Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1917

Richard Charmatz

Die Prophetin von gestern

Mitten im immer aussichtsloser werdenden Kriegsgewühl, versucht der Autor dieser Zeilen die Erinnerung an die vor drei Jahren verstorbene Friedensaktivistin wach zu rufen. Keine leichte Sache, den solche Zeilen konnten als moralzersetzend umstandlos der Zensur zum Opfer fallen. Auch der Pester Lloyd stimmte zunächst in das allgemeine Schlachtengeheul ein, nationalistisch triefende Hurra-Artikel waren die Regel, Nachdenkliches blieb die Ausnahme. Wachsend war die Sorge der Autoren, was wohl aus Ungarn werden würde, wenn das Land auf der Verliererseite steht. Was wurde, ist bekannt, ihr Patriotismus nutzte vielen Redakteuren nichts, sie wurden von Ungarn zu Juden, von Patrioten zu Volksfeinden gemacht und vertrieben oder vernichtet. m.s.

Rasch reift die Zeit. Was gestern noch Prophezeiung war; Verkündung einer fernen Glückseligkeit, ist heute schon so nahe gerückt, daß alle Welt davon spricht und daß man in ihm bereits die nächste Phase der menschlichen Entwicklung gekennzeichnet sieht. Hinter dem Gewölk der Gegenwart, das die sich bekämpfenden und zerfleischenden Staaten umgibt, liegt verheißungsvoll wie der junge Morgen das feste Rechtsgebäude einer friedvollen Völkerfamilie und Staatengemeinschaft, eines kriegsabgewandten, der kulturellen Arbeit und der sittlichen Vertiefung lebenden Geschlechts. Papst Benedikt VX. hat den Weg nach dem Neuland gewiesen und Österreich-Ungarn, daß seiner hohen Sendung als Vermittlungsmacht zwischen West und Ost immer treu geblieben ist, hat sich den hochfliegenden Gedanken zu eigen gemacht. Die Erhaltung des Friedens war die Sorge und das Ziel langer Jahrzehnte; nun, inmitten des Waffenlärms, der nimmerruhenden Kämpfe, denkt man schon daran, den Frieden der Zukunft zu einer ungetrübten Wahrheit werden zu lassen, ihm eine gesicherte Grundlage und eine unumstößliche Ordnung zu verleihen, also das Kommende vollendeter und ersprießlicher als die Vergangenheit zu gestalten.

Da geziemt es sich wohl, an eine schlichte, tapfere Frau zu erinnern, an eine viel verlachte, viel verkannte, aber auch heiß und innig geliebte Kämpferin. Berta v. Suttner war die Tochter eines Feldmarschalleutnants, und sie gehörte als geborene Gräfin Kinsky einem Hause an, das der Armee viele Offiziere gegeben hatte. Doch ihr Ehrgeiz galt nicht den Lorbeeren des Siegers im rauhen Vernichtungskriege, sondern der Palme des Friedens, der Befreiung der Menschheit von der Erneuerung der furchtbaren Blutopfer, der Sicherung des ungestörten Glückes, das im geistigen und wirtschaftlichen Wettstreite erblüht. So lange die Waffen ruhten und man nicht wußte, was Kriegführen heißt, so lange man glaubte, daß Europa vor einem großen, zerstörenden Brande gefeit sei, blieb die besorgte und sorgende Frau eine Ruferin in der Wüste. Sie starb wenige Wochen, ehe die altgewohnten Beziehungen von Land zu Land zerrissen und die zarten Bande der zwischenstaatlichen Organisation wie morscher Zunder zerfielen. Nun, da Berta v. Suttner tot ist, will es uns jedoch scheinen, als würde ihre einst so schwache Stimme wie Posaunenschall in unsere Ohren dringen, unsere Herzen aufrichten, unsere Gemüter erfrischen und uns den ersehnten Trost bieten, daß den Schmerzen der Stunde der Segen der Zukunft folgen werde. Wahrhaftig, wer vermöchte noch zu lächeln, mitleidig und gedankenlos, auf die "Friedensberta" hinabzublicken? Der hämische Witz ist verflogen...

In ihren wenig beachteten Memoiren hat Baronin Suttner vor acht Jahren erzählt, wie sie für die Friedensbewegung gewonnen wurde. Es war im Frühjahr 1887. Eine schwüle, gewitterschwangere Luft verriet wieder einmal nichts Gutes. Von Krieg und Kampf wurde allenthalben gesprochen, jeden Augenblick drohte ein Brand im Südosten des Erdteils auszubrechen. Da hörte Baronin Suttner zum ersten Male in ihrem Leben, daß es eine Friedensbewegung gebe, ein schwaches, zartes Pflänzchen zwar noch, aber immerhin einen Ansatz. Dieses Bewußtsein ließ sie nicht ruhen, und die in der Welt viel herumgekommene Frau wurde mit Allgewalt von einer neuen Idee ergriffen, in einen neuen Wirkungskreis hineingetrieben. Noch lagen die Korrekturseiten für ein Buch "das Maschinenzeitalter" vor ihr, das anonym seinen Weg machen sollte. Hastig fügte sie ein Kapitel "Zukunftsausblicke" hinzu, in dem von der werdenden Friedensbewegung Kunde gegeben wurde. Die Schrift erregte einiges Aufsehen, Max Nordau und andere galten als Verfasser. An Berta v. Suttner dachte niemand. Sie wohnte einmal in Wien einer Unterhaltung bei, die dem anregenden Buche gewidmet war. Als sie unschuldig meinte, sie müßte sich doch endlich die merkwürdige Schrift verschaffen, rief ein Herr zweifelnd aus: "Oh, das ist kein Buch für Damen." Als dann Berta v. Suttner in die Friedensbewegung eingriff, als Frau zu dem Problem der Politik Stellung nahm und den altgewohnten Methoden die Fehde ansagte, da mochten gleichfalls viele der Anschauung huldigen: "Oh, das ist keine Beschäftigung für Damen."

Wir denken anders, wenn wir jetzt, inmitten des Weltkrieges, auf das Denkmal blicken, das Alfred H. Fried in zwei wuchtigen Bänden der rührigen Vorkämpferin gewidmet hat. Es war ihr eigener Wunsch, daß ihre "Randglossen zur Zeitgeschichte", die durch fast zwei Jahrzehnte von Monat zu Monat erschienen, gesammelt und für einen größeren Leserkreis veröffentlicht werden mögen. Die Nachwelt sollte dadurch in die Lage kommen, sich eine zutreffende Vorstellung von dem Wollen und Streben, Glauben und Hoffen der verkannten Verfasserin des Romans "Die Waffen nieder!" zu verschaffen. Diese Sehnsucht ist nun erfüllt. Das Werk "Der Kampf um die Vermeidung des Weltkrieges" bildet nicht bloß einen interessanten Führer durch die Staaten- und Kulturgeschichte der jüngsten Friedensvergangenheit, nicht allein einen anregenden Kommentar zu den Tagesvorgängen der manches für gering Gehaltene als bedeutungsvoll hervorhebt, und manches, das allgemein hoch gewertet wurde, zerpflückt, sondern auch ein Spiegelbild der Ideen und der Entfaltung Berta v. Suttners.

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Der Strebende und Suchende irrt oft, braucht eine gewisse Zeit, bis er den richtigen Weg findet, um dann geradeaus der Höhe zuzueilen. Am Anfang war auch bei Berta v. Suttern der Dilettantismus vorherrschend, die Utopie maßgebend. Sie begann an der falschen Seite und setzte den Hebel so an, daß er den Block nicht in Bewegung bringen konnte. Allmählich jedoch streifte sie die Irrtümer ab. Nicht die Abrüstung stand nunmehr im Vordergrund. "Die Waffen nieder!", das hörte auf das leitende Schlagwort zu sein. Ausbau der internationalen Organisation, Schaffung eines Schiedsgerichtshofes, Bekämpfung der rohen Instinkte, Pflege der friedfertigen Gesinnungen: mit diesen Mitteln forderte die Friedensfreundin ihr Jahrhundert in die Schranken. Von der Utopie schritt sie zur Wissenschaft vor; ihr Pazifismus beinhaltete ein ausgebildetes, umgewertetes Völkerrecht.

Berta v. Suttner war eine fleißige Schriftstellerin. Aber geistreiche Aussprüche, blendende Wendungen, hinreißend und nachklingende Appelle entströmten nicht ihrer Feder. Ihre Stärke lag in ihrem Fühlen, nicht in ihrem Gestalten. Es ist auch merkwürdig, wie wenig sie ihre umfassende Bildung und ihre vielfältigen Erlebnisse zu verwerten wußte; kaum das eine oder andere Mal stellte sich eine fesselnde Erinnerung, ein anziehendes Gleichnis, eine geschichtliche Reminiszenz ein. Ebensowenig verstand sie es, die Geschehnisse in ihren letzten Ursachen zu verfolgen und gleichsam die zartesten Wurzelfasern bloßzulegen. So stand sie nicht hoch über den Dingen; so konnte es geschehen, daß sie sich in ihrer Chronik gar oft irrte, daß sie nicht selten zu früh jubelte und Personen huldigte, die den Weihrauch nicht verdienten. Alles kam bei ihr aus einem glühenden, reinen, edlen Herzen. Sie blieb auch Frau als Kämpferin. Dies war Vorzug und Nachteil, je nachdem. Das eine Mal jauchzte sie auf und das früher Ferne schien ganz nahe gekommen, etwa damals, als von dem Schiedsgerichtsvertrage der Vereinigten Staaten von Amerika und Englands die Rede war oder als Zar Nikolaus sein Friedensmanifest erließ. Ein andermal - als Tolstoi seine Flugschrift: "Du sollst nicht töten" veröffentlichte - schrieb sie resigniert: "Es wird anscheinend noch lange dauern, bis dieses seit sechstausend Jahren ungehört verhallende Wort endlich Gehör findet. In die innere Gesetzgebung der Staaten und in bezug auf Einzeltaten von Privatpersonen hat es schon Eingang gefunden, als Weltgesetz - und so war es von Moses bis Tolstoi gemeint - ist es allen Realpolitikern noch gänzlich unbekannt."

Voll Zuversicht blickte Baronin Suttner auf Kaiser Wilhelm II. Sie begleitete ihn als Zeitchronistin von Ort zu Ort, prüfte seine Reden und Kundgebungen und hoffte schließlich, daß er eines schönen Morgens "vielleicht selber an die Spitze der großen Friedensliga der Regierungen" treten werde. Hatte er ja zu dem französischen Militärattaché das inhaltsreiche Wort gesagt: "Europa ist zu klein, um geteilt zu sein." War er doch stets bemüht gewesen, die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und England zu festigen. Als einen seiner heißesten Wünsche bezeichnete er, mit den Briten auf bestem Fuße zu leben. "Bin ich je meinem Vorsatze untreu geworden?" fragte er, und fügte hinzu: "Lüge und Falschheit sind mir fremd." - Mit welch froher Genugtuung verzeichnete Berta v. Suttner solche Äußerungen! "Verständigung, gemeinsame Arbeit, hochsinnige Geister," meinte sie, "in diesen drei Wortformen läßt sich der ganze Pazifismus gießen."

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Am 9. Mai 1914 schickte die warmherzige Kämpferin ihre letzten Glossen an die "Friedens-Warte". Sie begannen mit dem Satz: "Das für uns unglaublichste, unbegreiflichste, schmerzlichste Ereignis der jüngsten Wochen war der plötzlich nahe gebrachte Kriegsausbruch zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko. Da war unser stolzestes, sicherstes, mit den schönsten Hoffnungen befrachtetes Friedensschiff wie von einem Eisberg angerannt..." Mehr zu schauen, unvergleichlich Furchtbareres zu erleben, blieb der alten Dame erspart; ehe der Friede dahinsank, drückte das Schicksal Berta v. Suttner die Augen zu.

War´s Zufall, war´s Ahnung des eigenen Geschickes, daß sie kurz vorher ausführlicher als sonst über John Galsworthys Drama "The mob" berichtet hatte. Der Held des Stückes Stephen More bekämpft den Krieg, der eben von England gegen ein kleines Volk geführt wird. Die Freunde wenden sich von ihm ab; die politischen Gefährten sagen sich von ihm los; selbst seine Frau verläßt ihn. Doch noch bleibt eine Hoffnung, ein Trost: das Volk, das von dem Krieg am schwersten getroffen wird, muß auf seiner Seite ausharren. Aber auch die Masse läßt ihn im Stich. Man beschimpft ihn, nennt ihn einen Vaterlandsverräter, und schließlich sinkt er, von den Steinen des Volkes zu Tode getroffen, nieder. Der Vorhang hebt sich jedoch noch einmal. Reges Leben herrscht in einer Londoner Straße. Jahre sind seit dem Tode Stephen More´s verflossen, und nun wird sein Denkmal enthüllt. Auf dem Sockel liest man die Inschrift: "Errichtet vom Lande zum ewigen Gedächtnis" und: "Dem seinen Idealen Getreuen."

Wenn der Weltkrieg vorüber sein wird, wenn eine reinere Luft über glückliche Staaten wehen und freiere, friedenssichere Menschen umfächeln wird, dann, erst dann werden alle ausnahmslos Berta v. Suttner den so lange vorenthaltenen Dank zollen. Bis dahin aber mögen viele in ihren Werken blättern und besonders ihren "Randglossen zur Zeitgeschichte" Aufmerksamkeit schenken. Wohl tobt der Krieg weiter und die Gegenwart zwingt das Schwert fest in der Hand zu halten. Doch dabei soll der Glaube an die Zukunft nicht ersterben. Berta v. Suttner stärkt und festigt ihn...