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Aus dem Pester Lloyd von 1932

Julian Weisz

Ein ungarischer Musikant erobert die Welt - Begegnungen mit Franz Lehár

Umbraust vom Jubel seiner Verehrer dankte heute Abend im Opernhause der ungarische Tondichter Franz Lehár für die ihm vom Budapester Publikum so oft und jetzt wieder bezeigte Liebe und Anhänglichkeit. Zum fünfzigsten Male wurde sein Tonwerk, man darf schon sagen, Tonmeisterwerk: „Das Land des Lächelns” zur Aufführung gebracht, und zwar im Verlaufe von anderthalb Jahren, und das bedeutet einen ungewöhnlichen, geradezu beispiellosen Erfolg für den Komponisten, für die Darsteller, für das Orchester und nicht zuletzt für die Leitung unserer Opernbühne. Oft sah man Lehár in Budapest, oft konnte man Ausbrüche der Begeisterung vernehmen, die ihm und seinem Werk galten, aber selten waren die Ovationen so herzlich und innig wie heute, und selten erschien auch Lehár so ergriffen und erschüttert zu sein wie eben heute. Er ist nicht mehr der junge, fröhliche, übermütige Tondichter von einst mit den vollen und runden Wangen, nein, die Zeit hat dem Sechzigjährigen ein paar Falten in die Stirn und um den Mund gezogen, aber sein gemütvolles Lächeln und seine gütigen Augen verleihen dem Antlitz eine ebenso unverwüstliche Frische und Jugend, wie sie die Götter seiner Musik schenkten. Allerdings verwirren und betäuben keinerlei Ehrungen und Feierungen unseren Franz Lehár, denn er ist, wie jedes Talent, nicht in sich selbst verliebt; er übt strenge Kritik an seinem Werk und ist von einer rührenden Bescheidenheit, die auch heute wieder inmitten des rauchenden Beifalls in seinen Mienen zum Ausdruck kam, die andeuteten: „Verdiene ich solche Huldigungen? Ist mein Werk so wertvoll, daß es die ungarischen Musikkenner und Musikfreunde zu solcher Begeisterung hinreißen kann?” Freilich konnte man auch eine Antwort auf diese Frage in seinen Augen lesen, die ein wenig lachten, aber auch ein wenig feucht angelaufen waren.

Gewiß ist Franz Lehár bescheiden, doch er glaubte stets an seine Begabung und Berufung; denn nur diese Überzeugung vermochte ihn in seinen Sorgen und Nöten derart zu stärken, daß er die „Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks” zu ertragen, häufig scherzend zu ertragen imstande war. Frühzeitig gab sich sein musikalisches Talent kund. Schon der sechsjährige Knabe komponierte ein kleines Lied zum Geburtstag seiner Mutter. Fanatische Liebe zur Musik war ihm sozusagen eingeboren - sein Vater hatte als Militärkapellmeister manchen schönen Erfolg vorzuweisen - und seine Begabung trat immer deutlicher hervor. Er wurde Kapellmeister in der k.u.k. Armee, fand Anerkennung und Lob (selbst Kaiser Wilhelm II. rühmte Lehárs Musikalität), und dennoch mußte er lange, lange Zeit dem Gelde nachlaufen, das indes schneller war als er und sich nicht einholen ließ. Es genügt zu erwähnen, daß er am Tage der Premiere seiner Oper „Kukuschka” in Leipzig seine Uhr versetzen mußte, um sein Mittagessen bezahlen zu können. Doch, wie gesagt, er glaubte an sich und er arbeitete unermüdlich weiter. Als ich ihm zum ersten Male - long, long ago - im Hause Wilhelm Karczags, des Direktors des Theaters an der Wien, begegnete, hatte Lehár bereits einige Operettenerfolge aufzuweisen. Er rechnete auf die Unterstützung Karczags, denn er wußte, daß dessen Gattin, die einst vielgefeierte ungarische Operettensängerin Juliska Kopácsy, sein Talent überaus schätzte. (Darf in Parenthese angemerkt werden, daß Frau Juliska nicht nur eine entzückende Diva, sondern auch eine tüchtige Musikkennerin und, worauf sie besonders stolz zu sein schien, auch eine musterhafte ungarische Hausfrau war, an deren Tisch wir alle, mit Lehár an der Spitze, uns an nationalen Gerichten, wie Paprikás und Kolozsvári káposzta, im Backhendel-Wien erquicken durften?) Damals sprach Karczag mit mir über Lehár: „Erinnerst Du Dich an Tisza-Eszlár? Ich bat Dich damals, mir, dem Reporter eines Debrecener Lokalblattes, zu helfen, damit ich mich aus der Provinz n die Hauptstadt retten könne. Du bist mir beigestanden, mehr noch, Du hast mir die Wege nach Wien geebnet. Nun, teurer Freund, kann ich Dir sagen, daß ich mein Glück machen werde. Hier siehst DU mein Maskotterl!” - rief er lachend - und er wies auf Lehár.

„Die lustige Witwe” brachte das Glück ins Haus. Man erzählt oft, Karczag hätte bei der Generalprobe dieses erfolgreichsten Werkes Lehárs das große Wort gelassen asugesprochen: „Kinder, das ist keine Musik für mich.” Als dann die Operette fünfhundert Aufführungen, und zwar en suite erlebte und eine Denkmünze geprägt werden sollte, erlaubten sich die Wiener Theatertinterl den Scherz zu kolportieren, die Umschrift dieser Plakette werde lauten: „Kinder, das ist keine Musik!” Soll man dieser Medisance ernsthaft entgegentreten? Es genügt, darauf hinzuweisen, daß Karczag „Die lustige Witwe” für sein Theater akzeptierte, das Werk in Szene setzte, den Erfolg mit aller Kraft förderte und überhaupt für die Popularisierung der Operette in der ganzen Welt durch seinen Musikverlag sorgte. Es war in der Tat ein Welterfolg, wie er weder vorher, noch nachher seinesgleichen hatte. Der treue Freund des Tondichters, der Wiener Dichter, Essayist und Tagesschriftsteller Prof. Dr. Ernst Decsey hat in seiner geistvollen Lehár-Biographie einige Daten angeführt, die helles Licht auf den Triumphzug der „Lustigen Witwe” werfen. In Österreich und Ungarn wurde diese Operette im Jahre 1905 uraufgeführt, seither tausende Male gegeben; denn 1909 sang und tanzte die „Lustige Witwe” bereits in Berlin, Paris, London, Petersburg, Belgrad, Bukarest und Athen. Freilich auch in New York und Chicago, was aber bisher noch nicht dagewesen, auch in Ceylon, in Managua und in Tschingtau. Im Februar 1910 hörte sie der Kapitän D´Albertisder eien Forschungsreise nach den Viktoriafällen unternahm, in einem Urwaldhotel am Zambesi von einer europäischen Gesellschaft. Lehár errang Weltpopularität. Überall gab es Lehár-Zigarren, -Keks, -Schals, -Salate,  -Korsetts, -Cremes, -Damenhüte, kurz, der kleine ungarische Musikant eroberte die große Welt. Ruhm und Gewinn, Geld und Geltung flogen ihm zu, aber sie betörten ihn nicht, sondern spornten ihn an, weiter zu schaffen, höher zu streben, die Operette neu zu formen, gehaltvoller und wertvoller zu gestalten.

Nach Jahr und Tag, fand wieder eine Begegnung zwischen mir, Karczag und Lehár statt. Jetzt waren die beiden Freunde, wie man zu sagen liebt, „arriviert”. Karczag hatte sein Palais, Lehár seinen Zinspalast und seine Villa, und dennoch waren sie nicht so glücklich, wie man erwartete. Lehár allerdings war fröhlich und zufrieden, wenn er auch über die Textbücher klagte, die ihn selten anregten und seinen Genius nichts weniger als beflügelten. Freilich einen Hofmannsthal, wie Richard Strauß, kann man nicht oft finden, und einen Dichterkomponisten wie Richard Wagner gibt es überhaupt nur einmal. Trotzdem schritt Lehár von Erfolg zu Erfolg. Karczag war tieftraurig. Nach dem opulenten Diner ging er mit mir in sein Arbeitszimmer und schüttete sein Herz aus: „... Meine kühnsten Träume sind in Erfüllung gegangen,” erzählte er „ich bin so reich, daß ich mir keinen Wunsch versagen muß. Und dennoch bin ich traurig, trostlos. Freund, mich hat der Tod schon auf seiner Liste. Die Ärzte geben mir keine Hoffnung, und der Gedanke bedrückt mich, was aus meinen drei Theatern werden, wer das große Vermögen, meine Unternehmungen verwalten soll? Ja, wenn Lehár mithelfen wollte! Aber er hat keinen Sinn für geschäftliche Unternehmungen. Glaube mir, er ist bei all seinem tiefen Ernst doch Bruder Leichtsinn. Der Pater im Budapester Piaristengymnasium hatte recht, als er sagte: „Franz ist der liebenswürdigste Leichtsinn, der mir jemals untergekommen ist.” Und Lehár selbst hat geschrieben: „Der Operettenkomponist muß leichtsinnig und übermütig sein, freilich darf er auch seiner Würde als Musiker nichts vergeben.” Lehár ist Musiker mit Leib und Seele. Er will bloß komponieren, komponieren, komponieren und eines Tages wird er sogar von Operetten nichts mehr wissen wollen und sich der Oper mit Haut und Haar verschreiben. Ein Leben lang hab´ ich gekämpft, mit Zähnen und Nägeln den Erfolg erzwungen, und nun kann ich, muß ich verschwinden und weiß nicht, was werden wird.” Ich versuchte, ihm Trost zuzusprechen, auch Lehár unterstützte mich dabei, aber der arme Karczag schüttelte bloß verzweifelt den Kopf; er wußte, daß es zu Ende ging, und es ging auch bald zu Ende. Lehár stand in treuer Freundschaft der Familie Karczag stets zur Seite, freilich ließ er sich aber sowenig vom Schwiegersohn und Nachfolger Karczags, dem ausgezeichneten Operettensänger Marischka, beeinflussen, wie ehedem von Karczag selbst, sondern ging den Weg weiter, den er sich vorgezeichnet hatte. Er wollte daher nichts wissen von der Verjazzung der Operette, von den einzig und allein auf Girlbeinen stehenden Ausstattungsoperetten, von Operetten-Revuen und Operetten-Schauprunkstücken, sondern schuf Operetten, die feine Singspiele, reizende komische Opern waren und sein Künstlertum und seine Meisterschaft bekundeten, wie - um nur einige zu nennen - „Das Fürstenkind” (von Káldy seinerzeit auf die Bühne unserer Oper gebracht), „Der Graf von Luxemburg”, „Eva”, „Wo die Lerche singt”, „Paganini”, „Endlich allein” und, last not least, das „Land des Lächelns”.

„Das Land des Lächelns” ist, wie einer der hervorragendsten Wiener Musikkritiker urteilt, „die phantasievollste und reifste Arbeit Lehárs, eine international geschätzte Kostbarkeit wie ein seltener chinesischer Seidenstoff.” Lehár hatte den innigsten Wunsch, diese exotische Operette in würdigster Darstellung dem kunstsinnigen Budapester Publikum vorzuführen. Er dachte an eine Aufführung in der Königlichen Oper und ich sprach in seinem Namen bei Direktor Radnai vor. Es braucht nicht erst erwähnt zu werden, daß dieser Bühnenleiter, der die Musikwerke unserer Zeit genau kennt, auch über „Da Land des Lächelns” gründlich unterrichtet war. Er wies auf manche Schwierigkeiten hin, scherzte aber auch über verbohrte Musikbonzen, denen eine schwere und langweilige Oper lieber sei als eine graziöse und amüsante Operette. Geschmackssache. Gibt es doch Leute, die dickes, schwarzes Bier dem leichten, moussierenden Champagner vorziehen. Direktor Radnai ließ sich nicht beirren. Er hörte nicht auf Nörgler un dNEider, sondern fuhr nach Wien, wohnte einer Aufführung der Operette bei und am nächsten Tag waren wir Gäste bei Lehár - und der Vertrag kam auch dort zustande. Mit feinem Kennerblick erkannte Radnai sofort den Wert dieser Tondichtung, und er sah auch den Erfolg voraus. Wie recht er hatte, bezeugte jede Vorstellung des Lehárschen Werkes im Opernhause, die stets im überfüllten Saal stürmischen Jubel auslöste, so daß alle Kritiker schließlich gute Miene zum guten Spiel machen mußten. Schon am weißen Tisch bei Lehár wurden alle Einzelheiten der Aufführung festgestellt und der klugen Frau des Komponisten, die ihn sorgsam behütet und betreut, verdankte man manche bedeutungsvolle Anregung. Sie hat auch interessante Worte über eine seriöse Oper gesprochen, die Lehár für unser Budapester Opernhaus, also für Ungarn komponieren solle, worauf der Komponist in seinen alten Klageruf ausbrach: „Ja, wenn ich nur ein gutes ungarisches Buch bekäme!” Also: Frisch auf, ungarische Librettisten! Hier sei noch erwähnt, daß Lehár, der oft mit geradezu fanatischem Eifer ganz Nächte hindurch bis zum hellen Morgen an seinen Werke aerbeitet, nicht gestört sein und nicht stören will, sein Heim in der Theobaldgasse hat, Tag für Tag jedoch bei seiner in der Paulanergasse wohnenden liebevollen Gattin speist, die als vorblidliche Hausfrau der Küche ihre besondere Aufmersamkeit widmet, ja die köstlichen Gerichte der Tafel hie und da mit den von Heine gerühmten orientalischen Spezereien würzt, mit welchem Dichter sie, nebenbei bemerkt, stammverwandt ist. Kurz und gut: Bei Frau Sophie wurde der Pakt geschlossen, die Operette für die Budapester Oper erworben und dann den Budapestern als Weihnachtsgeschenk beschert. Die Kleinen und Großen klatschten damals und klatschen noch immer in die Hände, wenn sie Lehárs Musik vernehmen.

Daß Franz Lehár in Ungarn noch beliebter ist als überall auf der weiten Welt, ist selbstverständlich. Ist er doch ein Ungar, und ein guter Ungarn dazu. Sein Vater fand in Komárom eine Heimat, seine Mutter, Christine Neubrand, stammte aus einer vollständig magyarisierten Schwabenfamilie, ja, ihr Vater bewährte sich im Freiheitskampf als Honvéd unter Klapka. Das ungarische Blut in den Adern des kleinen Franz machte sich ebenso geltend wie das ungarische Blut in den Adern des großen Franz, der, wie der andere große Franz der ungarischen Musik, wie Franz Liszt, seinem Vaterland Ruhm und Ehre brachte. Die Kompositionen Franz Lehárs verraten immer sein ungarisches Denken und Fühlen, sein ungarisches Herz. Sagt auch ein deutscher Musikforscher, daß die Musik der Operette „Land des Lächelns” eine exotische Färbung habe, in östlichen Motiven schwelge, mit aparten Intervallen, Hetereophonien, Oktaven- und Quintenketten, die pagodenhaft starren und doch von zarten Rhythmen gesättigt sei, allen Ungarn tönt diese Exotik lieb und vertraut entgegen, denn sie erkennen darin die eigenartige Melodik ihres Landes, das himmelhoch Jauchzende und zu Tod Betrübte ungarischer Musik. Der volle Reiz, die ganze Anmut, die Melancholie und der Jubel der wahren ungarischen Volksmusik, die hin und wieder auch in der Ziegeunermusik aufklingt, singt aus dem Orchester Lehárs. Der Humor des ungarischen Volkes, der wahre Humor, der Tränen im Wappen führt, kommt auch in der ungarischen Musik zum Vorschein. Nicht umsonst behauptet das Sprichwort, daß der Magyar unter Tränen lacht. Einst, im alten und glücklichen Ungarn, war die Heiterkeit mächtiger als die Trauer, der Übermut stärker als die Schwermut, jetzt freilich ist unser Land weit weniger fröhlich und leider nur zu häufig verstimmt, vergrämt und verbittert. Franz Lehár, als treuer Sohn seiner Nation, fühlt mit seiner Heimat, aber er bemüht sich auch, Achtung und Ehrung auf dem ganzen Erdenrund zu erwerben. Dieser kleine ungarische Musikant hat die große Welt erobert, aber seiner Heimat spendet er durch seine rührend-heitere, schwärmerisch-graziöse, von ungarischer Sonne durchglühte Musik Trost und Hoffnung, denn in seinen Tondichtungen zeigt er uns ein Ungarn, wie es war und hoffentlich bald wieder sein wird als - ein „Land des Lächelns”.