Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1917

Franz Ferdinand Baumgarten

Pesth

Der Verfasser des nachfolgenden Essays, ein Ungar durch Geburt und Familienbeziehungen, ist ein in Deutschland hochgeschätzter Ästhetiker, der zuletzt durch sein auch im Pester Lloyd eingehend besprochenes Werk über Konrad Ferdinand Meyer sich die schmeichelhafte Anerkennung der ganzen deutschen Kritik erworben hat. Seine nachfolgenden Ausführungen über das Stadtbild von Budapest wird jedermann interresant finden, wenn auch gegen manche seiner ästhetischen Werturteile sich berechtigter Widerspruch regen dürfte. Die Persönlichkeit des Verfassers und auch seine originelle Auffassung von dem künstlerischen Wachstum unserer Hauptstadt rechtfertigt durchaus die ungekürzte Veröffentlichung seiner Arbeit, obgleich wir - wie gesagt - nicht mit allen seinen Urteilsschlüssen einverstanden sind.

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Gewiß, es hat ursprünglichere und leidenschaftlichere Kulturen gegeben als die des Klassizismus, aber er ist die letzte Kulturepoche Europas, nach ihm kam die Barbarei. Nirgend in Europa ist der kulturelle Zusammenbruch so grausam hoffnungslos gewesen wie in Budapest, nirgend ist er in sichtbaren Wahrzeichen so sichtbar verewigt wie hier, wo neben den feinen klassizistischen Bauten der Bürgerstadt Pesth die gespenstisch häßlichen Ausgeburten der Kolonialstadt Budapest stehen. Die Barbarei wird noch unterstrichen durch das blanke Prunken der Parvenübauten und die schamlose Vernachlässigung der alten Edelbauten. Der Verfall des alten Lloyd-Gebäudes brennt jeden Sehenden wie eine Wunde und ist eine Schmach der ganzen Stadt. Das vormärzliche Pesth war, London und Kopenhagen ebenbürtig, eine der reizvollsten klassizistischen Städte Europas. Das moderne Budapest übertrifft in aufdringlicher Häßlichkeit sogar Berlin.

Die Leopoldstadt, das zur Zeit der Stilwandlung neuenstandene Viertel, wurde im Zeichen des Klassizismus erbaut. Bevor das aufgelassene Getto von diesem Stadtteil Besitz ergriff, war er das aristokratisch-fashionable Viertel Pesths, die Stätte der klassizistischen Adelssitze, wie London zwischen St. James Palace und Hyde Park Corner. Wie dort Apsley-House und Grosvenor-House, standen hier die Palais Wenckheim, Festetics, Nádasdy usw.

Mit Peter Leopold, dem bedeutendsten von Maria Theresiens vier berühmten Kindern, von Kaiser Joseph und den Königinnen von Frankreich und der beiden Sizilien, hielt der Klassizismus Einzug an den Donauufern. König Leopold war der Sohn der letzten deutschen Habsburgerin und des letzten französischen Lothringers, ein Enkel der ersten Protestantin auf Habsburgs Thron, der Welfin, aus diesem Geschlecht der kultiviertesten Frauen, dem auch Mutter und Großmutter des großen Friedrich entstammten. Bevor er im Habsburgerreich das gleiche tat, hatte er bereits nach seinem Großherzogtum Toskana die Antike gebracht. Es war ein symbolischer Akt, als er die Niobe von Rom aus der Villa Medici nach Florenz schaffen ließ. Auch das Pesther Stadtviertel, das unter ihm angelegt wurde und von ihm den Namen hat, trägt das Gepräge des Empire. Leopolds Sohn, der Palatin Josef, und Stefan Széchenyi, letzterer durch seine englischen Sympathien dem dort blühenden Klassizismus zugeführt, betrieben den Ausbau. Der Stadtteil wurde schachbrettartig angelegt: ein Netz von rechtwinkligen Straßen, gezogen um eine Lang- und eine Querachse. Die Langachse von Süden nach Norden, angelegt als Verbindung der beiden Gartenplätze, des Josefplatzes und des heute aufgelassenen Promenadenplatzes. Die Querachse von Westen nach Norden, gedacht als Mittlerin des Verkehrs der zwei Stadthälften rechts und links der Donau. An ihren Endpunkten standen die beiden dominierenden Bauten des Viertels, die Kettenbrücke, ganz im Stil des englischen Klassizismus erbaut, und die Basilika, im Sinne des deutschen Klassizismus geplant. Das Beste an der heute im Stil des Frühbarock ausgebauten Basilika sind die Teile, die auf jenen Plan zurückgehen. Wäre er ausgeführt worden, so hätte sich der Empirebaustil der Leopoldstadt in einem großen Denkmal vollendet, ähnlich dem Dom, der von Esztergom mit Schinkels edlem Geist hinabgrüßt in das Donautal.

Die Langachse, die heute dankbar den Namen des Bauherrn-Protektors, des Erzherzog-Palatins trägt, und der Platz, wo Széchenyi im Angesicht seiner Schöpfung, der Kettenbrücke, wohnte, sind die Stätten der schönsten Empirebauten Budapests. Nur das Nationalmuseum und das Palais Graf Sándor, jetzt Ministerpräsidium, wären besonders zu nennen.

Noch zu meiner Jugendzeit war der Franz-Josef-Platz einer der schönsten Plätze Europas. Heute ist seine adelige Schönheit befleckt durch gespenstisch häßliche Bauten, durch die sogenannten “Palais” der Kommerzialbank und der Greshamgesellschaft, in denen die Instinktlosigkeit des freigelassenen Gettos und die Jahrmarktphantastik der ungarischen Prärie Orgien feiert. Man bestimmt doch den Mistbauern, wo sie ihren Mist abladen dürfen - warum gestattet man der Hochfinanz, ohne Präventivzensur zu bauen; Wie jede Wohnung, hat auch jede Stadt ihre Prunkstube, den Schmuckplatz, wo sie ihre Gäste empfängt. Die Piazetta oder die Place de la Concorde von Budapest ist der Franz-Josef-Platz, mit ihm hält die Stadt den Besucher fest: “Schau, Wandrer, her, wie schön ich bin!” Den Hintergrund bildet eine Kulisse von klassizistischen Bauten, das Dianabad, das alte Greshamgebäude - an der Stelle, wo heute jene modernen Ungeheuer stehen -, dann die Palais Nákó und Szitányi-Ullmann (später Hotel Europe, heute Oberstadthauptmannschaft). Das Palais Ullmann, das Heim einer jüdischen Patrizierfamilie am schönsten Platz der Stadt, grenzend an einen Adelssitz und mit dem Blick auf das Königschloß, wäre die Analogie zu dem Londoner Rothschild-Palais, das in der Nachbarschaft des Herzog-Wellington-Schlosses am Hydepark-Corner liegt, Buckingham-Palace, dem englischen Königssitz, gegenüber. Diese einheitliche und durch rhythmische Gliederung abwechslungsreiche Kulisse wird durch die Seitenwände, das würdevoll ausladende Lloyd-Gebäude, in dem die Empiremelodie mit mächtigem Akkord aufschwingt, und das renaissancehafte, immerhin noch recht anständige Akademiepalais zur geschlossenen Szene, die sich gegen Sonnenuntergang dem herrlichen Prospekt des Donaustromes und der Ofner Berge offen entgegenbreitet.
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Gleich an der Ecke der Palatingasse, als Eingangspforte zur Querachse des Viertels, steht das vornehm-heitere Wenckheim-Palais, jetzt Anglobank. Man muß das von plumoer Hand aufgesetzte dritte Stockwerk wegdenken, um wieder ungestört der abgewogenen Harmonie des Baues froh werden zu können. Den schönen Hof zieren reizvolle Medaillons. Die Kreuzung von Zriny- und Palatingasse betonen drei alte Bauten: die Hypothekenbank, die Gewerbebank und das Festetics-Palais. Um den Unterschied zwischen alt und neu, zwischen schön und häßlich, zwischen Tradition und Parvenütum vor die Augen zu führen, stellte man an die dritte Ecke den kindisch-protzigen Kitsch des Leopoldstädter Kasinos. Hier stehen sie sich gegenüber, Vergangenheit und Gegenwart der Leopoldstädter Palais Festetics und Leopoldstädter Kasino! An dem schönen alten Bau der Gewerbebank hat man sich durch die barbarische Verbauung des Hofes versündigt. Auch der Hof der Hypothekenbank ist durch Umbau verdorben, außerdem ist die typische Biedermeierfassade dieses edlen Baues durch Marmor- und Gipsverzierungen verunstaltet. So eine Bank denkt: wir können´s uns leisten, und aus ihrem Friseurgeschmack heraus verschönt sie mit der billigen Schminke von Gips und Marmor die kostspielige Einfachheit alter Palais. Immerhin war es eine glücklichere Zeit, als die Banken sich damit begnügten, alte Bauten zu verhunzen, statt durch Neubauten die ganze Stadt zu verunzieren. So wurden wenigstens die alten Gebäude, die heute verkommen, erhalten und von neuen Bankbauten wurde man verschont. Jetzt haben aber die Banken den Wettbewerb angetreten, wer wohl mit der größten Anmaßung das Häßlichste zustande brächte, wobei sie allen den ersten Preis gewannen, die Österreichisch-Ungarische Bank und die Kreditbank, die Kommerzialbank und die Vaterländische Bank.

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Was verschuldete den künstlerischen und kulturellen Verfall Budapests? Wie unpopulär es auch sein mag, soll es doch gesagt sein: die Magyarisierung und die Judaisierung. Das vormärzliche Budapest war typisch deutsch, ein östlich vorgeschobener Posten von deutschem Bürgergeist, eine deutsche Pionierstadt. Sie hatte eine altansässige Bürgerbevölkerung mit spärlichem Zuzug, der ganz überwiegend aus dem Westen kam. Ach das, schon damals, zahlreiche jüdische Element stammte von dort. Es waren Auswanderer aus den Getti- deutscher Bischofs- und Reichsstädte (Köln, Speyer, Worms, Bamberg, Frankfurt). Sie kamen aus dem Schatten romanischer und gotischer Dome und brachten nach der neuen Heimat die Kulturtrationen westlicher Juden und die der Wüstensehnsucht Israels vermählte deutsche Inbrunst. In den sechziger Jahren aber brach die Invasion der ungarischen Prärie und des östlichen Gettos herein über Budapest, eine Flut, die seitdem von Jahr zu Jahr steigt und bald alle Kultur verschlungen haben wird. Sie Söhne und Enkel der herbeigeströmten östlichen Juden sind keine Kulturträger geworden, wenn sie auch Glauben und Namen veränderten und klangvolle Titel kauften. Auch die neu zugezogene Gentry blieb jeder besseren Kultur abhold, nur in der Aneignung der äußerlichen Erscheinungen europäischer Zivilisation (Luxus, Komfort) bewies sie im Gegensatz zum Judentum Geschick und Grazie. Vollends kulturlos blieben die reichgewordenen Bauern. Die alten Kulturträger: ungarische Aristokratie, deutsches Bürgertum und westliches Judentum, wurden majorisiert, dann verdrängt. Mit Gewissen und generösen Instinkten erblich belastet, mußten sie dem östlichen Ansturm hemmungsloser Lebensgier weichen. Die “Zugereisten” und “Hergelaufenen”, wie man sie im alten Pesth nannte, geben heute der Stadt das Gepräge. Budapest wurde die typische Kolonialstadt, wo die wenigsten in der Stadt geboren sind und man die zählen kann, deren Groß- und Urgroßväter schon hier ansässig waren, eine Stadt, in die die entwurzelte Bevölkerung eines ganzen Landes zusammenströmt, ohne Zärtlichkeit für die Stätte, in der sie nur den Erwerb un d nicht den sinnlich verfeinerten Genuß sucht. In Kolonialstädten malt sich immer die Lieb- und Geistlosigkeit ihrer Bewohner. Kultur und Schönheit sind nicht feil für Geld. Nicht mal durch Bildung zu erwerben. Kultur sitzt im Blut. Kultur muß man erben. Kultur muß man hüten, darum war auch das Pesther Bürgertum, wie jedes andere, exklusiv, wählerisch in connubium und commercium. Die Kultur des Bürgertum sist, weil ganz auf Charakter und Geist, d.h. auf Innerlichkeit gestellt, gefährderter als die auf Macht und Instinkt fußende und mehr auf die repräsentative Allüre gerichtete aritokratische Kultur. Darum ist jedes angesessene Bürgertum noch abgeschlossener als der Adel. Das ist begründet in seiner Aufgabe, das Bürgerblut, den Hauptfaktor aller Kultur seit Athen und Florenz, rein zu erhalten. Nur die Plebejerborniertheit von Kaffeehausliteraten mag über Bourgoisdünkel spotten.

Schönheit ist etwas Sekundäres, etwas, das sich ergibt. Literaten, die, weil sie unverfälschter Balkan sind, mit verräterischer Levantinerpose sich pariserisch gebärden, meinen, Kunst sei Können. Gewiß! - aber nur für die, die außerdem schon Gesinnung und Liebe haben. Kunst und Schönheit kommen von Religion, von Bürgergesinnung und von Handwerkerliebe. Alle großen Künstler waren Bourgeois. Am ausgesprochensten die bourgeoisfeindlichen wie Flaubert und Baudelaire.

Die Literatendummheit meint, Talent,  - die Oberlehrer- und Pastorendummheit, der Geist genüge zur Kultur. Aber das Wissen um das Höchste und der Wille zum Besten helfen nicht zur Leistung. Kultur ist seit Generationen vererbter, in Blut und Instinkt übergegangener Geist. Kultur ist in erster Linie nicht Talent oder Bildung oder Geist. Kultur ist Haltung.

Im alten Pesth hat es nicht mehr Talente und nicht mehr Bildung und Geist gegeben als im heutigen, aber unvergleichlich mehr Haltung, Charakter, Gesinnung, generöse Instinkte. Darum ergab sich die Schönheit von selbst. Weil die Bauherren von damals Aristokraten und altangesessene Bürger waren, entstanden schöne Bauten. Die Auftraggeber sind für die Kunst fast ebenso wichtig wie die Künstler. Jede Zeit hat die Künstler, die sie verdient.

Kultur ist keine individuelle Begabung und kein Erziehungsprodukt. Künstler machen noch keine Kultur und nicht durch erklügelte Lehrpläne und Kunstaustellungen zieht man Kultur groß. Familien, in denen es seit Jahrzehnten vererbtes Gerät, einen wohlgeordneten Wäscheschrank und alten Wohlstand gibt, sind der Nährboden aller Kultur. Aus solchem Mlilieu stammen fast ausnahmslos alle großen Künstler und noch restloser alle Kulturmittler und Kunstförderer. Nicht umsonst nennt man die Kunst der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts “Biedermeier”. Weil in jener Zeit die “Biedermeier” den Ton angaben, konnte eine so allumfassende Kultur entstehen, die Kultur Goethes, Beethovens und Thorwaldens, die Kultur des gebildeten, reichen, erbangesessenen, charakterfesten, verantwortungsbewußten Bürgertums. Wie dies Bürgertum durch den Ansturm der Gründer, der Opportunisten, der Bohemes, der Abenteurer, des Bankkapitalismus und des amerikanischen Unternehmertums verdrängt wurde, ging die Kultur in Europa zugrunde. So auch in Pesth. Die kleine, arme, vormärzliche Stadt stand auf europäischem Kulturniveau, die reiche, fiebrig bewegte Kolonialgroßstadt droht, in vollkommene Barbarei zu versinken.