gerade weil er sich seiner Freundschaft mit vielen Juden berühmt. Haben diese jüdischen Freunde jene „fremde Art“, deren Ausrottung den berechtigten Inhalt des Antisemitismus bilden soll? Sicherlich haben sie dieselbe nicht; wie hätten sie sonst die Freundschaft Häckel’s erwerben können? Wohlan, Professor Häckel ersieht daraus, daß jene „fremde Art“ etwas Abstreitbares, den Juden nicht Wesentliches ist; sie zu verlieren, wir möchten sagen: die Routine des sozialen Lebens. Man rezipire also die Juden gesellschaftlich, dann verflüchtigt von selbst die Manier, die man an ihnen so unsympathisch findet. Was aber den verzweifelten Versuch Häckel’s, den Ahlwardtismus von sich abzuschütteln, betrifft, so bedeutet er in unseren Augen eine ganz vergebliche Anstrengung. Ahlwardt ist das letzte Wort in dem Satze, in welchem das, was nach Häckel den berechtigten Sinn des Antisemitismus bildet, als das erste Wort figurirt. Nun ist es allerdings einigermaßen peinlich, wenn eine Phrase, die so sittsam angefangen, wie bei Häckel, so bestialisch-gemein ausklingt wie bei Ahlwardt; aber wir können nicht helfen: was logisch zusammengehört, ist durch keinerlei Sophistik von einander zu trennen. Ahlwardt ist der zu Ende gedachte Häckel; dieser riecht nach Katheder, jener nach Fusel: Antisemiten sind sie Beide. Und wie heftig sich auch das vornehmgelehrte A gegen die Zusammengehörigkeit mit dem schäbigen und übelriechenden B aufbäumt: sie sind doch beide Buchstaben e i n e s Alphabets. Es nützt nichts, daß die wissenschaftlich berühmten oder in vornehmer Stellung befindlichen Antisemiten das Band der Gemeinschaft mit dem extremen Flügel ihres Lagers entzweischneiden wollen: der Ahlwardt gehört mit dazu, ja er ist durch die Wogen der Volksthümlichkeit getragene Führer des ganzen Heeres und wer den Antisemitismus einen „berechtigten Sinn“ zuerkennt, hat kein Recht, aber auch keine vernünftige Veranlassung, sich dieses Führers zu schämen.

Ein anderer deutscher Professor, der Antisemit ist, aber sich schämt, sich offen als solchen zu bekennen, ist der „christlich-soziale“ Adolf Wagner. Die Menge – man begreift, daß ein von der Aristokratie begönnerter Professor nicht mit ihr verwechselt werden will – schlägt die Juden, meint aber den Kapitalismus: das ist der Befund Wagner’s; und er findet weiter, daß den Juden eigentlich recht geschehe, denn wozu identifizieren sie sich mit dem Kapitalismus? Indessen wenn die Juden allenthalben auf dem Erdenrunde für die Freiheit des Individuums streiten, so mögen immerhin Lassalle und Marx als Ausnahmen hingehen, die nur die Regel bestätigen. Aber heißt denn für die Freiheit des Individuums streiten zugleich streiten für den Kapitalismus? Die „christlich-soziale“ Gemeinde freilich haßt die individuelle Freiheit u n d den Kapitalismus; den Haß gegen jene glaubt sie ihrer c h r i s t l i c h e n Eigenschaft, den Haß gegen diesen ihrem s o z i a l i s t i s c h e m Charakter schuldig zu sein. Aber weil die Jünger des Professor’s Wagner die Freiheit des Individuums mit dem Kapitalismus verquicken, sollen die Juden sich von dem Kampfplatze zurückziehen, auf den sie gedrängt werden durch ihre edelsten Gefühle und durch ihr schönstes Pflichtgefühl?

Indessen, Professor Wagner kennt neben dem vulgären Judenhasse – und vielleicht über diesem – auch noch eine andere Spezies desselben: „den ästhetischen Antisemitismus“. Er verabscheut die Aufdringlichkeit der Juden, ihre Protzenhaftigkeit, ihren Mangel an guter Lebensart und nervös machen ihn ganz besonders die Jüdinnen mit ihrem überreichen Putz und ihrer überladenen Geschmacklosigkeit. Das Alles stört sein ästhetisches Behagen und sein Unmuth hierüber macht ihn zum Antisemit. Nun wollen wir uns diesen „ästhetischen Judenhaß“ ein bißchen näher besehen. Gesetzt, man fände nur bei Juden Aufdringlichkeit, Mangel an savoir vivre; und nur bei den Jüdinnen geschmacklos überladenen Putz. Daraus folgt, daß man die Aufdringlichkeit, das Protzenthum, die Ungezogenheit, die Geschmacklosigkeit bekämpfen soll. Will Professor Wagner diese Unarten befehden, so wird er zweifellos eine große Anzahl jüdischer Streitgenossen finden. Aber wie will er seinem ästhetischen Bedürfnisse dadurch zur Befriedigung verhelfen, daß er statt der Ungezogenheit dieser und jener Juden die Juden ü b e r h a u p t verfolgt.

Eine wahre Erquickung ist jedem Edelfühlenden und Vernünftigdenkenden das zu lesen, was Theodor Mommsen über den Antisemitismus gesagt hat. Es ist dies der schöne, hehre, hell und warm strahlende Geist der Humanität, der die folgende Errungenschaft deutschen Denkens und Empfindens bildet. „Was man überhaupt in dieser Sache sagen kann – sprach Mommsen –, das sind doch immer nur Gründe, logische und sittliche Argumente. Darauf hört doch kein Antisemit. Die hören nur auf den eigenen Haß und den eigenen Neid, auf die schändlichen Instinkte. Alles Andere ist ihnen gleich. Gegen Vernunft, Recht und Sitte sind sie taub. Man kann nicht auf sie wirken. Was soll man auch Einem sagen, der dem „Rektor aller Deutschen“ folgt? Der ist nicht mehr zu retten. Gegen den Pöbel gibt es keinen Schutz – ob es nun der Pöbel auf der Straße oder der Pöbel im Salon ist, das macht keinen Unterschied: Kanaille bleibt Kanaille, und der Antisemitismus ist die Gesinnung der Kanaille. Er ist wie eine schauerliche Epidemie, wie die Cholera – man kann ihn weder erklären, noch heilen. Man muß geduldig warten, bis sich das Gift von selber auslobt und seine Kraft verliert. Und das kann doch jetzt nicht mehr so fern sein. Endlich muß sich die Pest ja doch einmal erschöpfen, und über Ahlwardt hinaus, noch weiter kann sie doch nicht mehr steigen.

Vielleicht kommt jetzt langsam die Wendung zur allmählichen Besserung, Befreiung und Gesundung. Vielleicht verschwindet der Wahn, der so viele Gemüther bethört und unsere ganze Kultur um hundert Jahre zurückgeworfen hat. Aber alle Gründe und die besten Argumente helfen da nichts. Wer Gründen und Argumenten zuträglich ist, der kann ja überhaupt kein Antisemit sein. Wer aber nur seinem wilden Hasse gegen Bildung, Freiheit und Menschlichkeit folgt, den werden Beweise nicht belehren. Der Antisemitismus ist nicht zu w i d e r l e g e n, wie keine Krankheit zu widerlegen ist. Man muß geduldig warten, bis die im Grunde doch gesunde Natur des Volkes sich von selber aufrafft und den faulen Stoff aus sich wirft.“

Von gleichem Adel der Gesinnungen ist auch die Äußerung des Prinzen Carolath-Schönaich eingegeben. Dagegen blickt Bebel, der Sozialistenführer, mit unverhehlbarem Behagen auf den Antisemitismus. Ihm ist es recht, wenn die Bestandtheile der jetzigen Gesellschaft einander in den Haaren liegen. Je verheerender dieses Ringen, umso besser für die Sozialrevolution; die letztere wird dann umso weniger zu demoliren haben. Auch hat er ja vollkommen Recht. Aber sollte nicht gerade die Auffassung Bebel’s all Denen die Augen öffnen, die bei der drohenden Umwälzung etwas zu verlieren haben?

Unter allen Definitionen des Antisemitismus gibt es unseres Wissens nur eine einzige, die annähernd das Richtige trifft; und die ist bezeichnenderweise eine negative. Sie stammt von dem trefflichen Anatole Leroy-Beaulieu, der in seinem Buch „Israel chez kes peuples“ ganz zutreffend ausführt, wie der Judenhaß in Wahrheit nichts von all dem sei, als was er von seinen eigenen Bekennern bezeichnet zu werden pflegt. Er sei keine ökonomische Frage, denn am ärgsten drangsaliert werden ja gerade die ärmsten Juden, die russischen. Auch eine religiöse Frage sei er nicht, denn leidenschaftliche Antisemiten finden sich auch unter den Arbeitern und Freidenkern, die das Glaubensmoment gar keiner Beachtung würdigen. Und endlich sei der Judenhaß auch keine nationale Frage, wie dies aus dem Beispiele der Araber hervorgeht, welche, wiewohl selbst Semiten, die wüthendsten Antisemiten sind. Das trifft nun – wie gesagt – vollkommen zu. Indessen, da wirft sich erst recht die Frage auf: Wenn der Antisemitismus keine religiöse, keine ökonomische und keine Racenfrage ist, was ist er dann sonst?

Nicht zufrieden mit den Aufschlüssen, die er in Deutschland empfangen, wandte sich Hermann Bahr in der Folge an die Franzosen. Da klopfte er wieder, wie im Deutschen Reiche, bei allerlei Persönlichkeiten an. Senatoren, Deputirte, Akademiker, Dichter, Revolutionäre und Publizisten, er überfiel sie mit der sonderbaren Frage: „Was halten Sie vom Antisemitismus?“ Und sie standen ihm Rede und enthüllten ihm ihr innerstes Denken über dieses heikle Thema, die Meisten ohne viel diplomatische Verhehlungskünste, mit der Wahrheit herausplatzend, in naiver Offenmüthigkeit, wie Überrumpelte, die keine Zeit fanden, ihre Worte vorerst durch die Vorsicht zensuriren zu lassen. Da kam es dann freilich bisweilen zu ganz interessanten Geständnissen, die unser Problem in gar merkwürdiger Weise beleuchten. So entpuppte sich Alphonse Daudet – sicherlich Einer von Denen, deren Charakter dergleichen auszuschließen schien – gleichfalls als ein halber Antisemit. Ganz ist er es nicht, beileibe. Ja, den Drumont, der die Dinge bekanntlich über die Maßen outrirt, den will er gar nicht verstehen, ganz so, wie der Herr Professor Häckel den Ahlwardt von sich abschütteln möchte.

Und überdies hat Daudet auch das mit dem berühmten deutschen Naturforscher gemein, daß er ebenfalls mit zahlreichen Juden befreundet ist und sich dieser Freundschaften zu berühmen liebt. Das Verfahren ist ja äußerst bequem und zudem von einer ganz vortrefflichen schlauen Leutseligkeit. Man hält sich, um denn doch nicht mit der gemeinen Masse verwechselt zu werden, etliche Schutzjuden, nämlich jüdische Freunde, auf die man sich immer berufen kann, wenn man es angezeigt findet, sich vor der Gemeinschaft mit dem brutalen und übelriechenden Antisemitismus der Gasse und der Gosse zu schützen. Daudet verfährt darin genau in derselben Weise, wie Häckel. Als ob die Beiden sich verabredet hätten. Nur ist Daudet kein deutscher Professor, sondern ein französischer Dichter. Und folglich hütet er sich wohl, über das Wesen des Antisemitismus zu philosophieren, geschweige denn „den berechtigten Sinn“ des letzteren zu definiren. Dazu fehlt ihm einfach der deutsche Denkerernst. Er empfindet es lästig, daß „die Juden zu große Geschäfte machen und die ganze Politik führen“. Und darum wurde er „so vaguement Antisemit“.

Darum und – ja richtig – auch weil auf dem Vogesenplatze in Paris alle Häuser – bis auf das eine, das er bewohnt – bereits den Juden gehören. Man wird doch zugeben, das dies mehr ist, als ein gesitteter Mensch vertragen kann. Dem Drumont hat Daudet immer gesagt, „daß es ganz schändlich und abscheulich sei, Einen um seines Glaubens willen zu hassen, zu schmähen und zu verfolgen“. Aber auf einem Platze zu wohnen, wo es – bis auf einen Einzigen – lauter jüdische Hausherren gibt, das stellt die Propaganda des Teufelskerls Drumont gleich in ein anderes Licht. Man wird es sonach plausibel finden, daß Daudet „eine gewisse leichte, unbestimmte Abneigung gegen die Juden“ nicht verhehlen kann, er, der doch versichert, daß er „die Hetze gegen die Juden verdammt und die Gefahren des Antisemitismus für die Ordnung und Freiheit erkennt“. O, das ist ein sehr werthvolles Geständniß, an dem man, wofern es Einem ernst ist um das Bemühen, den Kern des antisemitischen Problems zu erfassen, nicht achtlos vorübergehen soll. Daudet sieht also das Schmachvolle der Judenhetze, seine Vernunft erkennt deren Gefährlichkeit; allein ob auch sein Empfinden und sein Denken sich dawider auflehne, er vermag seine „leichte, unbestimmte Abneigung“ nicht zu überwinden. Er kämpft dagegen, er schämt sich wohl auch dessen, aber er kann nichts dafür: „c’est plus fort que lui“. Und das ist Daudet, ein Geistesriese unserer Zeit! Was sollen dann die rohen Massen thun, die in ihren Trieben durch keine Bildung gezügelt und die der Nachwelt nicht für jede Regung ihrer Seele verantwortlich sind! Jene wilden, wildgährenden Massen, über welche Daudet sich zu erheben wähnt, indem er seine Vernunft über den Judenhaß aburtheilen läßt, während er selbst in seinem Herzensgrunde diesen Haß als verdünnte Abneigungssubstanz birgt. Ach, wahrlich, es besteht nur ein quantitativer Unterschied zwischen der Gemeinheit jenes vulgus profanum und der Aversion, die dieser Dichter, ohne zu erröthen, eingesteht…

Auch Cluseret, der Kommunisten-General, ist ein Antisemit, der mit seinen jüdischen Freunden großthut. Für ihn ist die antisemitische Bewegung eine Erscheinungsform der sozialen Revolution. Und als Sozialrevolutionär applaudiert er selbstverständlich der antisemitischen Bewegung. Er haßt nicht die I s r a e l i t e n, Gott bewahre; nur gegen die J u d e n richtet sich sein Haß. Denn er hat „gute alte Freunde, die Israeliten sind, ohne Juden zu sein“; und „er kennt eine Menge Christen, die sehr schlimme Juden sind“. Als Jude gilt ihm nämlich nur, wer von Betruge lebt. Hier trifft sich Cluseret mit Professor Adolf Wagner, wie zuvor Daudet sich mit Häckel begegnet hatte. Dem Professor Wagner sind jüdisches Protzenthum und jüdische Aufdringlichkeit zuwider, aber er bekämpft nicht das Protzenthum und die Aufdringlichkeit, sondern die Juden überhaupt, also auch die Nichtprotzen und die Unaufdringlichen unter ihnen. Cluseret hinwieder hat gegen die Israeliten nichts einzuwenden, aber Jude ist ihm jeder, der vom Betrug lebt. Merkt man die seine und wohlwollende Distinktion? Zum Teufel mit diesen blöden Unterscheidungen, die eigentlich perfide Verwechslungen sind! Man predige den Vernichtungskrieg gegen den Betrug und wahrlich nicht die wenigsten und nicht die untüchtigsten Streiter gegen dieses Laster werden aus den Reihen der Bekenner des jüdischen Glaubens hervorgehen! Aber den Begriff des Betruges mit dem Judenthum identifiziren, heißt das nicht die Instinkte des Pöbels auf eine Fährte leiten, die zu Allem, nur nicht zur Gerechtigkeit, noch zur Wahrheit führt? Ist das Wort „Betrüger“ nicht deutlich genug, um den sittlichen Zorn zu erregen? Muß es, um dem Volke verständlich zu klingen, erst in „Jude“ verwandelt werden? Und wie will man es dem Pöbel plausibel machen, daß zwar nicht jeder Jude ein Betrüger, wohl aber jeder Betrüger ein Jude sei?

Henri Rochefort freilich ist Einer, der uns mit Cluseret noch versöhnen könnte. Weit revolutionärrischer als der Kommunisten-General, ist dieser alberne Blagneur, der sich so lange gerühmt hat, wann immer durch einen Wink seiner Augen zweimalhunderttausend Menschen in Paris als ein revolutionäres Heer mobilisiren zu können, bis er eines Tages, als es darauf ankam, diese Drohung zu Gunsten Boulanger’s zu realisiren, auf und davon ging aus Furcht, von seinem Parisern blau geprügelt zu werden. Der Löwe, dessen Gebrüll einst unheildrohend durch die Bauen des zweiten Empire gehallt, er entpuppte sich, da es galt, die Republik im Solde des brav’ générale zu zerfleischen, als „Zettel, der Weber“, als ein furchtsamer Geselle, dem vor seiner eigenen Furchtbarkeit bange wird und der, dem Echo seines eigenen Geschreis entrinnend, sich erst beruhigte, als bereits die Fluthen des Meeres ihn von dem Orte seines Schreckens trennte, als er im britischen Lande einen behaglich-sicheren Unterschlupf fand. Dort hüllt er sich wieder in sein schäbiges Löwenfell und brüllt nun im ohrenzerreißender Weise gegen die Juden, die er als eine furchtsame Race kennt und denen er mithin noch Angst einzuflößen hofft. Vergebliche Strapazen der Stimmbänder! Die Juden, man möge über ihre Courage wie immer denken, sind doch mindestens eine gescheidte Race. Und wenn auch die Löwenjagd nicht unter ihre Passionen zählt, vor dem kläglicben Webergesellen, der sich mit Boulanger zitternd hinter die Kittel der Madame Bonnemain verkrochen hat, fürchten sie nicht.

Zur Ehre der Franzosen sei übrigens gesagt, daß die antisemitsche Krankheit in diesem Volke keinen günstigen Boden findet. Jules Simon, Francis Magnard, Anatol Leroy-Beaulieu, gewiß unbefangene und kompetente Beurtheiler des französischen Volksgemüthes, stimmen in der entschiedensten Verurtheilung der Judenhetze und auch in der Ansicht überein, daß der Antisemitismus, wiewohl nur eine Ausdrucksform der Sozialrevolution, gar nicht das Talent habe, sich in der Republik einen Anhang zu machen. Jules Simon urtheilt hierüber wie folgt: „Den Antisemitismus machen erstens die Katholiken, welche alten ererbten Instinkten gegen die Juden folgen; zweitens die Revolutionäre, die der Haß gegen jede Ordnung führt; hinter ihnen die große Masse aller Unzufriedenen, die jede neue Phase bethört. Kein Wunder, daß das großen Lärm auf den Straßen gibt – aber von einer ernstlichen Bewegung kann man doch eigentlich kaum reden. Das wirkliche Volk hört nicht auf sie und kümmert sich um die Hetze nicht. E s  h a t  k e i n e  A n t i p a t h i e n  g e g e n  d i e  J u d e n  …“

A. Leroy-Beaulieu spricht noch deutlicher: „Es ist selbstverständlich, daß ich ein Gegner des Antisemitismus bin. Ich bin sein Gegner als Christ und Franzose. Als Christ kann ich eine Lehre nicht dulden, welche Haß verkündet und Zwietracht unter die Menschen bringt. Als Franzose kann ich unsere alte Tradition der Gerechtigkeit und Freiheit nicht verleugnen, die uns unsere geschichtliche Stellung in Europa gibt. Der Antisemitismus ist gegen den Geist unserer Race. Er ist uns aus der Fremde gekommen, über den Rhein her, und wird bei uns nicht heimisch werden. Wir werden uns niemals in eine politische Lehre finden, die eine wüste Mischung von reaktionären Instinkten und revolutionären Begierden ist.“ Magnard’s Urtheil endlich gipfelt in diesen Sätzen: „Hier kennen wir den Juden als Wucherer nicht. Und gerade deswegen glaube ich, daß die antisemitische Hetze keine Zukunft hat, sondern nur die Geschäfte der Sozialisten führt. Das scheint mir ihre Gefahr. Und darum würde ich gegen sie immer kämpfen; darum würde ich gegen sie, selbst wenn sie, was ich in allen Punkten leugne, im Recht mit ihren Thesen gegen die Juden wäre, dennoch beharrlich und ohne Rücksicht kämpfen, weil sie mir ganz andere Dinge, als die Juden, zu gefährden scheint: alle Bedingungen des modernen Staates und die ganze Form unserer politischen Entwicklung von heute. Übrigens ist ihre erste Kraft und Heftigkeit schon wieder erschöpft. Das war vor drei, vier Jahren, daß sie wirklich einige Zeit ernstliche Sorgen erweckte. Jetzt sinkt ihre Macht, ihre Geltung schon beträchtlich, und sie wird wohl bald wie ein wüster hässlicher Traum entschwunden sein.“

Hermann Bahr hat sich in seiner Enquête auch an einige Engländer, wie Balfour, Dille und Labouchers gewendet. Aber diese schrieben oder sprachen sehr verwundert darüber, daß man ihnen mit einer Frage über den Antisemitismus kommen konnte. Auch ihren kurzathmigen, verdutzten Äußerungen hallt gleichsam die Frage heraus: „Antisemitismus?“ Was ist das eigentlich? Bei uns in England kennen wir ja das Ding gar nicht!“

Zorilla aber, der Chef der republikanischen Partei in Spanien, begreift den Antisemitismus, aber er verabscheut ihn. In Spanien freilich gebe es keinen Antisemitismus, weil dort keine Juden seien – leider! „Daß es überhaupt noch möglich ist, daß man sich nicht schämt, antisemitisch zu empfinden, und daß man mit einem Striche die ganze Arbeit der Vergangenheit und alle Errungenschaften des Geistes tilgt – man möchte an der Menschheit verzweifeln. Ich finde es absurd, erst Gründe gegen den Antisemitismus zu suchen. Er richtet sich selbst. Wer überhaupt fähig ist, seiner wüsten Hetze zu folgen, muß krank, muß geistig entartet sein und hat jedes Recht verwirkt, in ernsten Fragen vernommen zu werden.“

Jawohl, das ist es: eine moralische und zugleich eine geistige Krankheit ist der Antisemitismus, ein schaurig-ekelhaftes Gewebe, worin Wahnsinn die Kette und Gemeinheit der Einschlag ist. Die Menschheit steht vor schweren Krisen, vor erschütternden Umwälzungen. Die Völker, welche diese große Prüfung siegreich überdauern sollen, müssen von einer strotzenden Fülle an Lebenskraft, von einer zuverlässigen Konstitution ihres Organismus sein. Und das antisemitische Gift scheint uns in der Völkerpathologie eine ähnliche Rolle zu spielen, wie das Koch’sche Tuberkulin: die Rolle eines diagnostischen Mittels. Die Nationen, die den ihnen eingeflössten Antisemitismus in ihrem Körper bewahren, sind siech; die anderen, die in bald abstoßen, sind von einer gewissen Rüstigkeit, die sie wider das drohende Unheil wappnet. Wir in Ungarn haben die antisemitische Krankheit gottlob rasch und leicht überwunden. Ein einziger, allerdings vehementer Fieberanfall, und dann kam die frohe Genesung. Heute denken wir an die antisemitische Gefahr nur mehr wie an ein quälendes Traumgesicht zurück, das uns flüchtig gepeinigt. Möge diese hässliche Phantasmagorie für immer von unserem Volke gewichen sein!