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Aus dem Pester Lloyd von 1910

Franz Baumgarten

Essays von Georg Lukács

Der Schriftsteller, Kritiker und Literaturhistoriker Franz Ferdinand Baumgarten, nach dem sogar einmal ein Literaturpreis benannt war, hatte als Schwerpunkt selbst die  Ästhetik gewählt, wie das Subjekt seiner Besprechung. Baumgarten war zum Zeitpunkt des Artikels gerade 30 Jahre alte, Lukács gar nur 25, auf den Baumgarten über dessen Beiträge in “Nyugat” aufmerksam geworden war. Es dürfte eine der ersten, wenn nicht überhaupt die erste tiefergehnde Besprechung von Lukács-Werken sein.

Unglaublich scheint es und dennoch ist es wahr. Es gibt Menschen, deren Leben darüber hingeht und darin aufgeht, daß sie Bücher lesen und Bücher sehen und darüber schreiben. Und wenn sie ein Buch beiseite gelegt, holen sie ein anderes hervor. Zwecklos und ziellos scheint ihr Leben oder vielmehr das Lesen ist ihres Lebens einziger Zweck und einziges Ziel. Die Hand, die nach dem Buche greift, ihre einzige Lebensegeste.

Alle Menschen haben doch ihre Not und Freiheit, ihr Last und ihre Lust, sie leben doch im Gleichtakt zwischen Recht und Pflicht ihr eigenes, wenn auch noch so bescheidenes, unansehnliches Leben. Aber jene Lesenden, Schauenden, Schreibenden, deren Leben so ganz Freiheit zu sein scheint, die nicht binden und nicht gebunden werden, für was geben dir ihr Leben hin? Kann denn das ein Leben heißen, daß man immer fremde Menschen, fremde Bücher liest?

Feuilletonisten und Literaturhistoriker, die wissen allerdings, warum sie über Bücher schreiben. Der eines tut es der Geschmacksorientierung der Öffentlichkeit willen, der andere für die Wissenschaft. Wahrheit von heute oder Wahrheit von gestern, oder übermorgen. Wahrheit und Urteil über Bücher, das sind keine Lebenswerte, dafür wird kein Leben hingegeben, das ein Leben heißen dürfte, Jene anderen, die stolz und bescheiden mit ironischen Verzichten ihren Weg gehen, lesen darum, weil das ihr Leben ist.

Jeder Einzelfall, jedes Dasein ist symbolisch. Jede Lebensgestaltung hat ihre Ewigkeitsperspektive. Wer die zu sehen, wer die anschaulich zu machen versteht, hat eine Erkenntnis gefunden, die zu dem Kostbarsten gehört, das menschlichem Erkennen gegeben.

Dieser Erkenntnis dienen die echten, die tiefen, die einzig wahren Kritiker. Die Lebensgestaltung des Dichters, des Künstlers ist die höchste, die reinste Lebensgestaltung. Diese Lebensgestaltung wollen die Kritiker erkennen und erkennen lassen.

Kunst ist gesteigertes, gesamtes Leben, Kunst ist Lebensglut in strengster Bändigung. Die Gegebenheiten seiner Seele verschmilzt der Künstler zur Einheit seiner Persönlichkeit und das Erlebnis seiner Persönlichkeit rettet er hinüber in die Form des Kunstwerkes. Die Gluten der Seele gerinnen zur Form des Werkes. Darum heißt dieses Buch, das über das Verwachsen von Dichter und Dichtung durch das Erlebnis des Dichters spricht: Das Leben und die Formen.

Indem sie über die Werke der Künstler, scheinbar über die Lebensgestaltung anderer Menschen, fremder Menschen sprechen, richten die Kritiker ihre Frage an das Leben. Was ist Lebensgestaltung, wie trägt man, wie erträgt man, wie erhöht man das Leben? Und die Künstler antworten mit Bildern, mit Gleichnissen, mit Hindeutungen. Die Kritiker aber wollen den Begriff, das Wesen. Ein Wesen, das nie rein geschaut, einen Begriff, der nie ganz umgrenzt werden kann. Und so müssen sie immer weiter fragen, denn jede Lebensformung und Lebensgestaltung ist nur eine Lösung, nur eine Annäherung, nur ein Bild. Denn jede Lebensgestaltung ist nur eine vereinzelte Lösung, nur der Versuch einer Lösung der Aufgabe, die uns das Schicksal gegeben, indem es sprach: „Hier hast du die tausend Gegebenheiten, die tausend Freiheiten und Notwendigkeiten, das Stückwerk deiner Innenwelt und deiner Umwelt und du sollst ein Leben daraus machen: eine Form, eine Einheit, eine Schönheit, einen Wert.

Kritiker verlangen Antwort auf eine Frage, auf die es keine Antwort gibt, auf die aller Fragen Gesamtheit nur eine Hindeutung ist. Darum müssten sie immer rastlos weiter fragen, darum müssen sie immer lesen und wieder lesen. Darum ist die Hand, die nach dem Buch greift, ihre einzige Lebensgeste.

Von sich, von ihren brennenden Fragen sprechen die Kritiker, wenn sie über fremde Bücher schreiben. Hinter der Objektivität ist ihre Sentimentalität versteckt, hinter fremden Nacken verbirgt sich ihr Gesicht, die Werke anderer erwärmt ihr Blut. Ihre Gefühle haben die Dichter geformt, ihre Visionen haben die Maler gebannt, darum müssen sie jetzt dienen dem fremden Werk.

Die Seele des Kritikers strömt aus, wenn er die Geständnisse, die verschämtesten Bekenntnisse, die Künstler in die Form ihres Werkes verborgen, herausholt und deutet. Und zugleich sind es die intimsten Bekenntnisse des Lritikers, die so von den scheu versiegelten Lippen fallen. Darum liebe ich den Titel dieses Buches: Das Leben und die Formen.

Indem ich von dem echten und wahren Kritiker sprach, habe ich nichts anderes getan, als den Kritiker Lukács beschrieben; indem ich die Wesensart des Essays gegeben, die uns dieser Band gibt. Indem ich von den höchsten Zielen sprach, die sich ein Kritiker stellen kann, habe ich die Anforderungen geschildert, die sich Lukács stellt. Indem ich nun über die Essays eingehender spreche, zeige ich, daß dieser Band jener höchsten Forderung Erfüllung ist.

II.

Nicht die bequemen Alltagswege wird der Kritiker gehen, der so hoch und tief von der Kritik denkt. Gleich fern wird er stehen von der biographischen Methode der Literaturhistoriker und dem methodelosen Impressionismus des Feuilletons. Denn Geist und Wesen lassen sich nicht einfassen in die biographische Mikrologie der Tatsachen, und lassen, sich nicht erkennen durch das irrlichtgleiche Wiedergeben von Impressionen, die durch das unleidige und sinnlose Betonen des Ichs nur das Unvermögen als Selbstkarikatur geben. Dieses Buch geht nicht Umwege und Abwege, es sagt Wesentliches über Wesenhaftes. Und die wertvolle Erkenntnis, die uns jedes Blatt bringt, heißt: Kunst ist nicht Zufall, nicht etwas Entgleitendes, Unfaßbares, kein Spiel oder Zeitvertreib. Es ist aus höchster Freiheit und höchster Notwendigkeit geboren, von allem abgeschlossen und in sich selbst beschlossen, eine Tatsache, ein Ding mit seinen Notwendigkeiten und seinen Gesetzen. Das Gleichgültige und Nebensächliche, das Nurtatsächliche, was nur Materialwert hat, und Nurdekorative lassen diese Essays mit souveräner Ueberlegenheit beieite. Dies Buch verschmäht die Mittel einer billigen Wirkung, den leblosen Reichtum des Materials, die tote Gelehrsamkeit, und ebenso die mehr oder minder geistlosen und belanglosen Apercus und Witzeleien der impressionistischen Kritik. Es wirkt durch die Erkenntnis des Wesens und durch die reine Schönheit der harmonischen Konstruktion. Statt des toten Materials und leerer Tändelei ist hier Wesen und geprägt Form. Der scharfe Intellekt und der kunstsinnige Blick des Autors ergreifen das Wesen eines Werkes oder eines Schriftstellers. Darauf baut er keine Essays auf. So gewinnen sie eine Einheit, wo alles seinen Platz und seinen einzig richtigen Platz hat. Nichts hat nur Materialwert, nur ein flüchtiges Beiwort verrät oft die mühevoll erworbene Kenntnis des minutiösesten Details. Alles hängt zusammen, erklärt und bedeutet den Zusammenhang. Daher haben diese Essays eine große konstruktive Schönheit, ihr Gegenstand ist Kunst und sie selbst sind Kunstwerke. Ja, sie erinnern an die vollkommenste Schönheit und vollendetste Komposition, an die Musik. Zuerst wird das Hauptthema angeschlagen, dann in reichster Polyphonie alle Motive ausgeführt, damit zum Ende nun in ganz vollen Akkorden noch mal der Hauptsatz anklinge.

III.

Ein Buch, geschrieben von jemandem, der lesen kann, für solche, die auch diese Kunst üben oder diese Kunst lernen wollen. Ein Buch von innerstem Kunsterleben. Ein Autor voll tiefer und echter Kultur. Darum sein Werk ein kostbares und seltenes Geschenk. Kultur ist etwas ganz anderes als Verstand oder Wissen oder beides zusammen. Sehr kluge und sehr gelehrte Menschen können Barbaren sein. Kultur setzt Kulturempfinden voraus, wie Musik das Gehör. Zur Kultur kommt nur der, der die Fähigkeit hat, gewisse Zusammenhänge zu erleben, dessen Seele so reich ist, um Erlebnisse zu haben, wo andere nur Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Ein Verwobensein mit allen Seelen, eine unendliche Fähigkeit des Erlebens, eine große Resonanzfähigkeit ist die Voraussetzung jeder Kultur. Der Kulturmensch erlebt alles nochmals, was andere erlebt, geschaffen haben. Ihm spricht das kalte Erz und der tote Buchstabe. Er leiht der toten Natur seine Seele und dem ganzen Menschengeschlechte Unsterblichkeit durch das Neuschaffen und Neuerleben aller Werte, die je dagewesen. Kultur ist Beladenheit mit den Werken der Vergangenheit, der Zusammenhang der jahrhunderte. Kultur ist der Reichtum der Menschenseelen. Kultur ist Selbstbewußtsein und Unsterblichkeit des menschlichen Genus.

„Das ist der Sinn von allem, was einst war,
daß es nicht bleibt mit seiner ganzen Schwere,
daß es zu unserm Wesen wiederkehre,
in uns verwoben tief und wunderbar.“

Von großem, von tiefem Kulturverständnis zeugt dieses Buch. Feinstes Kunstverständnis und tiefes Kulturerleben haben dieses Buch geschaffen. Ganz verstanden und ganz genossen wird nur von kunstsinnigen und kulturgetränkten Lesern.

IV.

Diese Essays sind zum großen Teile in der Zeitschrift „Nyugat“ erschienen. Jene Zeitschrift hat eine ganze Reihe von dichterischen Talenten zuerst bekannt gemacht, und mit Recht durfte sie für sich beanspruchen, daß mit ihrem Erscheinen eine Neubelebung der ungarischen Dichtung verknüpft wird. In Gegensatz aber zu der Fülle jener dichterischen, novellistischen ec. Talente ist die Armut an kritischen Beiträgen und die Bedeutungslosigkeit der kritischen Beiträge der Jüngeren auffallend gewesen. Die Essays von Lukács sind fast die einzigen der dort erschienenen kritischen Beiträge, die den Namen eines Essays verdienen. Er ist das einzige junge kritische Talent, das jene Zeitschrift aufzuweisen hat. Und gerade so vereinzelt wie jene Essays in jener Zeitschrift, gerade so auf einem Ausnahmeplatz steht dieser Essayband in der ungarischen Literatur. Selbst die reichsten und größten Literaturen sind arm an Essayisten. In der ungarischen Literatur vollends ist ein Essayist eine seltene Erscheinung. Seit dem Erscheinen der Essays von Pétersy ist dies der erste Essayband, den die unagrische Literatur aufzuweisen hat.

Man wird an die großen ausländischen Essayisten denken müssen, wenn man Vergleiche anstellen will. Freilich kennt Lukács die großen ausländischen Vorbilder von Plato und von Montaigne bis Burkhardt und Walter Pater. Aber es sind besonders einige jetzt lebende Kritiker und Denker, wie Dilthey und Kaßner, Paul Ernst, Georg Simmel und Hofmannsthal, an welche diese Essays erinnern. Es ist vielmehr eine ähnliche Problemstellung als eine direkte Beeinflussung, die an die Werke jener erinnert. An Paul Ernst erinnert die Ueberzeugung von der Stabilität und dem wert der Formen, die Stellung, die das Problem der Form in den ästhetischen Betrachtungen von Lukács einnimmt. Das Erfassen von Kunst und Künstler aus der intuitiven Erkenntnis des Zentrums heraus gemahnt an Rudolf Kaßner. Die Art, wie die Zusammenhänge der Kunst mit den sozialen Verhältnissen gesehen sind und wie die Zusammenhänge der ganzen modernen Kultur mit der Kunst durch das analysierte Entwirren der in dem Kunstwerk verflochtenen Fäden ausgewiesen werden, ist der Betrachtungsweise von Georg Simmel verwandt und wohl auch durch sie beeinflusst. Von Wilhelm Dilthey leitet sich ab das Einstellen des Erlebnisses als zentrale Frage bei der Betrachtung eines Kunstwerkes. Wie gesagt, es sollen hier nicht Einflüsse konstatiert werden, vielmehr nur die ähnlichen Betrachtungsweisen angedeutet, auf verwandtschaftliche Züge hingewiesen sein, die die moderne Kunstbetrachtungsweise aufzuweisen hat, der sich eben durch diese verwandtschaftlichen Züge auch die Essays von Lukács anreihen.

V.

Gewiß kein Buch für Leser, die nur nach einem Buch greifen, um sich über die Langweile einer verlorenen Stunden hinwegzutäuschen. Vielmehr ein Buch, welches Hingabe und Liebe fordert, aber auch verdient. Jene amüsanten Bücher über Literatur – und die meisten sind nicht einmal recht amüsant, sondern recht langweilig – funkeln und glänzen wie Seifenblasen und was zurückbleibt, ist schmutziges Wasser, ein übler Nachgeschmack. Dies ist ein Buch, zu dem man immer neue Entdeckungen macht und das man immer mehr lieb gewinnt. Wie altererbter und selbstverständlich gewordener Reichtum, der seine Schätze nicht zu zeigen braucht, wo es aber ganz selbstverständlich ist, daß auch das Kleinste reich und echt ist, so ist der Reichtum dieses Buches. Der Autor verschwendet sozusagen den Reichtum seiner Einfälle, in einem kleinen Nebensatz versteckt steht mehr, als in den marktschreierischen seitenlangen Kritiken anderer. Es will nicht die vielen auf den ersten Moment packen und blenden, aber seine Freunde wird es immer von neuem erobern. Jede neue Lektüre wird uns einen neuen Reichtum erkennen lassen. Wir werden dies liebe Buch mit Liebe beiseite stellen mit der Ueberzeugung, daß wir es bald wieder hervorholen, um es von neuem zu genießen. Denn es ist kein Buch, das man liest und vergißt, sondern ein Buch für tunden der Einkehr und Abkehr, ein Buch, kostbar und selten, voll tiefer Kultur und feinem Kunstverständnis. Kein Buch für alle und vielleicht auch nicht für viele, aber für Auserwähler dauernd ein auserwähltes Buch.

29. Mai 1910