Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1910

Felix Salten

Mark Twain

Mark Twain… wir haben immer gelächelt, wenn wir seinen Namen hörten. Und jetzt müssen wir ernste Gesichter machen, weil der gute alte Mark Twain tot ist. Wir sind aber gewöhnt, zu lächeln, so oft wir an ihn denken, so oft wir vom ihm sprechen, so oft wir diesen Namen irgendwo lesen. In der Erinnerung an tausend Fröhlichkeiten, an tausend Scherze und komische Einfälle. Mark Twain…der Name ist von einem ungeheuren Gelächter umbraust. Diesseits und jenseits des Ozeans haben sich drei Menschengenerationen vor Lachen gewälzt über Makr Twain. Man ist seit vierzig Jahren überzeugt davon, daß dieser Mann sich nur mit lustigen Dingen beschäftigt, und jetzt hat er sich dennoch mit der überaus traurigen Angelegenheit des Sterbens befassen müssen.

Er ist tot. Unwiderruflich tot, vollständig und endgültig. So tot, als irgend ein anderer Gentleman in den Vereinigten Staaten, wenn sein Herz nicht mehr schlägt, wenn er mit einem schwarzen Frack bekleidet auf dem Paradebett liegt, um dann, nach zwei Tagen, eingesargt und begraben zu werden. Er kann die Nachricht von seinem Dahinscheiden nicht mehr, wie bei früheren Gelegenheiten, als „stark übertrieben“ bezeichnen. Er kann den Tod nicht mehr durch die bloße Tatsache seiner persönlichen, gutgelaunten Lebendigkeit dementieren. Er ist nun wirklich gestorben, wie alle Menschen sterben müssen. Und er schweigt wie alle Toten, die berühmten und die unberühmten. Kein Wort werden wir mehr von ihm vernehmen. Sein lustiger Name, der vierzig Jahre in einem hellen Strahlenglanz von Humor geleuchtet hat, ist nun von einem schwarzen Trauerrand umgeben; und wir müssen traurig sein, wenn wir von ihm sprechen.

Aber wir bringen es nicht zuwege. Freilich ist der Tod eine verdammt ernsthafte Sache. Auch dann noch, wenn man sich’s vorstellen dürfte, Mark Twain sei wie ein Shakespearescher Spaßmacher gestorben, mit einem Witz auf den erbleichenden Lippen. Leider sind es nur die Theaterfiguren, die so überaus stilvoll zu sterben verstehen. Der selige Wildenbruch, der ein guter preußischer Patriot und ein braver Dichter gewesen ist, hat bei Lebzeiten einmal gesagt, sein letztes Wort werde sicherlich sein: „Ich scheide gern, denn ich habe Deutschland einig und groß gesehen.“ Das nahm er sich aber nur vor, als die Sterbestunde ihm noch dunkel und fern im Zeitenschoße ruhte. Wie dann sein Stündlein wirklich schlug, vergaß er seines Vorhabens, ja er vergaß sogar Deutschlands und rief aus: „Mein Gott, muß ich denn schon sterben?“ Solch rührender Menschlichkeiten brauchte man sich nur zu besinnen, um wehmütig zu werden und um traurig zu sein; nicht nur über Mark Twain, sondern über uns alle, wie wir da sind. Es bleibt da keiner von uns verschont.

Trotzdem: Das richtet uns wieder auf und wir können wieder lächeln. Mark Twain. Er ist fünfundsiebzig Jahre alt geworden, er ist vierzig Jahre lang in der ganzen Welt berühmt gewesen, er hat alles gegeben, was in ihm aufgestapelt war. Er hatte vollendet…und er hatte genossen das irdische Glück. Wenn man dem großen Reichtum von Heiterkeit bedenkt, den er über die Erde ausgestreut hat, wäre es Knauserei, jetzt um die paar Scherze zu jammern, die der alte Mann noch gemacht hätte, und die nun mit ihm in die Erde gesenkt werden. Er ruhe in Frieden.

Er ist, im ganzen genommen, doch ein wenig mehr gewesen als ein Spaßmacher und ein Poet. Dieser lächelnde Dichter war der geistige Vermittler zwischen zwei Erdteilen, zwischen zwei Kulturen. Zwischen der jungen, noch frisch aus dem Barbarischen hervortauchenden harten amerikanischen Kultur, die nach Urwalderde und nach Maschinenöl und Kohlendampf riecht, und zwischen der alten, über und über parfümierten und verfeinerten europäischen Kultur. In Amerika drüben mögen sie jetzt feststellen, was er ihnen gewesen ist. Das bleibt ihre Aufgabe und ihre Sache. Wir können nur davon reden, was er in unserem geistigen Haushalt für einen Platz einnahm.

Und da muß man schon sagen: Kinder, wir haben ihn alle miteinander sehr lieb gehabt. Wir sind sehr vertraut mit ihm gewesen, und wir haben aus seinen Büchern wie auch aus seinem persönlichem Wesen selbst einen starken Begriff von seiner schönen Menschenkraft empfangen. Denn er war ja auch bei uns. Wir haben ihn alle gesehen. Freilich, wie er schon alt war. Dennoch aber ist er damals noch ganz munter gewesen, und es hat uns allen eine Freud bereitet, in dieses berühmte Antlitz zu blicken. Er hatte schöne weiße Haare, die in Locken sein Haupt umwallten. Wie ein amerikanischer Prediger sah er damit aus. Dolch solch weiße Locken an einem alternden Mann erscheinen immer wie eine letzte verblassende Erinnerung von Knabenhaftigkeit und Jünglingsfrische. Er hatte ein kleines, rasch geschwungenes Kinn, das sehr viel Energie verriet. Und er hatte blaue, kluge, fröhliche Augen. Ach wie blau, wie fröhlich waren diese Augen und wie viele Klugheit strahlte aus ihnen. Er muß sehr pfiffig gewesen sein. Und manchmal war ein stählerner Glanz in diesen Augen von Willenshärte und von unerbittlicher Intelligenz. Manchmal lachte aus ihnen der komplette Yankee, der ein halbes Dutzend Europäer spielend in die Tasche steckt.

Es ist nicht zu bezweifeln, daß er dergleichen jeden Moment vermocht hätte. Was für ein kraftvoller, sprühender Mensch ist das gewesen und was für ein Leben hatte er hinter sich. Ich glaube nicht, daß er übermäßig viel gelernt hat, und gewiß hätte irgend ein kritikenschmierender Literat es leicht genug gehabt, an ihm als Schulmeister zu paradieren. Aber das dampfende, blutkochende, eisenklirrende Leben hat er gekannt; hat Schicksale durchgemacht, von denen sich unsere kleinen Schriftsteller-Existenzen nichts träumen lassen. Fing als Setzerbursche in einer winzigen Stadt zu Missouri an, war dann Lotse auf dem Mississippim dann Sekretär seines Bruders im Regierungsamt, dann Goldgräber, dann Provinzredakteur, bis aus all diesen Arbeiten und Stationen langsam der ehrenwerte Samuel Langborne Clemens zu dem weltberühmten Mark Twain sich wandelte. Ein amerikanischer Weg, ein amerikanischer Mensch, der sich mit dem Leben auf allen Straßen herumgerauft hat, der es in allen seinen Höhen und Tiefen kennt, und der dann noch Kraft und Gehirnvorrat genug übrig behält, um diese Riesenarbeit eines großen Schriftstellers zu verrichten.

Er hat uns viel gegeben. Er hat unsere europäische Phantasie angeregt, daß wir uns ein Bild von Amerika aufbauen konnten. Von den amerikanischen Menschen, Städten, Wäldern und Landschaften. Er hat die Vorstellung von Amerika das Lederstrumpfmäßige genommen, das Sentimentale, das falsch Feierliche und das schwindelhaft Abenteuerliche. Dafür hat er in unsere Vorstellung von Amerika etwas von der quecksilbernen Lebendigkeit der neuen großen Städte gebracht, etwas von ihrem tumultuarischen Wirbel, und seine Bücher zuerst ließen uns die Illusion erstehen, als wandelten wir durch den schmetternden Skandal New Yorker Straßen. Aus der amerikanischen Literatur hat man Amerika nur durch die Romane der Harriet Beecher-Stowe gekannt. „Onkel Toms Hütte“, die melancholische Tragik der Sklaverei in den Südstaaten. Dann noch die pietistische Langweile, die in den Büchern der Elisabeth Wetherell dämmerte. Freilich auch die glühenden Farbenbilder, die sentimental überhauchten, aber dichterisch belebten Gemälde von Bretharte. Aber Henry Richard Stoddards Lyrik kennt in breiteren Leserkreisen bei uns niemand. Taylor war von seinem Berliner Gesandtschaftsposten aus der doch mehr dem europäischen Orient zugewendet, der amerikanische Däne Boesen trat uns erst viel später in sichtbare Nähe und den großen Walt Whitman beginnt man in Europa jetzt erst und auch jetzt nur sehr langsam zu erkennen, obwohl er älter gewesen ist als Mark Twain.

Mark Twain aber war schnell populär. Mark Twain hat unsere komische und ernsthafte europäische Menschheit um unzählige komische um unzählige komische und ernshafte amerikanische Menschen bereichert. Er warf uns ganze Rudel von Typen hin, die nun zu unserem hellen Ergötzen auf eine neuartig possierliche Weise durcheinander krabbelten. Er brachte uns ganze Schiffsladungen von Yankees, daß wir an ihrer Buntheit den modernen Amerikaner kennen lernten. Er hat eine unwiderstehliche Art zu erzählen, in einer halbkauten, ausgetrockneten Sprache, Dinge zu sagen, die wie kleine Petarden krachten und vor lebendiger Saftigkeit spritzten. Seine Sprach ist gewiß eigenartig, persönlich und neu gewesen. Sein Eigentum und sein Talent. Sie war nicht in der Luft gewachsen, war nicht vom Himmel herab in seine Brust gefallen. Sie war doch jenem großen amerikanischen Sprachboden entsprossen, der mit allen europäischen Abfällen gedüngt ist, und der nun solch seltsame Keime treibt. Wir haben aus dieser Sprache gelernt, wie die Amerikaner reden, haben durch die Kraft und durch die Extrafarbe seiner Persönlichkeit hindurch die transatlantische Alltäglichkeit erraten. Wenn man uns eine Banane auf den Tisch legt und wir nur ein bißchen nachdenken, können wir uns den Baum vorstellen, der sie trug. Wenn wir sie aufbrechen und ihr Fleisch schmecken, werden wir uns den Boden vorstellen können, der diesen Baum aufwachsen ließ, die Sonne, in der solche Früchte reifen, das Land, darin solche Herrlichkeit alltäglich ist. Er war die Banane auf unserem Tisch. Seine Werke haben sich hier erst mit unserer Phantasie ihren Wirklichkeitsgrund geschaffen. Wir haben sie lebenswahr gefunden, weil sie aus ihrer eigenen Gewalt eine neue Lebenswahrheit und eine neue Wirklichkeit vor uns aufbauten: Amerika. Eine Fülle von Kenntnissen haben wir aus ihm geschöpft, eine Fülle von Ahnungen.

Und eine Fülle von Humor. Ich will seine Werke nicht zerlegen. Wir alle kennen sie. Wir lachen immerfort darüber und erfreuen uns immerfort an ihnen. Erinnert ihr euch seiner Skizze „Die Uhr“? Wie sie jahrelang präzis ging, bis sie einmal stehen blieb, wie alle Uhrmacher sie nicht reparieren konnten, sie immer mehr verdarben, ihm aber gelehrte Vorträge darüber hielten, wie der Uhr eigentlich zu helfen sei. Und wie jeder etwas anderes sagte. Und wie ihm dann bei dem Vortrage des soundsovielten Uhrmachers die Geduld ausgeht, wie er seine Skizze mit den Worten endigt: „Ich schlug ihm sofort den Schädel ein und ließ ihn auf meine Kosten begraben.“ Dies ist das eine.

Oder an seinen Niagarafall. Er steht oben auf dem schmalen Steg, wird vom Schwindel erfaßt und ist im Begriffe, in die Tiefe zu stürzen. „Ich bemerkte, daß ich lieber zu Hause gewesen wäre.“ Man fühlt mit Entsetzen die Katastrophe des Sturzes und muß doch auflachen über die Konstatierung, er wäre lieber zu Hause gewesen. Wie er dann ins Wasser fällt, in den Wirbelstrom, und nur kurz berichtet, „worauf ich sofort mit der Geschwindigkeit von siebzehn Knoten in der Stunden einen Spahn nachzujagen begann, der vor mir einhertrieb“. Was für ein Tempo des Wassers saust uns aus diesem einen Scherzwort an. Man hat den Niagara nie gesehen, aber aus seiner Reisebeschreibung aus seiner feierlichen Schilderung tritt der mächtige Wasserfall so plastisch hervor. Man lacht, man denkt, hier werden nur Witze gemacht; aber dann bemerkt man, man hat einfach den Niagarafall gesehen und man wird ihn nun nicht mehr vergessen. Dies ist das zweite.

Ein Dichter mit einem lachenden Herzen. Eine Tragkraft, die um die ganze Erde reicht, ein Vermittler zwischen zwei Welten. Nun er tot ist, wissen wir, welch einen breiten Schimmer von Fröhlichkeit er in der Welt zurückläßt, welch einen hellen Lichtstreif von Humor. Es wird noch lange dauern, bis das Echo des Lachens verhallt, das er entfesselt hat. Es wird noch lange dauern, bis der lichte Schimmer, den er hinter sich zurückläßt, verblaßt und verdämmert, und bis es finster wird um den Namen Mark Twain.