Aus dem Archiv des Pester Lloyd

zurück zur Startseite

 

 

 

(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1930

Siegfried Loewy

Ungarische Dichter auf Wiener Bühnen

Die Fäden zwischen den Wiener Theatern und der ungarischen Dichtkunst sind bereits in der Vorzeit des heutigen Burgtheaters, vier Jahrzehnte, nachdem es durch Kaiser Josef II. zum deutschen Nationaltheater bestimmt wurde, gesponnen worden. Anfangs allerdings nur sehr zart, was sich hauptsächlich dadurch erklärt, daß die Werke ungarischer Dramatiker von Rang damals zumeist, wenn ich so sagen darf, auf die Mentalität der ungarischen Nation eingestellt waren, national-historische Stoffe behandelten und gar nicht prädentierten, über die Grenzen des Reiches der Stefanskrone hinauszudringen.

Am dramatischen Dichterhimmel Ungarns funkelten als Gestirne erster Ordnung Szigligeti, Kisfaludy, Madách. Vielleicht auch, daß bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts die richtigen Mittler zwischen der dramatischen Produktion Ungarns und den Wiener Theatern fehlten, denn bis zu diesem Zeitpunkt erschienen Werke ungarischer Provenienz, sei es im Burgtheater, sei es auf einer Wiener Privatbühne, nur sporadisch. Dann tauchten ziemlich rasch hintereinander Bühnendichter auf, wie Ludwig Dóczi, Franz Herczeg, Franz Molnár, Melchior Lengyel, Ludwig Biró, Ladislaus Fodor usw.

Den Vogel schoß zuerst Ludwig Dóczi mit seinem farbenfunkelnden, von der Strahlensonne echter Poesie erfüllten, zarte lyrische Töne anschlagenden Lustspiel „Der Kuß” ab, das der temperamentvolle Theatermann Franz Jauner, der damals das Hofoperntheater leitete, so überaus gern zu einer Oper umgestaltet haben wollte. Dóczis „Kuß”, der im Burgtheater vor mehr als vier Jahrzehnten, im Februar 1877, in einer wahren Musteraufführung seine Premiere zu verzeichnen hatte (Helene Hartmann, Antonie Janisch, Ernst Hartmann und Hugo Thimig spielten die Hauptrollen), war ein Erfolg ohnegleichen; das Werk wurde nicht weniger als siebzigmal gegeben. Johann Strauß, der von allen Nationen der Erde gekrönte Walzerkönig, einer der begeistertsten Verehrer Dóczis, war glücklich, daß es ihm gelang, den ungarischen Poeten dafür zu gewinnen, für ihn ein Opernlibretto zu verfassen - „Ritter Pázmán”. Doch so sehr das Sujet und seine Durchbildung gefiel, so wenig vermochte das Publikum in der etwas gequälten Komposition, in der Strauß immer einen Schritt zur Oper vor und einen zur Operette zurückmachte, seinen genialen Melodienzauber zu erkennen... Man hört - nebenbei bemerkt -, daß Hans Müller eine Neugestaltung von „Ritter Pázmán” vorgenommen hat.

Im übrigen ist zu erwähnen, daß die Wiener Bühnen nach einem interessanten und wertvollen, soeben als Privatdruck des Collegium Hungaricum in Wien, das unter der hervorragenden Leitung des Professors Anton Lábán steht, erschienenen Büchlein des ehemaligen Mitgliedes dieses Kollegiums Ernst Szép bis 1900 insgesamt bloß fünfundzwanzig Stücke von sechzehn ungarischen Dichtern aufführten, daß aber - und ich muß sagen, daß dies einem Armutszeugnis gleichkommt - das Burgtheater allein im Zeitraum von 1850 bis 1900 mehr als dreißig ungarische Dramen ablehnte.

Zwei Direktoren des Burgtheaters, Franz Freiherr v. Dingelstedt und Adolf Wilbrandt, haben sich für Theaterwerke ungarischer Provinienz sehr interessiert.. Dingelstedt war es speziell um ein Werk aus der Feder Szigligetis zu tun und ich bin in der Lage, hinzuzufügen, daß eine Anregung hiezu von niemand geringerem ausging, als von der Kaiserin-Königin Elisabeth. Dingelstedt glaubte am sichersten zu gehen, in dem er Moritz Jókais Rat einholte, welches der Werke Szigligetis für eine Burgtheateraufführung besonders in Frage komme. In seiner Antwort bezeichnete Jókai Szigligetis „Gritti” als das zur Aufführung geignetste ernste Drama, weil es nicht allein „das gerundetste und effektvollste Stück des Dichters sei, sondern, was die Hauptsache ist: es läßt sich spielen. Bei uns,” so heißt es in dem Brief weiter, „hielt sich das Stück auch am längsten auf der Bühne, jetzt aber fehlen dazu gerade die Repräsentanten der beiden Hauptrollen. Das Burgtheater besitzt sie aber.”

Dieser Brief gelangte aber nicht direkt in die Hände von Dingelstedt, was Jókai in einem weiteren Schreiben folgendermaßen motiviert:
„... Hätten Sie mich aufgefordert, ich solle Ihnen zehn Stücke aus Szigligetis hundert heraussuchen, so wäre ich in einer Stunde damit fertiggeworden, aber ein einziges von hundert herauszuballotieren? Mißfällt das Stück in Wien, so bin ich ewig der Ephilates der ungarischen Literatur. Ich hatte den Brief schon fertig, worin ich jenes Stück anempfehlen wollte, das mir am allerbesten gefällt. Da kamen mir unterschiedliche Skrupel ... Nun hielten wir über diese „gemeinsame Angelegenheit” einen „verstärkten Reichsrat” im Beisein des Herrn Lewinsky und da wurde beschlossen, daß das geeignete Stück „Der Thronprätendent” sein soll. Da Stück wurde durch die Akademie auch mit einem Ehrenpreis von 400 Dukaten belohnt und hat absoluten Wert und vorzügliche Rollen für die darstellenden Künstler.”

Das Stück sollte jedoch nicht nicht auf der österreichischen Hofbühne erscheinen. In dem interessanten Zensurgutachten des Sektionschefs Baron Hofmann heißt es:
„Ich bin leider genötigt, die Bewilligung zur Aufführung dieses Dramas an gewisse Abänderungen zu knüpfen. Die Gründe hierfür liegen weniger in dem Sujet der Dichtung, als in der Aufführung. Die Königin verrät einem Priester das Geheimnis ihrer Schuld und klagt sich offen als Ehebrecherin an. Obschon ich das Bestreben des Dichters, diese Szene so wirksam als möglich zu gestalten, nicht verkenne, muß ich doch betonen, daß die Breite des Dialoges, der den sittlichen Traditionen des Burgtheaters widersprechende Inhalt der Wechselreden von seiten des Burgtheaterpublikums mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen werden würde...

Sollte sich der Übersetzer zu einer Abänderung des vorliegenden Dramas entschließen, so würde ich die Aufführung des Trauerspieles schon aus dem Grunde mit Vergnügen begrüßen, weil dadurch eine Gelegenheit erschiene, das preisgekrönte Werk eines der bedeutendsten dramatischen Dichter Ungarns auch auf der ersten deutschen Bühne zur Darstellung gelangen zu lassen.”

Unter Adolf Wilbrandt sollte das Schauspiel „Würden und Bürden” von Josef Szigeti, dem bekannten Mitglied des Ungarischen Nationaltheaters (und der ungarischen Akademie der Wissenschaften) aufgeführt werden.

(...) Wilbrandt bat Sonnenthal und Lewinsky, seine getreuen Ratgeber, um ihr Urteil über das Stück. Adolf Sonnenthal bezteichnete es als „ein tüchtiges bürgerliches Schauspiel in guter Ifflandscher Manier. Die Charakteristik, namentlich des Bauernpaares, geradezu eminent. Nur die Exposition ist zu gedehnt und müßte sehr gekürzt werden. Für alle Fälle möchte ich das Stück zur Annahme empfehlen”. Josef Lewinsky pflichtete dem Kollegen bei und bezeichnete es als „ein wirksames Theaterstück von starkem Talent, aber teilweise verdorben durch Geschmacklosigkeit ... Wenn verschiedene Änderungen vollzogen werden, scheint mir der Beifall des Publikums gesichert”. Leider sollte das Stück nicht zur Aufführung gelangen.

Als eine der Ursachen, weshalb die ältere ungarische dramatische Literatur nicht Schritt halten konnte mit der Literatur der westlichen Nachbarvölker, bezeichnete Szép die Kämpfe mit dem Wiener Hof, der die Landesverfassung und die nationale Kultur Ungarns zu beeinträchtigen bestrebt war. Die verschiedenen geistigen und hauptsächlich in der neueren Zeit differnzierten literarischen und künstlerischen Strömungen tauchten in ungarischen Literatenkreisen fast in derselben Zeit auf wie im übrigen Europa. Das Ungarntum aber nahm sie nie in der Form an, wie sie im Ausland erschienen: es gestaltete sie um und gab ihnen eine gewisse individuelle Farbe. Diese Umgestaltung vollzog sich naturgemäß immer nach Verlauf eines Zeitraumes. Daher scheint es eben, daß sich die einzelnen Strömungen in Ungarn erst später bemerkbar machen. Der ungarische Romantizismus ist keine Kopie der deutschen oder französischen Romantik: er ist mit eigenartiger ungarischer Luft erfüllt und der ungarischen Psyche angepaßt.

Mir Recht beklagt es Szép, daß mit Ausnahme von Madáchs Standardwerk „Tragödie des Menschen”, die durch das Ungarische Nationaltheater eine geradezu klassische Aufführung in musterhafter Besetzung bei der Internationalen Theaterausstellung des Jahres 1892 gefunden hat, die Wiener mit den wertvollen Werken der ungarischen Dramenliteratur im neunzehnten Jahrhundert nicht bekanntgemacht wurden. Der Autor des Büchleins „Ungarische Theaterstücke auf Wiener Bühnen” hat sich auch die Mühe genommen, die Anzahl der Aufführungen von Theaterstücken ungrischer Provinienz an Wiener Bühnen zu ermitteln. Die höchste Aufführungsziffer erreicht das Effektsück „Der Kurier des Zaren” von Franz Csepreghy, und zwar 108; hierauf folgt die Posse „Umsonst”, die Nestroy dem Werke „Liliomfi” von Szigligeti nachgebildet hat und 65mal über die Szene des Carl-Theaters ging.Szigligetis Volksstück „Zwei Pistolen” wurde 25mal, sein Volksdrama „Der Deserteur” 28mal aufgeführt. Ein schöner Erfolg war auch Ludwig Dóczis Lustspiel „Letzte Liebe” beschieden: das Burgtheater führte es mit steigendem Erfolg 33mal auf, ebenso Jókais Schauspiel „Der Goldmensch”, das in der vortefflichen Bearbeitung Ignaz Schnitzlers im Jahre 1885 im Theater an der Wien aus der Taufe gehoben wurde.

Leider geht die Statistik nur bis zum Jahre 1900, so daß die rauschenden, sich immer wieder erneuernden Erfolge, die den Werken der jüngeren ungarischen dramatischen Autoren, namentlich aber Franz Herczeg, Franz Molnár, beschieden waren, nicht verzeichnet sind. Hat doch in der vorigen Saison allein Fodors „Arm wie eine Kirchenmaus” die Zahl von hundert Aufführungen überschritten, eine Serie, wie sie im Burgtheater mit seinem stark wechselnden Programm vorher niemals verzeichnet worden war. Daß Franz Molnár Lieblingsautor des Wiener Publikums geworden ist, weiß man. Die Wiener Bühnen von heute machen zweifellos viele Versäumnisse, viele Ungerechtigkeiten, viel Unverständnis ihrer Leiter von ehedem gut.