Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1893

Feuilleton, Autor unbekannt

3 ½ Monate Fabrikarbeiterin

Eine praktische Studie von Dr. Minna Wettstein-Adelt

Jahraus, jahrein wird gar Vieles über die Frauenfrage geschrieben. Man nimmt für und gegen die Frauenemanzipation Stellung, man ereifert sich für das Stimmrecht der Frauen, für die Zulassung der Mädchen zu Gymnasial- und Universitätsstudien, oder man bekämpft diese Bestrebungen mit allen Mitteln, aber man denkt bei alldem mehrminder immer nur daran, die Stellung der Frauen aus den besseren Kreisen zu verbessern. Daß die Frauenfrage noch eine andere, höchstwichtige Seite hat, daß es gilt, das Loos der Arbeiterinnen, der Frauen der untersten Volksschichten zu verbessern, daran denken gar Wenige. Eine dieser Wenigen ist die Autorin des abgenannten Werkes, die es sich zur Aufgabe gestellt hat, die Theilname der gebildeten Welt auf jene Unglücklichen zu lenken. Dieses Werkchen ist aus der Begeisterung einer von echter Humanität erfüllten edlen Frauenseele entsprungen und enthält so ivel Beherzigenswerthes, daß es die Beachtung aller Menschenfreunde verdient.

Frau Wettstein ist, wie sie in ihrer Vorrede erklärt, eine eifrige Kämpferin für das Frauenrecht, allein sie erachtet vorderhand die Arbeiterinnenfrage für viel wichtiger, als die Frage der Frauenstudien, des Frauenstimmrechtes ec. So lange tausend und aber tausend Frauen in Elend, Knechtschaft und Verrohung schmachten, muß erst diesen geholfen werden, ehe man die verhältnismäßig noch gut dastehenden Oberen unterstützt. Sie will dem Elend ihrer Mitschwestern steuern, und zu diesem Behufe entschließt sie sich mit bewunderungswerther Aufopferung in die Verhältnisse der Arbeiterinen an Ort und Stelle Einsicht zu nehmen. Die an Wohlstand gewöhnte Frau aus den besseren Kreisen läßt sich von ihren edlen Gefühlen bestimmen, ihr Heim zu verlassen, sich von ihrem Kinde zu trennen, und geht - weder harte Arbeit Arbeit und Entbehrungen, noch Erniedrigungen scheuend – als einfache Arbeiterin verkleidet in verschiedene Fabriken, strickt, webt, spinnt, näht dort Monate hindruch, - denn nur durch persönliche Erfahrung kann sie Alles genau kennen lernen. Und in diesem Unternehmen wird sie von ihrem Gatten (doctor juris Oskar Wettstein, dem das Buch gewidmet ist) unterstützt, der ihr in gewisser Entfernung überallhin folgt, der ihr Muth zuspricht, wenn ihre Kräfte zu versagen drohen, und ihr in Momenten der Gefahr zu Hilfe eilt. Fürwahr ein erhebendes Beispiel edler Gesinnungen in unserem egoistischen Zeitalter!

Frau Wettstein betont, daß sie nicht in der Lage ist, über die Verhältnisse der Arbeiterinen im Allgemeinen, ja nicht einmal über die der deutschen Arbeiterinen zu sprechen, da sie nur in einigen Fabriken in Sachsen (durch einflußreiche Verbindungen) Einlaß erlangte; in Berlin und Umgebung konnte sie trotz aller Bemühungen von der Direktion der fiskalischen Betriebe und vom Kriegsministerium nicht die Erlaubnis erlangen, in eine Gewehr- und Pulverfabrik einzutreten. Sollte es dort irgend etwas in der Behandlung der Arbeiterinen zu verheimlichen geben? Fragt sie.

Aber wenn ihre Erfahrungen auch nur in engem Kreise gesammelt werden, sind sie doch höchst interessant, belehrend und leider vor Allem – betrübend. Nichts entgeht ihrer Aufmerksamkeit, mit gleichem Interesse wendet sie sich den sittlichen Zuständen, wie den materiellen Verhältnissen zu, sie beobachtet ebenso scharf das eheliche Leben, wie die Wohnungsverhältnisse, die Vergnügungen, wie die religiösen Gesinnungen ec. Ihrer jeweiligen Gefährtinnen.

Sie schickt voraus, daß die Arbeiterinnen im Allgemeinen umso roher, unsittlicher waren, je gröber und schwerer die Arbeit war: die Mädchen in den Handschuh- und Strumpffabriken waren im Benehmen grundverschieden von denjenigen, die Maschinenarbeit verrichteten. Die Krone der Verkörperung aller sittlichen Rohheit fand sie in den Spinnereien. Sie betrachtet es als ein Glück, daß sie zuerst in eine Chemnitzer Strumpffabrik kam, denn hätte sie gleich zu Anfang gewußt, was sie späterhin an Gemeinheit würde in den Kauf nehmen müssen, wer weiß, ob sie die Flinte nicht doch in’s Korn geworfen hätte.

Aber die leichtere Arbeit wird leider auch viel schlechter bezahlt, und so leben gerade die Arbeiterinen der Strumpffabriken in den schlechtesten Verhältnissen. Sie evrdienen da kaum 3-6 Mark wöchentlich, während die Spinnerinen 10, 12, ja manchmal sogar 18 Mark verdienen. In allen Fabriken ist die Akkordarbeit eingeführt, und da kommt es oft vor, daß die Arbeiterinen auf mehrere Tage entlassen werden, wenn nämlich die Fabrik nicht genug Bestellungen erhält. Da sind die Mädchen nun dem größten Elend ausgesetzt, sie können ihre Miethe, ihr Kostgeld nicht bezahlen, und kommen aus der Borgerei, dem Schuldenmachen nicht heraus. Hierüber und über manche andere Missbräuche herrscht große Erbitterung, zeitweise sogar Rebellion. So oft aber Frau Wettstein auch den Wüthenden zu streiken vorschlug, es war nichts mit ihnen zu machen. Und daß sie nicht vereint, offen gegen unhaltbare Zustände auftreten.

Eine natürliche Folge des geringen Erwerbes ist die schlechte Nahrung, und zwar umso mehr, als die Arbeiterinen auf ihr Aeußeres ausnahmslos alle eitel sind und lieber Hunger leiden, nur um etwas mehr auf Kleidung und Putz verwenden zu können. In jeder Fabrik gibt es im Souterrain einen „Speisesaal“, einen großen, feuchtkalten Raum, wo ein riesiger Herd steht, auf dem eine (meist unappetitlich aussehende) Frau das mitgebrachte Mittagessen der Arbeiterinen wärmt. Die Meisten bringen Kartoffeln und Reis mit, Manche Graupen oder Erbsen, Fleisch hat keine Einzige. Der größte Luxus ist ein Ei oder ein Hering, - hingegen gibt es zu Ende der Woche oft nichts als hartes Brot oder Kaffee, besser gesagt, einen gräulich riechenden Aufguß. In die städtischen Speise-Anstalten, wo man für 20 Pfennige ein reichbemessenes Mittagessen bekommt, geht aus falschem Schamgefühl keine Arbeiterin, trotzdem dort die besten männlichen Arbeiter gern einkehren.

Wahrhaft bewunderungswürdig ist unter solchen Umständen die Ausdauer und Arbeitskraft dieser Arbeiterinen. Viele von ihnen beweisen sogar bedeutende geistige Fähigkeiten; insbesondere in den Webereien bei Ausführung komplizierter Teppich-, Vorhangmuster ec., wo sie denken, kombiniren, berechnen müssen. Allenfalls gehört hiezu mehr Fähigkeit, als zu den Häkel- und Stickarbeiten, mit denen die Töchter besserer Stände oft die Zeit totschlagen. Dabei müssen sie ununterbrochen arbeiten und dürfen selbst bei heftigen Kopf- und Zahnschmerzen die Arbeit nicht einstellen. Hier sollten die ins volle Menschenleben eingreifen, die da behaupten, die schwachen Frauen könnten nichts leisten und würden nie ausdauernd einen Beruf erfüllen. Oder behauptet man dies nur bei Berufen, wo die Konkurrenz der Frauen den Männern gefährlich werden kann?

Und bei diesem materiellen Elend sind sie auch der rohesten Behandlung seitens der Fabrikangestellten, der Aufseher, Direktricen ausgesetzt. Frau Wettstein führt ein eklatantes Beispiel hiefür an. In einer der Fabriken hatte sich die Aufmerksamkeit eines Beamten, der gekommen war, um in die Bücher Einsicht zu nehmen, ihr zugewendet. „Schicken Sie mir den Ausweis aus den Büchern durch dieses Mädel ins Komptoir,“ sagte er, auf sie deutend, zur Aufseherin, und ging. Die anderen Arbeiterinen ergingen sich in Beschimpfungen über ihn, und gaben ihr Rathschläge, wie sie dem Manne entgegentreten solle. Als sie zu ihm ins omptoir kam, bestellte er sie für künftigen Sonntag in seine Wohnung, sie möge eine dekolletirte Taille anziehen und zuhause melden, daß sie über Nacht wegbleibe, den Anderen aber möge sie nichts sagen, denn die seien neidisch! R frug nicht einmal, ob sie sein Schatz werden wollte, er beorderte sie einfach wie eine Sklavin! Wenn nun ein wirkliches Fabriksmädchen dem Befehle eines solchen Schurken nicht folgt, kann sie sicher sein, unter seinen Intriguen zu leiden und sofort entlassen zu werden. Wo soll sie die moralische Kraft hernehmen, um den Elenden zu widerstehen? Wer unterstützt sie denn, wenn sie aus Moral brodlos geworden ist?

Frau Wettstein hatte Gelegenheit, dem Manne seine „Freundlichkeit“ heimzuzahlen: sie überreichte ihm beim Scheiden aus der Fabrik ihre Karte, und hatte die Genugthuung, zu sehen, daß er sie erkannte. Der mochte auf einige Zeit genug haben! Diesen Leuten schreibt sie die Schuld an der Demoralisation der Arbeiterinen zu, und das gibt ihr Gelegenheit, Folgendes zu betonen: Wenn Mädchen aus guter Familie eine passende Ausbildung fänden, um die Stellung von Fabrikdirektricen und Inspektorinen einnehmen zu können, dann würde dieser schmachvolle Zustand aufhören, und es würde nebstbei nicht bloß einer Menge stickender und häkelnder Mädchen, verkümmernder Gesellschafterinen, Erzieherinen geholfen, sondern auch die Fabrikanten hätten in diesen Damen wirkliche Stützen. Die Frau der oberen Stände kann nicht frei werden, so lange die Frau der unteren Stände von Männern befehligt wird.

Und die Mehrzahl der Fabriksmädchen ist im Grunde genommen nicht unmoralisch, ja bei Vielen zeigt sich sogar ein bewunderungswürdiges sittliches Gefühl. Die Meisten haben einen „Schatz“, der aber ihren Kreisen angehört; wenn sie auch in der Liebe frei und derb, zeigen sie doch tiefe Empörung gegen gewerbsmäßig betriebene Unzucht. Im Allgemeinen haben sie eine unüberwindliche Abneigung gegen die Herren aus den besseren Kreisen (die sich „Federfuchser“ nennen) und gegen das Militär. Wenn die Eine oder Andere ihre Liebe doch für Geld verkauft, wird sie von den efährtinen verabscheut. Im „Schatz“ sehen sie eigentlich nur einen ständigen Begleiter für einige Zeit, mit dem sie zum Tanz, Spaziergang und sonstigen Vergnügungen gehen, der bei solcher Gelegenheit für sie bezahlt, sie auch mit Bändern, Schmuck ec. Beschenkt. Sie machen sich auch nichts daraus, wenn er sie verlässt – „dann wäre er so wie so kein guter Mann geworden“. Denn auf’s Heirathen sind sie durchaus nicht so erpicht, wie die Mädchen der besseren Kreise, sie wissen, daß ihr Loos in der Ehe sich meistens verschlimmert. Den Schatz wechseln sie auch öfters und sind sehr zufrieden, wenn der neue ihnen schönere Geschenke macht. Denn sie sind, wie schon erwähnt, sehr eitel und sparen können sie überhaupt nicht. Die Frauen verausgaben im Verhältniß sehr viel auf ihre und ihrer Kinder Kleidung, die Männer können sich das Rauchen nicht abgewöhnen und all dies geschieht auf Kosten des körperlichen Wohls. Die Mädchen haben eben keine Idee von der Hauswirtschaft, und in allen anderen Kreisen kann doch die Frau ihre Unkenntnis eher durch eine Dienstmagd ersetzen, in Arbeiterkreisen aber hängt das Wohl der Familie nur von der Frau ab. Hier ist ein Feld, das die Menschenliebe nimmer fertig bebauen kann, hier gilt es, das körperliche und sittliche Wohl tausender zu erhalten! Die Kämpferinen für Frauenrecht mögen hier eintreten und dahin wirken, daß die Arbeitermädchen in guten Haushaltungsschulen für das Hauswesen vorbereitet werden, die Geistlichen mögen hier ihren Einfluß geltend machen, das ist wichtiger, als für das Seelenheil der Negerkinder zu sorgen. Man vergesse nicht, daß die mangelhafte häusliche Erziehung die Mädchen der Prostitution in die Arme treibt. Und diese ist der Ruin des Familienlebens, der Generationen, sie ist der Felsen, an dem die Würde des weiblichen Geschlechts strandet! Bezeichnend ist, daß diejenigen Arbeiterfrauen, die früher Dienstmädchen waren und folglich in geordneten Haushaltungen lebten, sparsamer und ordnungsliebender sind.

Das Eheleben fand die Autorin sittlicher, als man vermuthen würde. Es kommen wohl Fälle vor, wo die Frau als Lastthier, als Sklavin betrachtet wird, aber zumeist wird sie geachtet und gut behandelt. Die Eheleute bewahren entweder gegenseitig die eheliche Treue, oder Jedes geht seiner Wege. Die Behauptung von der nothwendigen Treue der Frauen und der Untreue der Männer fand sie nicht bestätigt. Gegen die Kinder sind beide Eheleute nach Möglichkeit zärtlich, oft ist der Mann sogar den in die Ehe gebrachten unehelichen Kindern seiner Frau ein guter Vater. In kinderlosen, und mit nur 1 oder 2 Kindern gesegneten Ehen herrschen meist geregelte Verhältnisse. Wo viel Kinder sind, herrscht gewöhnlich Unfriede, Schmutz, Elend, Noth. Beim ersten, zweiten, selbst noch beim dritten Kinde können die Frauen sich und die Kinder noch pflegen und schonen. Aber je mehr Kinder sich einstellen, desto mehr ist die Nothwendigkeit vorhanden, daß auch die Frau arbeite, verdiene, desto schwächer wird sie. So kommt es, daß die Kinder über das dritte hinaus zumeist geistig und körperlich Schwächlinge sind. Auffallend ist auch, daß man in Familien mit sechs Kindern meistens eine Stiefmutter findet: das sechste Kind kostet die Mutter das Leben, das immer zunehmende Elend hat ihre Lebenskräfte untergraben. Hier spricht die Autorin von den Vortheilen des Zwei- und Drei-Kinder-Systems, um sich dann wieder an die Gegner der Frauenbewegung zu wenden, sie mögen doch hier dafür sorgen, daß die Frau nicht ums tägliche Brod kämpfen müsse, sondern nur ihren natürlichen Pflichten lebe. Warum sorgen sie nicht dafür, daß die Arbeitergattinen nicht gezwungen seien, schwere Maschinenarbeit zu verrichten? Oder hält man den Frauen nur dann ihr „natürlichen“ Pflichten vor, wenn sie befähigt sind, den Männern Konkurrenz zu machen? Wenn der Maßstab für die Kultur eines Volkes die Stellung ist, welche die Frau daselbst einnimmt, wie muß dann der heutige Kulturzustand sein? – so fragt sie.

Das Elend der Chemnitzer Arbeiterfamilien dokumentiert sich besonders scharf in den Wohnungsverhältnissen. Meistens wohnt die ganze Familie (6-8-10 Personen) in einer Stube, im günstigsten Falle in zwei Stuben. Aber auch dann schlafen Alle in Einem Lokal und meist in dem schlechteren, denn leider halten selbst die ärmsten Familien auf eine „gute Stube“, die dann womöglich mit kleinbürgerlichem Komfort ausgestattet ist, während die Schlafstube einer Trödelkammer ähnlich ist. In der letzteren wird noch obendrein gekocht, denn Küchen gibt es in den Arbeiterwohnungen nicht. Meistens schläft der Vater mit 1-2 Söhnen, die Mutter mit 1-2 Töchtern in einem Bett. Bei zahlreichen Familien schlafen die übrigen Kinder ohne Unterschied des Geschlechts zusammen. Das sind aber noch rosige Verhältnisse; erst da, wo Schlafmädchen und Schlafburschen gehalten werden, fängt die grenzenlose sittliche Verkommenheit an. Um die Wohnungsverhältnisse gründlich kennen zu lernen, ging Frau Wettstein mehrere Tage hindurch auf Wohnungs-, respektive Schlafstellensuche, und bei dieser Gelegenheit machte sie die schauderhaftesten Erfahrungen. So wurde ihr z.B. eine Schlafstelle angeboten in einem immer, wo Mann und Frau mit etwa 10 Kindern und 4-6 Kostgängern schliefen; die letzteren betrachteten die Fremde schon als ihre Beute unter Zustimmung der ekelerregend aussehenden Frau.

In einem anderen Hause wurde ihr die Lade einer Kommode als Schlafstelle angeboten. Die Kommode stand in einem engen Verschlag, so daß des Nachts ein Theil der herausgezogenen Lade auf den offenen Korridor hinausragte; jeder Vorübergehende konnte demnach die Schlafende sehen! Auch in Hängematten, Bodenverschlägen, Kellerlöchern schläft man in manchen Häusern! Außerhalb der Stadt sind die Wohnungen besser, die Häuschen haben luftige Zimmerchen, die Frauen betreiben Hausindustrie, und können dabei ihre Kinder besser pflegen. Es wäre ein Wunder zu nennen, wenn die Mädchen, die auf die obenbeschriebene Weise wohnen, sittlich und moralisch wären: es kommen denn auch Dinge vor, die nicht mehr gemein, sondern bestialisch zu nennen sind. Aber an dieser Demoralisation sind nur die Gesellschaft, der Staat schuld, die für die Unglücklichen nicht sorgen. Die Gegner der Frauen-Emanzipation befürchten schreckliche Zustände, wenn Männer und Frauen in gemeinsamen Hörsälen studieren, sie wollen uns glauben machen, daß die holde Weiblichkeit, das Schamgefühl dabei ersterben würde, wo man doch meinen sollte, daß höhere Bildung die Sittlichkeit bedingt. Warum fürchten diese Herren nicht das ewige Zusammensein ungebildeter, die doch eher zum Laster geneigt sind? Oder sind Mädchen und junge Männer der besseren Stände so verkommen, daß sie nicht ohne Gefahr nebeneinander sitzen können? Dann sind sie ja verdammenswerther, als die Arbeiter, die – in Rohheit und Unsittlichkeit aufgewachsen – und Elend gezwungen sind, alles Schamgefühl abzulegen.

Und diese Bedauernswerthen sind auch nicht religiös! Sie glauben wohl an Gott, aber als ein nothwendiges Uebel! Es ist das Verhältnis zum Schullehrer, sie fürchten Gott, aber sie glauben sich ihm entzogen, wenn sie einmal konfirmirt sind. Größthenteils ist das Benehmen der Geistlichen Schuld an diesen Zuständen. Sie zeigen wenig Liebe für die Mitglieder ihrer Gemeinde, tadeln selbst die Anständigsten, und wenn irgendwo Hilfe nöthig ist, so haben sie nichts als salbungsvolle Phrasen, z.B.: Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, ec. Vor den Barmherzigen Schwestern hingegen haben die Mädchen eine große Hochachtung; diese sind aber auch immer gütig, freundlich, hilfsbereit. Hier ist wieder ein glücklicher Beweis dafür, daß Frauen auf Frauen einwirken können, wo Männer nutzlos arbeiten.

Frau Wettstein wirft da auch die Frage der weiblichen Aerzte auf: sie würde die Anstellung solcher in den Fabriken für eine segensreiche Institution halten, denn die Mädchen gehen ungern zu den Aerzten, die sie roh behandeln und oft die Sittlichsten mit gemeinen Verdächtigungen in ihrem Ehrgefühl verletzen. Als sie ihnen von den in Berlin wirkenden Aerztinnen erzählte, waren Alle entzückt! Sie hatten keine Idee, daß es solche gebe, wie sie denn überhaupt von Frauenbewegung, Frauenstudium keine Ahnung haben. Wohl nennen sich fast Alle „Socialdemokratinen“, aber nur weil ihre Väter, Brüder, Schätze Sozialdemokraten sind. Nur wenige von den verheiratheten Frauen werden durch ihre Männer in den Strudel der Agitation hineingezogen. Ihre Sozialdemokratie besteht nur darin, daß sie das Recht auf Arbeit vertreten, mehr verdienen möchten und neidisch auf alle Gutgestellten sind. Ebenso wenig Sinn haben sie für Tagesinteressen und öffentliche Fragen. Und doch wäre es sehr zu wünschen, daß sie sich für Menschenrechte interessirten, damit sie einsehen lernten, wie schändlich sie, die „Schwachen“, vom starken Geschlecht behandelt werden, das die Mädchen der höheren Kreise hätschelt und vergöttert und diese Unglückseligen dem Elend preisgibt und der Prostitution in die Arme wirft!

Die Vergnügungslokale des Arbeiterstandes tragen auch nur dazu bei, das Uebel zu vergrößern. Es ist eine Nachlässigkeit des Staates und der Militärbehörde (denn die Mädchen verkehren dort meist mit Soldaten), daß sie derartige Tanzlokale nicht verbieten. Uebrigens werden dieselben auch von Herren aus den gebildeten Kreisen stark besucht. Anständige Arbeiterinen besuchen diese Lokale nicht, es sind da eben Mädchen, die schon der Unmoralität verfallen sind. Den Tanz lieben die Wenigsten, ebenso erfreulich ist es, daß sie die geistigen Getränke nicht lieben. Sie trinken beim Spaziergang ein Glas Bier, weil sie es für zu ordinär halten, daß man nicht einmal das erschwingen könnte!

Aber wie traurig ist erst das Schicksal der stellenlosen Arbeiterin! Sie geht vorerst ind as Nachweisbureau einer Frauenstiftung, wo sie sehr von oben herab behandelt, ja sogar beinahe hinausgeworfen wird, wenn sie nicht wenigstens aus der Küche der Anstalt etwas verzehrt. Der eine Pfarrer, an den man sich behufs Empfehlung wenden muß, tröstet sie, daß „der die Lilien auf dem Felde kleidet, auch sie kleiden und nähren werde“, der andere läßt sie gar nicht vor sein Angesicht. Von einer Fabrik wandert sie zur andern, überall wird sie mit unfreundlichen Worten abgewiesen und nicht einmal ins Komptoir gelassen. Und wenn sie erst in die Hände gewissenloser Stellenvermittlerinen geräth! Da wird sie ihres letzten Groschens beraubt undnicht bloß schändlich betrogen, sondern oft derart in die Netze dieser Räuberinnen und ihrer Genossen verwickelt, daß sie zuletzt auf anständige Art nicht mehr loskommen kann, sie muß sinken, um nicht Hungers zu sterben. Sie hat keine andere Wahl als moralischen oder leiblichen Tod!

Und nun wendet sich die Autorin an alle Frauen und Mädchen der besseren Stände, an all die Glücklichen, die in Wohlhabenheit leben können, sie mögen aus den Parfüm-Atmosphären ihrer Boudoirs hinabsteigen in die Sphäre der Armuth und Arbeit und um sich blicken, wie es dort steht. Die Unzufriedenheit, Erbitterung dieser Kreise wächst von Tag zu Tag, und wehe dem Staate, wenn die Arbeiterinen selbst ans Befreiungswerk gehen! Zur Befreiung der Negersklaven entbrannten ganze Welttheile in erbittertem Kampfe, warum sollte die Befreiung weißer weiblicher Sklaven nicht alle Frauen begeistern? An den Frauen ist es, die Initiative zu ergreifen!

„Tretet darum ein, Ihr Mitschwestern,“ so ruft sie, „in die Aktion, arbeitet an der Hebung unseres Geschlechtes mit vollen Kräften; wollt Ihr den Sieg, dürft Ihr den Kampf nicht scheuen! Veranstaltet Sammlungen, um Volksbäder, Kochkurse, Belehrungsanstalten zu gründen, Ihr thut besser daran, als Strümpfe für Negerkinder zu stricken. Traget Aufklärung in die Räume jener Beklagenswerthen! Und dabei vergesset nicht, Ihr oberen Zehntausend, daß Ihr nicht aus Sport und Laune reformiren sollt, sondern aus selbstloser Nächstenliebe, die nicht rastet, wenn sie Unglücklichen helfen kann!

Und Ihr könnt es, Ihr werdet es thun! Den hochgesinnten rauen, die vorangehen im Kampfe für wahre Weiblichkeit und Weibeswürde, folgt langsam aber stetig ein Hauser bisher Gleichgültiger. Und wer einmal erwacht ist aus der Gleichgültigkeit, wer in den Reihen der Kämpferinen gestanden hat, der kehrt nimmer um, den erfaßt und hält die Ueberzeugung fest, daß wir kämpfen müssen, und daß der Sieg uns sicher ist, der dem Menschengeschlecht Segen bringen soll!“