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Aus dem Pester Lloyd von 1915 & 1916
Desider Kosztolányi
Einst, nach dem Kriege... (1916) Die Abkehr vom Tode (1915)
Dass diese beidem großartigen und zugleich ambivalenten Prosa-Texte Kosztolányis Tod oder Krieg im Titel tragen, hat nicht nur mit der Zeit zu tun, welche diese Schlagzeilen schuf. Der Existenzialismus war ein, ja das Gattungsmerkmal auch der Budapester Bohème, die Wiener sollen sich da nur kein Monopol einbilden. Desider / Dezsö Kosztolányi gehörte wie Mihály Babits oder Frigyes Karinthy zum Literaturkreis "Nyugat" ("Westen") in dessen gleichnamiger Postille er auch veröffentlichte. Er hat in Ungarn seine Anhänger und Bewunderer bis heute, darüber hinaus kennt ihn, wie ungerechterweise so viele Ungarn, kaum jemand. 1920 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband, schrieb zahlreiche Romane und Erzählungen und publizierte - wie auch seine Literatenkollegen - sehr viele Artikel im Pester Lloyd (1930 „Das Motorboot”, Novelle 1932 „Der Gipsengel”, 1933 „Ein Mensch verschwindet”, Novelle, 1938 posthum erschienen: „Meinem Sohn Adam auf den Weg”). Kosztolányi verdiente sein Brot mit Übersetzungen, jene von Büchners Stück "Dantons Tod" führte zu dessen ungarischer Erstaufführung. m.s.
Einst, nach dem Kriege... (1916)
Wenige Tage vor Kriegsausbruch gab es einen kleinen Unfall in meinem Arbeitszimmer. Eigentlich lohnt es sich kaum, darüber zu reden. Mein Schreibtisch war ein bisschen lahm geworden. Auf einem Fuße begann er zu hinken. Anfangs kaum bemerkbar, später offenkundig. Mein erster Gedanke war, zum Tischler zu schicken und ihn ausbessern zu lassen. In jenen Tagen aber konnte man selbst für Gold keinen Handwerker bekommen. Wenigstens hörte ich dies von anderen. Alles blieb beim alten. Mein Schreibtisch hinkte weiter.
Einmal im Winter fiel es mir ein, unter den kranken Fuß ein Hölzchen zu schieben und sein ursprüngliches Gebrechen so zu heilen. Es ging auch schlecht und recht. Dann gab das Füllsel wieder nach. Jetzt hätte ich schon den Ersatz wieder ersetzen müssen. Erst nach dem Durchbruch von Gorlice entschloß ich mich zu neuer Tat. Über das erste Hölzchen steckte ich, sehr erfinderisch, ein zweites. Bald versagte auch dieses. Seither schwankt mein Schreibtisch wieder nur auf drei Beinen, wie irgendein Teufelsgerät. Wenn ich schrieb, musste ich den rechten Arm immer schwer aufstützen und mich ein wenig vorbeugen, damit meine Feder einen festen Stützpunkt bekam. In derartig weltschmerzlicher Pose ließen sich nur die Dichter von einst abkonterfeien. Jetzt lasse ich den Tisch schon hinten, wie es ihm Gott gegeben hat. Ich finde mich mit seinem Gebrechen ab. Und nur in Gedanken lege ich ihm eine Stütze unter. Nach Art der weisen Leute stelle ich durch meine Philosophie das Gleichgewicht wieder her.
So oft ich aber dieses Zimmer betrete, fühle ich etwas von Pflichtversäumnis. Ich weiß, hier steht der invalide Schreibtisch, der die Ordnung in meiner Wohnung stört und das Gefühl der Unbeständigkeit um sich herum züchtet, die nervöse Unsicherheit, dass sich hier gar nicht wohne, sondern bloß abgestiegen bin und bald weiterziehe. Es ist ein kitzliges, hässliches Gefühl. Ich leide sozusagen täglich darunter. Und es wäre doch so leicht abzuhelfen. Man brauchte nur einfach einen Tischler zu holen. Warum hole ich denn keinen? Der Gedanke ist verlockend. Doch einmal habe ich es ausgesprochen: erst „nach dem Kriege...“. Solange mag er bleiben wie er ist. Wenn meine Saumseligkeit mich ärgert und quält, betäube ich mein Gefühl. Bisweilen blicke ich sogar mit einer Art falschen Stolzes auf das kranke Möbelstück, das mit schwankendem Gleichgewicht förmlich aufs Knie gesunken inmitten des Zimmers steht. Dieser Schreibtisch ist empfindlicher als jedes meisterliche Instrument und Seismograph, er zeigt an, dass sich auf Erden ungeheure Erschütterungen vollziehen, er mahnt uns durch seine Ausschwingungen daran, dass heute Menschen und Gesetze andere sind als vordem. Seht: eine seiner Ecken hat sich dem Mittelpunkt der Erde oder – wenn man will – der Hölle zugeneigt.
Dennoch halte ich sein Schicksal noch immer nicht für hoffnungslos. Obgleich es mir seit einiger Zeit etwas verdächtig vorkommt, dass alles erst „nach dem Kriege“ geschehen soll. Heute abend sitze ich wieder in meinem Arbeitszimmer, rauche im Dunkeln und sinne darüber nach, wieviel solche hinkende Schreibtisch es wohl jetzt auf Erden geben mag? Ich glaube, sehr viele. Der meine ist eigentlich bloß ein Sinnbild der vielen. In jedem Hause mag es etwas geben, ein Möbelstück oder anderes, das wir seinerzeit mit dem Gedanken beiseite gestellt haben: „einst, nach dem Kriege...“. Das Möbelstück hat der Staub bedeckt. Man ließ es als Mahnung in irgend einem Winkel stehen, damit man diese Leidenszeit nicht als bleibend betrachte und nicht zu hoffen vergesse. Vorläufig harrt es bloß des Friedens und zeigt – als gespenstisches Uhrwerk – die Zeit des Krieges an, indem es steht.
Dann begegne ich oft Menschen, die – ich merke es erstaunt – überraschende Ähnlichkeit mit dem lahmen Schreibtisch haben. Auch in ihnen ist nicht alles in Ordnung. Vielleicht ist in ihrer Seele etwas zerbrochen in diesen langen zwei Jahren. Sie haben Angelegenheiten, die sie sonst in wenigen Tagen erledigt hätten, für die sie aber, so meinen sie wenigstens, jetzt keine Zeit finden und die sie nun Jahr und Tag herumschleppen. Sie sind ein bisschen unzufrieden, doch auch ein bisschen zufrieden. Denn diese Unabgeschlossenheit ist ebenso angenehm wie unangenehm. Sie befriedigt nicht, aber sie enthebt jeder Verantwortung. Jetzt hat jeder willensschwache Mensch Grund und Vorwand nicht zu arbeiten. Er glaubt von sich selbst ein sittliches Moratorium erhalten zu haben. Ich habe alte Kartenspieler gekannt, die schon auf dem Sprunge waren, sich ihre Leidenschaft anzugewöhnen. Tausendmal haben sie’s verschworen und tausendmal ihren Schwur gebrochen.
Heute halten sie die Karten noch immer fröhlich zwischen den gelben Fingern. Selbstverständlich lohnt es sich erst nach dem Kriege, sich das Kartenspiel abzugewöhnen: Bis dahin ist es nicht der Mühe wert. Die treulosen Frauen? Auch sie warten das Kriegsende ab, um zu ihren Männern zurückzukehren. Die Trinker? Im Weine suchen sie Trost über die Katastrophe der Menschheit. Die Trägen, die Selbstsüchtigen, die Geizigen, die unverbesserlich Schlechten? Alle warten auf jenen Zeitpunkt und faulenzen, betrügen, stehlen. Unmittelbar vor Kriegsausbruch wollten sich viele Ehepaare trennen. Nun haben sie ihre Probleme an den Nagel gehängt, sind unter Aufrechterhaltung ihrer Grundsätze beisammen geblieben und leben jetzt unter dem Deckmantel des Krieges ein Doppelleben: sie setzen das alte fort und hoffen auf das neue, das der Friede bringen soll. Seit Jahrzehnten schreiben die Ärzte über die Unvernünftigkeit der europäischen Ernährung, beweisen durch wissenschaftliche Argumente, dass wir viel zu viel essen, unsere Speisen nicht ordentlich kauen, ihren Geschmack nicht genügend genießen, und stellen uns als nachahmenswertes Beispiel den japanischen Lastträger hin, dessen tägliche Nahrung aus ein paar handvoll Reis und einigen rohen Tomaten besteht. Wir haben diesen Standpunkt stets gewürdigt. Bloß heute nicht, da die Speisekarte dürftiger wurde. Einstmals gab es Pflanzenesser. Heute, da ungefragt jeder zum Vegetarier wird, sind die Apostel des Vegetarismus plötzlich verschwunden.
Große Anklageschriften haben wir gegen das Nikotin verfasst, dessen mörderisches Gift unseren Organismus zerstört. Auch heute gibt es noch Antinikotinisten in schöner Zahl. Sie drängen sich in dichten Reihen vor den Eingängen der Trafiken. Auch heute verkünden sie noch ihre Grundsätze, aber sie verlangen vorderhand Aufschub. Gewähren wir ihn. Laßt uns begreifen, dass sie sich das Rauchen nicht eben jetzt, da Zigarren und Zigaretten knapp sind, abgewöhnen können, sondern erst später, zur Zeit der Fülle. Dereinst, nach dem Kriege.
Dieser Krieg trägt in der ganzen Welt das Motto: „Nach dem Kriege.“ Zuerst hörte ich es im Augenblick der Kriegserklärung. Jemand neben mir sagte: „Der Krieg ist ausgebrochen, heute abend kann ich nicht zu euch kommen.“ „Wann kommst du also?“ „Ich weiß nicht, - einmal, nach dem Kriege.“ Seither höre ich es allerorten. Heute ist es schon eine Redensart, wie: „am St. Nimmerleinstag“ oder „übermorgen!“... Bloß nicht so aufrichtig. Also viel bequemer. Angesichts dieses nebelhaften, unbestimmten Zeitpunktes überlässt sich die Menschheit einer Art verantwortungslos-wohligem Plänemachen. Niemand lügt, nur sagt er „nach dem Kriege...“. Mittlerweile stiert er in die Luft, wie die Opiumraucher. Seien wir darauf vorbereitet, dass wir diesen Menschen auch nach Jahrzehnten in Nachtcafés, am Wirtshaustisch begegnen, nur dass sie dann nicht vorwärts, sondern zurückblicken und mit einer entsagungsvollen Gebärde alles auf Rechnung des Krieges schreiben werden. Wir haben sie längst gekannt, noch in Friedenszeiten. Schon damals war ihre Stirn vom bleichen Mal der Willenslosigkeit gezeichnet. Wir wussten, dass nichts aus ihnen werden würde. Arme, hinfällige Seelen, wollten sie immer nur ruhen, ohne die unbequemen Pflichten des Kampfes. Wie gelegen kam diese ungeheure Ausflucht! Sie scharrten sie sogleich aus der Glut hervor, aus dem blutigen Morast der Schlachtfelder, und hefteten sie sich wie eine tragische Kriegsmedaille auf die Brust.
Es gibt eine nordische Legende, die erzählt, dass man einmal im Mittelalter einen Turm zu bauen begonnen hätte, der Satan aber störte das gottgefällige Werk, der Bau stockte, der Turm blieb unvollendet. Solche halbe Türme sind auch sie, mit ihrem unvollendeten Leben, ihren unausgeführten Plänen. Jedenfalls werden sie auch ihre Legende haben. Sie können sie dem Kriege verdanken.
Im Grunde haben sie nicht recht. Wer arbeiten will und kann, hat längst das Warten aufgegeben und sieht, dass diese schweren Jahre unsere Arbeitszeit, unsere Jugend sind, dass der Krieg unser ganzes Leben ist. Nur der Schwache philosophiert auch heute noch über die Vergänglichkeit des Lebens, nur ihn bringt es zur Verzweiflung, dass er nicht weiß, wo er morgen das Haupt zur Ruhe legt, nur seinen für Jahre berechneten Plan reizt die Ungewissheit entzwei. Denn wenn wir jene für beschränkt halten, die unmittelbar vor der Todesgefahr sich noch putzen und einrichten, so müssen wir alle Sterblichen für beschränkt halten. Hatten wir doch auch im Frieden keine Gewähr dafür, dass wir ewig leben werden. Dem wahren Weisen erscheint das Tun und Lassen der Friedenszeiten ebenso eitel. Goethe sagte in hohem Alter, in Friedensjahren zu Eckermann, es schicke sich schlecht für den Menschen, in steinernen Häusern zu wohnen; viel besser entsprächen ihm das Wohnen in Zelten, das Nomadenleben oder der Gasthof; denn jeder Mensch sei ein bloßer Gast.
Der Mensch der Kriegszeiten ist gar nicht aus Philosophie traurig oder träg, nur aus Bequemlichkeit. Es ist so gekommen, dass der Krieg, der so viel Hoffnungen welken gemacht hat, an Stelle der vielen, vielen kleinen Hoffnungen eine große Hoffnung gab; die, dass nachher alles anders sein wird, dass alles sich ändert, zum Guten wendet. Viel starke Leben hat der Krieg verzehrt, den Schwachen aber hat er neues Leben gegeben. Nie noch hat die Menschheit so viel geträumt, nie so viel gehofft, wie in dieser Zeit, die man „hoffnungslos“ zu nennen pflegt. Flammende, phantastische Pläne brennen in den Seelen und gute Vorsätze, lauter gute Vorsätze. Der Weg zur Hölle – es ist ein alter Spruch – ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Wie es scheint, auch die Wege um die Hölle des Krieges herum...
Der Schreiber dieser Zeilen hat vor langer Zeit, vor mehr als einem Jahre, diese Bemerkung über die menschliche Schwäche aufgezeichnet, mit der Absicht, sie einmal in einem längeren Aufsatz zu entwickeln. Wie recht er hat, erfuhr er an sich selbst. Mehr als einmal betrachtete er in seinem Notizbuch die kleine Anmerkung, doch er legte es immer bald beiseite. Es ist der reine Zufall, dass heute abend sein Auge daran haften blieb und er alldies doch niederschrieb. Lange fürchtete er, dass solche aufs Geratewohl hingeworfenen psychologischen Beobachtungen den Leser überhaupt nicht interessieren könnten. Jetzt, da die Welt so unsäglich Großes, so furchtbar Schmerzlichstes erlebt. Und mehr als einmal dachte er daran, dass er es ein anderes Mal niederschreiben wolle, in besseren Zeiten, ruhiger und schöner, vielleicht einst nach dem Kriege.
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Die Abkehr vom Tode (1915)
Nie ist so viel über den Tod gesprochen und geschrieben worden, wie in den zwanzig, dreißig Jahren, die diesem Kriege vorausgingen. Es gab Zeiten, in denen man sich tiefer mit dem Tode beschäftigte, in specie aeternitatis. Die indischen Weisen oder die altgriechischen Pessimisten sahen ihn in der Dekoration des glühend blauen Himmels und das Mittelalter quälte sich mit ihm, dem im Nebel irrenden Gespenst, dem rasselnden Gerippe, im Sinne des katholischen Glaubens. Wir aber haben in der aufgeklärten und naturwissenschaftlichen Gegenwart beide Zeiten übertroffen. Wir haben eine Mode des Todes geschaffen. Wir haben uns verhängnisvoll und unbezwinglich für den Tod interessiert. Es ist wahr, daß dieses Interesse oberflächlich und selbstgefällig war – wie jede Mode –, doch es lag in der Luft und wurde uns zur Natur.
Ernsthaft rechneten wir nicht mit ihm, wir bereiteten uns nicht auf ihn vor, wir erledigten den Tod, indem wir ihn fortwährend nannten. Unserer Künstler errichteten ihm einen Altar. Todeslieder, Todesdramen, Todesbilder, Todesdenkmäler, wohin wir blickten. Diese Mode kitzelte uns, denn der Tod dünkte uns fern; er erregte uns angenehm, da wir in Wirklichkeit nicht an ihn glaubten und die elektrisierten Sinne neuen Rausch, die satten Magen ein Verdauungspulver begehrten. Aus der Kunst glitt diese Mode auch ins bürgerliche Leben hinüber. Jede Krankheit war von einem gewissen Prestige umgeben. Alle zehn Jahre kamen andere „literarische“ Krankheiten in Verkehr. Anfangs herrschte die Schwindsucht, diese romantische Krankheit der in Sammtjoppen einherlaufenden Bohemiens, der Putzmacherinnen und armseligen Kaffeehausstammgäste; dann löste sie bald die Migräne und Nervenkrankheit ab. Es gab keinen halbwegs ordentlichen Menschen – nicht Künstler, sondern Bürger – mehr, der nicht, wirklich oder auch bloß in der Einbildung, seine kleine Zwangsvorstellung gehabt hätte.
Der Vater überreichte seinem Söhnchen als Geburtstagsgeschenk eine für Kinder bearbeitete billige, doch dauerhafte Zwangsvorstellung. In jeder Leihbibliothek war sie zu vorteilhaftem Preise zu haben. Dies zeugte schon von einem gewissen Ehrgeiz und Selbstbewußtsein. Die Zeit rechnete nicht damit, daß diese Krankheiten in Wirklichkeit überhaupt nicht „poetisch“ sind, sondern schmerzliche Lasten und Mängel, die das Talent mehr beschweren als beschwingen. Sie schuf einen solchen Zauberkreis um diese Krankheiten, daß sie der verirrten Phantasie als Begleiterscheinungen des Genies erschienen und die Neophyten der Kunst und Wissenschaft – infolge einer Art tragischer Selbsttäuschung – mit falscher Folgerung erst diese wichtigen Attribute zu erwerben trachteten, ehe sie auf den Plan traten, und erst dann zu schaffen wagten. „Gesundheitszeugnis?“ Nein, sie ließen sich zuerst ein „Krankheitszeugnis“ ausstellen. Nur eine blasse Frau war interessant. Die Menschen machten Bleichkuren durch und wetteiferten miteinander an Magerkeit und Engbrüstigkeit. Es schickte sich nicht recht zu essen, und ein guter Appetit brachte seinem Besitzer entschieden etwas wie „Schande“. Einst – vielleicht aber schon heute – wird es unglaublich erscheinen, obgleich es Wahrheit ist, daß in der jüngsten Vergangenheit alles mehr Zauber ausübte als die Gesundheit, die man für die dumme Funktion des tierischen Lebens hielt, und daß ungesehen jeder verurteilt wurde, dessen Organe nicht revoltierten. Die Gesundheit war nicht das schaffende Leben, sondern bloß „dumme Gesundheit“.
All dies mag darin seine Erklärung finden, daß diese Zeit von Gesundheit blühte und strotzte, vom gesegneten Lebensüberfluß, und sich fern von den Gefilden abspielte, wo das Verhängnis und die Tragik wohnt. Zynische Millionäre unterhalten sich so, die manchmal die Volksküche besuchen, in Notbaracken wohnen, bunte Gummimanschetten, von Herrschaften abgelegte Gehröcke tragen, um sich zu allen Gütern der Erde auch noch die Sensation des Leidens und des Elends zu verschaffen. Wir, die einstigen Rabobs des Lebens, haben ähnlich in Grüften gezecht. Wir besaßen so viele Lebensschätze, daß wir nicht wußten, was damit anzufangen. Ohne daß wir das Ende, dieses alles Leben abschließende Finale, diese furchtbare Ungerechtigkeit der Natur, die menschliche Tragik begriffen, erraten oder auch nur der Lösung nähergebracht hätten, versenkten wir uns in einen sentimentalen Leidenskult, der infolge der Kontinuität der Beschäftigung unsere müden, unbefriedigten Nerven, unser wissensdurstiges Hirn ein wenig linderte und aus der Krankheit eine Koketterie, aus dem Tod eine leere Mode machte.
Wir entsinnen uns noch jener charakteristischen Gesellschaftsabende, die im Rahmen des Lebens veranstaltet, aber im Grunde dem Tode gewidmet waren. Im Salon, in dem wir uns versammelten, schwelten erstickte und heimliche Erregungen, und die Gesellschaft, die über Richtigkeiten plauderte, nahm sich aus wie eine spiritistische Sitzung. An der Wand hing Beethovens Totenmaske. Nicht so sehr als Huldigung für das musikalische Genie, als vielmehr zur eigenen Erregung. Wir bewunderten auf den kalten Zügen den verebbten Todeskampf, den erstarrten Krampf der Qualen. Weit davon, auf einer Etagere, ein Totenschädel. Jemand hat ihm – sehr kokett – eine Husarenkappe aufgesetzt, mit burschikosen und fröhlichem Akzent, zwischen die Zähne aber eine ägyptische Zigarette gesteckt.
An den Wänden reizten traurige, unselige Bilder unsere Einbildungskraft. Allmählich begannen wir von geheimnisvollen und unerklärlichen seelischen Erlebnissen zu sprechen. Der Nervenarzt führte das Wort. Aber jeder hatte etwas zu sagen. Um Mitternacht erschien dann die Herrin des Hauses in sternenbesticktem, schwarzem Empiregewand, setzte sich lautlos und bedeutsam ans Klavier und ließ die milchfarbenen, schlanken Hände, die nervösen langen Finger auf den Tasten ruhen. Was sollte sie spielen? „Aases Tod“ von Grieg, forderte die Gesellschaft einhellig. Die eine schöne Seele – unter den vielen – lief zum elektrischen Taster und drehte unter der stillschweigenden Zustimmung der anderen das Licht ab; auf das Zimmer sank geheimnisvolles Halbdunkel, nur das glutende Rot des Gasofens beleuchtete zu statuenhafter Plastik die Gestalten, die Hemdbrüste und die Smokings, die geneigten Köpfe und fiebernden Lippen. Schon sprach das Klavier. Man konnte die ersten stählernen Takte vernehmen, die den Kreislauf des Blutes hart und entschieden nachahmten, dann begann das ersterbende Blut zu erbleichen und stocken, der Pulsschlag setzte aus, klimperte unsicher, bis endlich der Tod - pianissimo – dem Pulsschlag und der Musik Halt gebot und die Schönheit im verflackernden Leib des Lebens still wurde und ausklang. Die Fakire des Salons blickten starr ins Nichts. Tief sogen sie den opiumhaltigen Rauch in ihre Lungen. Ihre Hände hingen schlaff – und sehr dekorativ – über die Stuhllehnen. So unterhielten sich die Leute von 1890 bis 1914.
Wie sehr ist dies ein Bild der Vergangenheit! Wir haben die Empfindung, es in einem historischen Buch zu sehen – ein alter Stich aus dem Jahre 1914! – und es nicht mehr verstehen zu können. Heute unterhalten wir uns nicht auf diese Art und sicherlich wird auch in der Zukunft die Unterhaltung anders sein. Heute geht der Tod mitten unter uns. Sein Antlitz ist offen. Er hat sein Visier aufgeschlagen und sieht uns in die Augen. Die ewige Mystik des menschlichen Lebens ist beinahe handgreiflich geworden. Nie sprachen wir so wenig von ihr, wie in diesen Zeiten. Sie hat ihren Zauber verloren. Tagtäglich lesen wir vom Tode Tausender und Abertausender und nehmen die Tatsache mit männlicher und weiser Ruhe, mit gelassener Trauer zur Kenntnis. Doch wir schweigen wie in den Sanatorien, wo Todesfälle häufig sind. Die Schwerkranken merzen – in Selbstverteidigung – den Gedanken des Todes aus. Wir müssen gestehen, daß auch unser Begriff vom Tode selbst sich geändert hat. Nun meldet er sich nicht mehr in der Form von Ahnungen, von unbekannten, aus Fernen kommenden Krankheiten und Nervenkrisen, sondern alltäglich, einfach und versöhnend. Keinerlei Stilisierung. Ehemals mochten ihn die Urmenschen so gesehen haben. Diese Wandlung, das Fehlen des Sicherheitsgefühls hat uns von der Mode des Todes geheilt. Die von der Front heimkehren, die träumen nur mehr vom Leben. Sie wissen keine einzige Geschichte vom Tode. Die Literatur aber, die in Friedenszeiten Schwarz auf Schwarz gehäuft hat, kramt jetzt die roten Farben des Lebens hervor.
Wir hassen wieder den Tod und verachten die Krankheit. Wer wollte sich zurückbegeben in das Panoptikum, das Palmenhaus, in die literarische Schaubude, deren Luft so dumpf und heiß ist, wie die eines überheizten Badezimmers? Das Leben wollen wir und die Sonne, – wieder die Sonne. Die Helden werden nie vergessen, was der in die Tassen strömende gelbe Tee bedeutet und Erdbeeren mit Schlagsahne und der Ofen und das ruhige Zeitunglesen und das Kind und das Heim und die Sommerferien und glitzernde Winterabende, wenn die Schlittschuhe klirren, und die Stimme des Klaviers und das ganze vielfarbige, holde, einzige Leben. Sie, die Heimkehrenden, die Kenner des Lebens, die von der Hölle Freigegebenen, die edlen Männer werden durch ihr von Erfahrung vertieftes Urteil festsetzen, was wir für wertvoll halten und was wir verwerfen sollen. Kein Zweifel, daß die Gesundheit das Fleisch, die roten Wangen wieder zu Ehren kommen und Künstler und Schriftsteller sich in den Dienst des Lebens begeben. Wir werden nicht mehr auf der Stirn des Genies nach Lombrososchen Auswüchsen suchen. Wir glauben an gesunde Genies. Wir drehen in unseren Salons die elektrischen Lichter auf. Wir treffen uns in flammendem Sonnenschein, starke, sehnige, lachende Männer, die einander kräftig die Hand schütteln. Es wird Mode werden, fröhlich, gesund, einfach, rechtschaffen, groß zu sein, es wird wieder Mode werden zu leben. Der Tod aber, das ungelöste Problem des Lebens, kommt wieder ins Laboratorium, isoliert, wie ein Pestbazillus. Vielleicht werden wir weniger über ihn reden und schreiben, aber mehr gegen ihn arbeiten, wir Dichter, Gelehrte, Politiker und Philosophen, die bisher seinen bitteren Geschmack nur als Würze in unseren Trank gemischt haben. Die Mode des Todes ward von der Mode des Lebens abgelöst.
Jene Zeit, die vergangen ist, führte den Wahlspruch des Mittelalters: Memento mori! Mich dünkt es, die Zukunft ruft uns zu: Memento vivere!
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