Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1918

Marzell Kadosa

Von der Wissenschaft zur Utopie

In diesem Jahr kehrt zum hundertsten Male der Tag wieder, an dem einer der größten Phantasten und Illusionisten der Menschheit, Karl Marx, geboren wurde. Strebsame, gelehrte Professoren lauern schon seit Jahren auf diesen Tag. Denn über Marx wurde schon so viel zusammengeschrieben, dass sie seit einiger Zeit zum Schweigen verurteilt sind. Nun aber ist wieder die Gelegenheit für tausend Bücher, zehntausend Broschüren, hunderttausend Festartikel da, und alle werden wieder ihre Gelehrsamkeit auskramen, die einen, um Marx zum millionsten Mal zu retten, die anderen, um ihn zum millionsten Mal zu vernichten, ein dritter Teil endlich, um uns klarzumachen, was von Marxens Theorie heute noch gilt und was davon das Leben endgültig zerstört hat.

Denn vor den Menschen gilt nur derjenige etwas, der Erfolg oder, wie man zu sagen pflegt, der Recht hat. Sie haben keine Ahnung davon, dass der Wert der großen Menschheitslehrer unberührt davon bleibt, ob sich ihre Thesen im Laufe der Zeit als wahr erweisen oder als irrig. Denn auch die heiligste Wahrheit geht meist nur in arger Verdünnung in das Bewußtsein der Menschen über, und meist erst dann, wenn man sie bereits mißversteht.

„Was mich angeht, so bin ich nicht Marxist“, sagte Marx, als längst alle Welt Marxist war. Denn damals hatte das, was die Menschen für Marxismus hielten und wie ein Gebet aussprachen, längst nichts mehr damit zu tun, was Marx als seine These erklärt und formuliert hatte. Immer greift die Menge jenen Lehrsatz des Meisters am gierigsten auf, immer erscheint ihr derjenige am einleuchtendsten, den er selbst nur unter großen Skrupeln auszusprechen wagte: „Von der Utopie zur Wissenschaft“ – so wurde Marxens Sozialismus gekennzeichnet, und er selbst legte im Kommunistischen Manifest auf diese Bezeichnung Wert. Mit beißender Ironie und zorniger Rücksichtslosigkeit geht er dort allen zu Leibe, die sich vor ihm mit dem Sozialismus befaßt hatten, die stets nur leere Phantasien und rückhaltlose Illusionen zustande brachten, ja die Menschheit bösartig irreleiteten, da keiner das große Geheimnis, die Welt zu verstehen, errungen hatte: dass nämlich die Geschichte der Menschheit nicht die Geschichte des Geistes, sondern die Geschichte der wirtschaftlichen Gestaltung, und dass die treibende Kraft der Weltgeschichte nicht die Philosophie, sondern die Volkswirtschaft sei.

(…) So wie es unter Millionen Christen kaum einen gibt, der genau nach den Lehren Christi leben würde, ebenso wird man auch unter den zehn Millionen Sozialisten vergebens auch nur einen suchen, der sich streng an Marx hält. Daran nämlich, dass all das, dessen Abänderung die Menschen zu erstreben pflegen – also Rechtsordnung, Politik, Moral – dass dies alles bloß den Überbau darstellt, den anzutasten zwecklos ist, so lang das Fundament nicht neu aufgeführt wird. Da es der Mehrzahl der Menschen zu allen Zeiten schlechter ging als der glücklichen Minderheit, wollten die Menschen die Welt immer umgestalten und konnten sich nie damit abfinden, dass es keine Umgestaltung durch Revolution gäbe, wie Marx es predigte, sondern nur eine Revolution der Umgestaltung. Und wenn die Masse ihren Illusionen dennoch in Marxens Namen nachläuft, so ist dies nichts anderes, als wenn die Soldaten, die Kreuzesfahne schwingend, im Namen Christi aufeinander losstürmen.

(…) Die zwei großen Enttäuschungen der Weltgeschichte, die mächtigsten Faktoren bei der Sonderung der Menschheit in zwei Lager sind: der Idealismus der christlichen Idee und der Materialismus der Marxschen Lehre. Welche ist die größere Enttäuschung? Diejenige, die dem ewigen Materialismus des Menschen in jeglichem Augenblick entgegentritt, oder die andere, die von Minute zu Minute mit dem unheilbaren Illusionismus des Menschen in Konflikt gerät? Man weiß es nicht…

14.4.1918