(c) Pester Lloyd / Archiv
Aus dem Pester Lloyd von 1933
Gustav W. Eberlein
Der Völkerbund ist tot! Es lebe der Völkerbund!
Wenn sich der „Völkerbund“ nicht bloß mit Opium und Lehrfilmen, sondern auch mit der Presse befaßt hätte, so wäre er jetzt wahrscheinlich nicht tot. Mindestens hätte er sich das unsterbliche Verdienst erwerben können, die Völker beizeiten von seiner gefährlichen Erkrankung zu unterrichten und ihnen auf diese Weise Emotionen, Sensationen und „Bomben“ zu ersparen.
Denn bei Licht betrachtet, lösen sich alle diese Nachrichtenbomben, wie jetzt wieder das italienische Ultimatum an Genf, in mangelhafte Berichterstattung auf. Hätte der Völkerbund erreicht, daß dem Nachrichtenhandel ebenso scharf auf die Finger zu sehen sei wie dem Opiumhandel, hätte er es fertig gebracht, daß die Pressevertreter im Ausland so berichten dürfen, wie die Dinge nun einmal liegen, so würde es keine Überraschung gegeben haben. Leider – und es ist schmerzlich, aber notwendig, einmal aus der Schule zu plaudern- dürfen nicht alle Auslandsberichterstatter unparteiisch, neutral und objektiv berichten, es wird ihnen von ihren Zeitungen vorgeschrieben, wie sie die Dinge zu sehen haben: niemals so, wie sie sind, sondern so, wie man sie gerne haben möchte.
Alte Journalisten halten diese Tatsache für ein Übel, schlimmer als das des Opiumhandels. Unendlich viel Unheil ist daraus schon entstanden, ja, man kann ohne Übertreibung behaupten, dass einer der Hauptschuldigen an unserem ganzen Elend die unwahre, fälschende Auslandsberichterstattung ist. Ohne sie wäre es nicht denkbar, daß Millionen von Lesern ständig aus den Wolken fallen. Die erfahrenen Auslandsjournalisten wissen nämlich viel, unheimlich viel, mehr jedenfalls, als die auf ihr Ressort beschränkten Berufsdiplomaten, und es gehört zur Tragik ihres Berufs, daß sie ihre Memoiren erst schreiben können, wenn sie nicht mehr aktuell sind, sofern sie es nicht, was die Regel ist, mit ins Grab nehmen müssen. Auch die wahre Geschichte des Völkerbunds wird nur ein Mann von der Zeitung schreiben, oder sie bleibt ungeschrieben.
Man muß sich einmal vorstellen, daß es allein in Rom über hundert beglaubigte Korrespondenten der Auslandspresse gibt. Begibt sich nun irgendeine wichtige Tatsache, eine runde und nette Tatsache, an der nichts zu drehen und zu deuteln ist, so müssen Dutzende von diesen Journalisten dennoch drehen und deuteln, weil es ihre Auftraggeber so haben wollen, gewöhnlich aus innenpolitischen Gründen, zuweilen auch aus außenpolitischen oder wirtschaftlichen. Was schwarz ist, haben sie weiß zu machen, und wenn Mussolini A sagt, müssen sie melden, im Grunde habe er B gemeint.
Wir haben es erlebt, daß der Vertreter eines biederen Schweizer Bürgerblattes noch vor zwei Jahren, als das faszistische Regime bereits fester dastand als irgendein anderes auf diesem Globus, sich in blutrünstigen Prophezeiungen der vor der Tür stehenden Revolution von links her erging; wir erleben es täglich, wie der römische Vertreter größter französischer Zeitungen die Dinge so schildert, wie sie nicht sind, weil sie nur so zur französischen Politik passen. Und säßen diese Auslegungskünstler selbst auf einer Leiche, sie würden berichten, dass sie auf einer Bank im Grünen sitzen und lyrische Gedichte machen. Das ist, bitte sehr, kein an den Haaren herbeigezogenes Beispiel, Herr Litwinow mußte es erfahren. In Amerika hatte er die Abrüstungskonferenz als Kadaver bezeichnet, und in Rom fragte ihn ein Journalist, was er darunter verstehe (denn Henderson sieht nun einmal einen sprunglebendigen Jüngling vor sich). Da antwortete der Russe sarkastisch: Was ein Kadaver ist, wird man doch wohl auf der ganzen Welt wissen.
Nun wußten wir seit Jahren, wie Mussolini über den Völkerbund denkt, wußten auch, daß er ihn am 5. Dezember vor das Tribunal des faszistischen Großrates ziehen und ihm den Prozeß machen werde. Aber wie vielen von uns war es erlaubt, dies klipp und klar ihrer Zeitung zu melden? Wer mochte so etwas in Genf, in Paris, in Prag hören? In innerpolitischen Sachen kann sich eine Parteizeitung eine gewisse Führung ihrer Leserschaft vorbehalten, das ist natürlich; aber wie will man die großen außenpolitischen Entwicklungen durch Verschweigen lenken? Ist Mussolini deswegen kleiner geworden, weil ihm kleine Schulmeister irgendwo in der weiten Welt gern die schlechteste Note geben? Hat das Lächerlichmachen als „Winterpartei“ die Hitlerwoge aufhalten können? Keine noch so große Sympathie für Frankreich wird die Revision der Kriegsverträge zum Scheitern bringen, wie tausend falsche Nachrichten nicht den Völkerbund retten konnten.
In dieser Stunde laufen aus ungezählten Richtungen „Direktiven“ an die ausländische Pressevertreter in Rom ein, Aufforderungen großer und kleiner Zeitungen, die Entscheidung Mussolinis zu bagatellisieren, zu frisieren, zu retten, was noch zu retten ist. Immer der gleiche Ton. Das Ultimatum ist ja so deutlich wie es nur sein kann; tut nichts, ein Leichnam kann eine Dichterbank werden. Hat nicht auch Gallilei widerrufen? Und Mussolini wird über Nacht erfahren, was er eigentlich zu meinen hat.
Sagen wir daher – denn gottlob gestattet diese Zeitung ihrem römischen Vertreter das freie Wort – die Wahrheit: der Völkerbund ist tot. Ob es die Nutznießer der „Raub- und Plünderungsverträge“, um mit Bernard Shaw zu sprechen, nun zugeben oder nicht. Und weiter: Italien wollte und will den bisherigen Völkerbund am Boden sehen, weil er nichts war als der von Versailles bestellte Henker, der Zwangsollstrecker der Zwangsverträge. Versailles aber bedeutet Haß und Unfrieden, wo Friede und Eintracht das Gebot Europas wäre, mit dem der Wille Mussolinis identisch ist. Das ist klare Politik.
Aber das würde eine Revision der Verträge bedeuten! Ruft man in Frankreich entsetzt. Mit Verlaub, ja, was denn sonst? Die Revision der Verträge ist das Ziel Italiens, Europas, aller wahren Friedensfreunde, aller anständigen Menschen also. Die anderen mögen sich Pazifisten heißen und das Lob der Kanonherren singen, deren Brot sie essen. Die große Entscheidung ist gefallen: wer für den Frieden ist, ist gegen den Völkerbund in seiner gegenwärtigen Form. Gegen einen wirklichen Bund der Völker hat Italien nichts einzuwenden, auch Deutschland nicht, auch Rußland nicht. Litwinow hat das ziemlich deutlich in Rom zum Ausdruck gebracht.
Damit ist die Politik dieser Adventswochen vorgezeichnet. Auf der einen Seite die Revisionisten als Vorkämpfer eines besseren Zeitalters, auf der anderen die Reaktionäre mit ihrem sturen Versailler Komplex. Dazwischen die Berufsdiplomaten und Journalisten. Schon jetzt werden in Rom und anderswo Netze über Netze gesponnen, um die Entscheidung Mussolinis womöglich so auszuhölen, wie es Frankreich mit dem Viererpakt gelungen ist. Dann soll Mussolini dazu gebracht werden, den nur scheinbar veränderten Völkerbund anzunehmen und Deutschland und Russland, vielleicht sogar die Vereinigten Staaten damit einzufangen. Der Völkerbund ist tot, es lebe der Völkerbund! Soweit die Pläne der Kreuzspinnen.
Kalt und nüchtern aber bricht der Tag an, die kleinen Lügen werden zerreißen wie die große, die von Versailles und Trianon.
|