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Aus dem Pester Lloyd von 1909
Autor unbekannt
Eine chronische Krise
Die Atmosphäre der ungarischen Politik ist mit Miasmen der Krise gesättigt. Es ist vielleicht nicht unzeitgemäß, auf Grund von völlig sachlichen Informationen, die uns von einer höchst vertrauenswürdigen und in der Regel gut unterrichteten Seite zukommen, die Bilanz dieser seit langer Zeit latenten Krise eben jetzt festzustellen, wo uns nur einige Tage von der Wiedereröffnung des Parlaments trennen und man mit Fug und Recht sagen kann, daß die Politik mit ihren gesamten schwebenden großen Fragen auf dem gewissen toten Punkt steht. In der Natur der anzuführenden Tatsachen liegt es, dass vielleicht die eine oder andere der Enthüllungen eine Diskussion hervorrufen wird. Es liegt nicht in unserer Macht, die Richtigkeit dieser Mitteilungen zu überprüfen; aber sie sind charakteristisch und sie stammen von einer ebenso gut unterrichteten wie vertrauenswürdigen Seite, so dass wir mit ihrer Veröffentlichung eine publizistische Pflicht zu erfüllen glauben.
Es gibt drei Hauptkollisionspunkte dieser Krise: die militärischen Fragen, die Bankfrage und die Wahlreform. Das erste sichtbare Anzeichen der seit längerer Zeit latenten Krise war die viel und vielfach kommentierte jüngste Wiener Reise des Ministers des Innern Grafen Julius Andrássy. (…) Der Opportunitätsgesichtspunkt gebietet allerdings jetzt, dass über die Fusion, über militärische Fragen einstweilen, vorzeitig nicht gesprochen wird. Auch die Zurückstellung der so plötzlich und unliebsam brennend gewordenen Bankfrage ist wünschenswert, weil zu allen diesen gesetzgeberischen Aufgaben eine einheitliche Regierungspartei nötig wäre. Damit wird die Unabhängigkeits- und Achtundvierzigerpartei vor ein schicksalsschweres Dilemma gestellt sein. Ein ansehnlicher Teil dieser Partei hat wiederholt, schriftlich und mündlich, in Ausschüssen und Reichstagssitzungen erklärt, dass er die Wahlreform solange nicht votiere, als die selbstständige ungarische Bank nicht geschaffen sein wird. Das heißt so viel, dass auch die Wahlreform zu einem Krisenkollisionspunkt werden kann, wenn auch nicht im Sinne einer Regierungskrise, doch im Sinne einer Parteikrise.
Inzwischen werden die Verhandlungen in der Bankfrage in aller Stille fortdauern, und zwar – wie es heut von Seiten der Regierung präliminiert ist – bis um die Mitte des Monats Mai. Bis dahin soll von den militärischen Fragen und von selbstständiger Bank nicht gesprochen werden, weder in den Ausschüssen, noch in den Plenarsitzungen des Hauses. Im Monat Mai und darüber hinaus wird unser weiteres Verhalten völlig davon abhängen, wie Österreich seine eigenen Angelegenheiten in Ordnung bringen wird.
Gekürzt aus: PESTER LLOYD, 15. Januar 1909, Morgenblatt, Leitartikel
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