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Aus dem Pester Lloyd von 1907

Rudolf Eisler

Entwicklung

Rudolf Eisler (1873 - 1926, Wien) war ein österreichischer Philosoph. Im Jahr der Veröffentlichung dieses Beitrages gründete er in Wien, wo er als Privatdozent tätig war, gerade die „Soziologische Gesellschaft“. Studienaufenthalte führten ihn zuvor nach Prag, Leipzig und Paris. Eisler zählt in ungefähr zu den Neukantianern. Seine Gedanken galten dem Idealrealismus, in dem er versuchte eine Synthese aus Realismus und Idealismus zu konstruieren. Bekannt blieb er bis heute als Autor eines  Wörterbuches der philosophischen Begriffe und Ausdrücke. Eine Fortentwicklung, die direkt auf Eislers Arbeit aufbaut, bildet heute noch das Historische Wörterbuch der Philosophie. Rudolf Eisler war der Vater des Komponisten Hanns Eisler. m.s.

„Alles fließt.“ „Nichts ist beständig als der Wechsel.“ Das sind Aussprüche, klar und kernig, die uns die große Thatsache formulieren, daß nirgends und nie in der Natur ein Stillstand, eine absolute Ruhe, ein unbedingt Festes, Starres zu finden ist. Entwicklung, Fortgang von Stufe zu Stufe, von Phase zu Phase, von Form zu Form, beständiger Wechsel, ewige Veränderung im Sein der Individuen und Arten, das ist’s, was dem Deuten, dem Forschen in alter und neuer Zeit ein Räthsel zu lösen gibt, das an Schwierigkeit seinesgleichen sucht. Denn welche sind die Kräfte, die Ursachen, auf denen alle Entwicklung beruht, was treibt die Dinge zur Umwandlung, was verhindert die absolute Stabilität der Formen? Der menschliche Geist hat die universale Entwicklung konstatirt, nun will er sie auch begreifen.

Mannigfaltig sind die Versuche, die zur Beantwortung der Frage nach dem Grunde der Entwicklung unternommen wurden. Von Empedolles angefangen bis zu den „Neo-Darwinisten“ und „Neo-Lamardisten“ unserer Tage ist man gar emsig dem Problem auf den Leib gerückt. Und doch sind wir von einer „endgültigen“, befriedigenden Lösung der Frage noch weit entfernt. Denn Eines haben wir aus Allem, was bisher dazu gethan worden, gelernt: die Komplizirtheit der Faktoren, welchen die Entwicklung der Dinge, insbesondere der Organismen und noch mehr des menschlichen Geistes, entspringt. Besonnener sind wir nun geworden und mit größter Behutsamkeit und Bescheidenheit wollen wir fürderhin das große und wichtige Problem ins Auge fassen.

Das Meiste der versuchten Problemlösungen trägt den Stempel der Einseitigkeit an sich. Entweder nahm man a priori eine Urkraft an, sei es ein vernünftig-geistiges, sei es ein blind-mechanisches, aus dem Alles kühn abgeleitet wurde. Oder man legte das Hauptgewicht auf Faktoren, die, nach gründlicher Überlegung und auf Grundlage der Erfahrung, unmöglich die eigentlichen Agentien der Entwicklung sein können. Weder wenn man dem Zufalle Alles zuschreibt, noch wenn man zweckbewußte Tendenzen annimmt, lässt man Räthsel. Der Darwinismus zum Beispiel, mit seiner höchst einseitigen Werthung der „natürlichen Auslese“ und der „indirekten Anpassung“ hat sich, wie man von Tag zu Tag mehr einsieht, als unfähig erwiesen, die Entwicklung der Lebewesen wahrhaft verständlich zu machen.

Daher jetzt die Rückkehr zu den Prinzipien Lamard’s, die Berücksichtigung der direkten Anpassung, Formung der Organismen durch das Milieu, der Übung der Organe u. dgl. Zweifellos rückt man so der Lösung des Evolutionsproblems näher, ohne daß damit dem Selektionsprinzip Darwin’s jeder Werth abgesprochen werden soll. Als indirekter, die Anpassung und Zweckmäßigkeit erhaltender Faktor spielt die „Auslese“ sicherlich eine nicht unbedeutende Rolle. Die „Mutationstheorie“ von de Bries endlich mag in vielen Fällen Geltung haben, daß aber neben der mehr „sprunghaften“ auch eine stetige Entwicklung stattfindet, wird kaum bezweifelt werden dürfen.

Eine allumfassende, logisch befriedigende Evolutionstheorie muss erst noch geschaffen werden. Wir wollen einer solchen nicht vorgreifen, aber gewisse leitende Gedanken für dieselbe sollen hier dargelegt werden.

Die „mechanistische Naturauffassung“, so eindeutig sie als Metaphysik ist, hat für die Naturwissenschaft als heuristisches, zu Erkenntnißresultaten führendes Prinzip größte Bedeutung. Daher sollte sie nicht, wie dies in letzter Zeit von verschiedener Seite versucht wird, verlassen werden. Ist sie doch nicht als die konsequente Anwendung es Begriffes physikalischer Kausalität auf das Ganze der Naturerscheinungen, die organischen mitinbegriffen. Auch diese letzteren müssen sich, wenigstens theoretisch, durchgehends auf eine Reihe physikalisch-chemischer Prozesse zurückführen lassen; geheimnisvolle „Lebenskräfte“ und dergleichen dürfen die in sich geschlossene Reihe des Geschehens nirgends durchbrechen. Das gilt nun auch für jegliche Entwicklungstheorie, die in Zukunft wird aufgeteilt werden können: eine jede wird, soll sie wissenschaftlich exakt sein, „bio-mechanischer“ Art sein müssen.

Aber es darf nicht vergessen werden, daß das Mechanische, Körperliche nicht die letzte, absolute Wirklichkeit ist. Es kann nur, wie erkenntnißtheoretische Erwägungen zeigen, ein relatives Sein, ein Sein der Dinge in Beziehung zu einander und zu uns, den Erkennenden, nicht das „An sich“, das Innen- oder Fürsich-Sein der Dinge bedeuten. Wir haben nun allen Grund, ausgehend von der geistig-körperlichen Natur unseres eigenen Ich und der Denkforderung nach Stetigkeit des Seins gehorchend, anzunehmen, daß in allen Dingen, organischen wie anorganischen, ein und dasselbe Wesen es ist, das „an sich“ oder „für sich“ Lebendigkeit, Trieb, „seelenartige“ Kraft, „für andere“ aber Körper, Mechanismus ist. Lassen wir dies zunächst nur als Forschungsleitfaden, als „Arbeitshypothese“ gelten, so  vermögen wir schon das Räthsel der Evolution der Dinge aus einheitlichen Gesichtspunkten zu begreifen.

Von dem uns Bekannteren zum Unbekannten, vom Eigensein unseres Ich zum fremden Sein schreitend, werden wir vielleicht die Faktoren finden, aus deren Zusammenwirken Entwicklung hervorgeht. Aber nicht, wie dereinst, in mythologischer, sondern in streng empirischer Weise, beständig äußere und innere Erfahrung an einander messend, werden wir zunächst die Entwicklung eines menschlichen Individuums, einer menschlichen Gesellschaft analysiren und von da aus, per analogiam, vorsichtig und Schritt für Schritt auf die Evolutionsfaktoren der übrigen Lebewesen, schließlich auf die des Kosmos überhaupt schließen.

„Es ist der Geist, der sich den Körper baut“ – in diesem Satze liegt das Geheimnis der Entwicklung beschlossen. Nur vom Physischen aus, wenn auch unter steter Beobachtung der „Außenseite“ der Dinge, des mechanischen Aufbaues dieser, ist alle Entwicklung letzten Endes verständlich. Die „Seele“, das Bewußtsein, ist in ständiger Wandlung begriffen, hier erleben wir direkt Entwicklung, sehen wir einen Zustand aus dem anderen hervorgehen. Hier, in uns selbst, entdecken wir durch sorgsame Analyse Triebfedern, Kräfte, deren Wirken uns die Thatsache der Umwandlung des eigenen Organismus begreiflich machen kann. Gefühle der Unlust, geknüpft an einen unzuträglichen Zustand, gehen in ein Streben nach Entfernung dieses Zustandes über, das bedingt wieder ein Aufsuchen neuer, besser passender Situationen. Es gibt einen Trieb nach Veränderung, entspringend dem Ungenügen an einer Seinsweise, sei diese nun ursprünglich angelegt, oder sei sie erst durch ein bestimmtes Milieu, durch eine neue Umgebung bedingt.

Der Wille zum Leben, zur Selbsterhaltung, bestimmt, je nach seiner Stärke und je nach seiner besonderen Neigung, das Ich, den Organismus, sich der Umgebung oder diese sich anzupassen. In jedem Falle erfolgt, zuweilen schnell, zuweilen erst nach langer Übung der Organe, zuweilen erst nach Generationen, eine Umwandlung der inneren Konstitution des Organismus, die unter günstigen Umständen (Mithilfe der Selektion) zur Entstehung einer Abart, einer neuen Art führen kann. Immer ist die eigene Kraft des Organismus, das Streben desselben, an der Anpassung betheiligt. Es gibt aber zwei Fälle der Anpassung. Bei der „passiven“ Anpassung findet nur eine (instinktive, triebartige) Reaktion des Organismus auf den Zwang der Umgebung statt; bleibt die Reaktion, besser, ist sie zu geringfügig, so kommt es zu keiner Anpassung, die Art bleibt konstant degenerirt oder geht zugrunde. Bei der „aktiv-direkten“ Anpassung und Evolution sucht das Lebewesen spontan günstige Seinsformen anzunehmen, d. h. es modifizirt (mehr oder weniger bewußt) durch „Übung“, durch kraftvolle Bethätigung seiner Organe den Habitus seines Wesens.

Die häufige Wiederholung erhöhter Anstrengungen nach einer bestimmten, günstigen, lustvoll empfundenen Richtung hin erzeugt ein Wachsthum, eine Differenzirung, eine qualitative Steigerung der thätigen Organe, eine Verbesserung, die durch Vererbung und Auslese befestigt werden kann. Es waltet ferner im Gebiete des Organischen ein ungemein bedeutsames, besonders von W. Wundt gewürdigtes Gesetz, das „Gesetz der Heterogonie der Zwecke“, wonach bei Treib- und Willenshandlungen auch Zwecken, Willenszielen Wirkungen entspringen,  die selbst zum Zwecke neuer Handlungen werden können; auf  diese Weise wächst die Menge der Zwecke und Zweckmäßigkeiten, ohne daß ein Voraussehen der günstigen Enderfolge nothwendig ist.

So erweisen sich die Gesetze der geistigen und organischen Entwicklung, zum Theile wenigstens, als Gesetze und Produkte des Willens, natürlich nicht überall und immer des selbstbewußten, sondern in der Regel des impulsiven, triebmäßigen Willens, des einfachen, gefühlsbetonten Strebens. Der Wille, als der innerste Kern alles Lebendigen, ja vielleicht alles Wirklichen, Wirkenden, stellt im Vereine mit den Einflüssen der Kräfte der Umgebung das wahrhaftig aktive, schöpferische Entwicklungsmoment dar. Das beständige Streben in Allem, was existirt, bringt ein beständiges Geschehen, beständige Umwandlung, im Kleinen wie im Großen, im Lebenden und im „Todten“, im Einzelnen und in sozialen Gesammtheiten mit sich. Gleichartiges (Homogenes) differenzirt sich zu einer Mannigfaltigkeit von Dingen, von Eigenschaften, von Funktionen, Unterschiedenes, Gegensätzliches verbindet sich, integrirt sich zu komplizirten neuen Formen des Seins, und dieser Prozeß wiederholt sich auf immer höheren Stufen des Werdens. Nicht aber, wie Manche glauben, aus blind-mechanischer, materieller Nothwenigkeit, sondern als Resultat innerer, lebendiger, zielstrebiger Kräfte und Tendenzen, als Produkt des Strebens der Welt nach einer, nur im Unendlichen zu realisirenden , allseitigen Harmonie. Mechanisch ist dieser Prozeß auch, aber nur „von außen“ gesehen, vom abstrakt physikalischen Standpunkte, der durch den philosophischen ergänzt werden muß und wird; denn die Zeit des starren Materialismus, des Gegenstückes zum theologischen Dogmatismus, ist glücklicherweise vorüber.

Alle Einzelheiten der Entwicklungsthatsachen exakt zu erforschen, das wird die Aufgabe der empirischen Evolutionstheorie bilden. Aber das Wesen der Entwicklung als solcher wird ohne die philosophische Betrachtungsweise der Dinge nicht zu erfassen sein. Nicht aber der „reinen Spekulation“ soll und kann die Arbeit überlassen werden, sondern der Vereinigung von Erfahrung, Beobachtung, Experiment, Induktion und philosophischer Deutung aus festen Prinzipien und zwingenden Denkforderungen heraus. Nur so wird der idealistische Evolutionismus, dem wir hier das Wort reden und der jetzt nicht nur bei Philosophen wie Wundt, Fouillée u. A., sondern auch bei Biologen, besonders den Neo-Lamardisten (Pauly, Francé u. A.), sich geltend macht, zur Herrschaft gelangen. Dieser Evolutionismus ist nicht dualistisch, er kennt keine zwei total von einander verschiedene Substanzen oder Prozesse, sondern er ist monistisch, indem er Geistiges und Körperliches als die beiden Seiten oder Betrachtungsweisen einer und derselben Wirklichkeit betrachtet, deren Eigensein psychisch, deren objektive Erscheinung physisch ist. Indem alles Seiende für sich selbst psychisch ist und sich mit psychischen Kräften in Reaktion zu den Reizen der Umgebung gestaltet, regulirt, verändert, und zwar so weit als möglich zielstrebig, d. h. bedürfnißgemäß, durchwaltet ein „Psychismus“ die gesammte Evolution und kommt in den physischen Veränderungen zum sichtbaren Ausdruck.

So verstehen wir es, daß der Menschengeist sich aus der Natur entwickelt hat; denn diese selbst ist ihrem „An sich“ nach schon psychisch, trägt schon den Keim zum Werden des selbstbewussten Geistes in sich...