Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1933

Ludwig Leopold

Gourmets im alten Land

I.

Die Kinder verlangen Jause

Bald fünfzig Jahr ist es her, daß mein älterer Bruder und ich, zwei ausgelassene Jungen, eine freche Gewohnheit annahmen. Wenn wir nachmittags ein Viertel nach Vier, aus der Elementarschule kommend, durch das Tor unseres Landhauses stürmten, da brüllten wir schon an der Schwelle aus Leibeskräften:
Die Jause wollen wir! Her mit der Jause!

Im Häubchen aus Silberspitzen stand unsere liebe Mutter lachend in der Tür. Sie war vom Bohnenschneiden aufgestanden. Oder vom Spargelputzen. Oder sie hatte vielleicht Weichsel entkernt, je nach der Jahreszeit. Seit dem frühen Morgen geschäftig, hatte sie doch nur ein Lächeln für unser drohendes Gebrüll. Tag für Tag, wenn vom Haustor das Indianergeschrei ertönte, da begann sie uns mit aufmerkenden blauen Mutteraugen ihre schüchternen Vorschläge zu unterbreiten.

Wollt ihr Honigbrot mit Nüssen und Mohnbeugel?
Wir schrien weiter:
Die Jause wollen wir! Her mit der Jause!
Wollt ihr Kaffee mit Schlagsahne und Gugelhupf?
Die Jause!
Butterkipfel mit Marillenmus und für jeden ein Stück Gänseleber?
Die Jause!

Endlich nahmen wir gegen einen Waffenstillstand von 24 Stunden kaltes Backhuhn und garnierten Liptauerkäse an, die unsere Mutter mit dem seligen Gefühl einer gewonnenen Schlacht ihren nichtsnutzigen Buben auftischte.

Solch´ übermütige Streiche sollten besser der pädagogischen Vergessenheit überlassen werden, denn am Ende könnte es etlichen jüngeren Lesekundigen noch einfallen, persönliche Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen. Aber plötzlich ich auf dem Grunde unserer Nichtsnutzigkeit die Vorzeichen einer lebensfrohen Gourmandise. Wir brüllten immer von neuem, um die Mutter zu zwingen, Tag für Tag uns die üppige Speisekarte des Landlebens vorzulegen. Wenigstens in Gedanken wollten wir alles schmecken. Mutter durchsah uns wohl. Es entging unserer Aufmerksamkeit nicht, dass ich – aus Prestigegründen weiterschreiend – unwillkürlich die Lippen leckte, als sie uns Gansleber vorschlug, bei der Schlagsahne aber zwickte mich mein Bruder fest in den Arm, unentwegt brüllend:
Die Jause! Mutter, wir wollen die Jause!

... Fünfundzwanzig Jahre waren seit jener mütterlichen Nachsicht vergangen. Da saß ich in der Bibliothek zu Jena und trug bereits eine Brille, den  Kurzsichtigen dem Philosophen ähnlich macht. Ich hatte das Vorrecht, dem großen Denker Rudolf Eucken vorgestellt zu werden. Kaum wechselten wir ein paar Worte, da lud mich Professor Eucken zu meiner freudigen Überraschung „zum Vier-Uhr-Kaffee“.
Ich war zum Vier-Uhr-Kaffee gegangen. War das ein Unterschied zwischen der Jause der Mutter und dem Vier-Uhr-Kaffe in Jena! War das ein Unterschied!

II.
Die hohe Kunst Paprikafisch zu essen

In der südöstlichen Donauecke der Komitats Tolna liegt eine der ältesten Siedlungen der Magyarentums, der durch seine uralte Hausindustrie heute bereits weltberühmte Sárköz. Vor hundertundetlichen Jahren wehrte sich noch der Sárköz in bitteren Petitionen gegen Schutzdamm und Flussregulierung, denn diese würden die fischreichen Gewässer der Niederungen ihrer Schätze berauben. Navigare necesse est, non est necesse vivere: - diesen Wahlspruch des Römers übersetzen die Sárközer für den eigenen Gebrauch: der Mensch könne zwar ohne Acker, doch nicht ohne Fischfang leben.

Diesen Sárköz besuchte vor dem Krieg jeden zweiten Sonntag einer meiner liebsten Vettern vom Szekszárder Hügelland um unter mannigfaltigen Vorwänden von öffentlichen Angelegenheiten und ackerlichen Angelegenheiten eine Paprikafisch zu kochen und selbigen mit zärtlicher Umständlichkeit zu verzehren. Da wurden die verschiedenen Fischsorten mit abwägender Sorgfalt gewählt und dem auch von der Jahreszeit mitbestimmten Geschmack gemäß in den „melting-pot“ geworfen. Selbstreden begnügte sich mein Vetter, den ich nun mit dem Namen Fischvetter erwähnen werde, bei weitem nicht mit dem vulgären Zusammenkochen von Schiel und Donaukarpfen, um das beim Kochen vergallernde zarte Gewebe bestenfalls noch durch die geschmeidig-schlanken Körperteile eines eleganten Störs zu befestigen. Die ältesten Fischer der Gegend näherten sich, erwartungsvoll am Kahnschnabel stehend, ihrem fachkundigen Abnehmer; nach längerer Beratung, an der auch Flösser und Fährmänner der Nachbarschaft teilnahmen, wurde das Maß der noch zu kochenden Barben und Huchen, Karauschen und Welsen, Grundeln und Zingeln, einzeln bestimmt, zu guter Letzt aber die geziemende Zwiebel- und Paprikamenge zugesetzt. Ich konnte bloß die bekannteren Fleischsorten des Sárközer aufzählen, doch es wurden noch weitere Dutzend kleinere Fischsorten zur Hebung der Würzigkeit gelegentlich angewendet. Ihrer deutschen Namen aber kennt kein Wörterbuch. Offenbar waren Herr Fischvetter und seine Sárközer Helfershelfer der Meinung, dass die Schwaben von den Ungarn ohnehin schon genug erfahren haben.

Da gab es nur eine Sache, die mein liebster Herr Fischvetter besser erlernt hatte als dieses dreißigjährige Kochen des Donaufisches, und das war: - das Verzehren seines Kunstwerkes. Das schneeweiß zerfallende zarte Fleisch, das knochenlose weiche Fischkissen im richtigen Augenblick schnell aufgegabelt, auf den Löffel geschoben und ohne städtische Angst vor Gräten rasch hinunter geschluckt. Rogen und Milch in verschiedener Rollenverteilung. Selbst kleine, grätige Fische in den fachkundigen Mundwinkel eingeführt, das reine Fischfleisch in der fortmahlenden Mühle von Zunge du Zahn vom Abfall der Gräten befreit. Und was der Stümper nicht ahnt: aus dem Fischkopf und Innereien den dort weilenden Feingeschmack einzeln herausgeschält. Wahrlich: - es gab keinen, selbst unter den ältesten Fischerleuten nicht, der dieses Fach gründlicher beherrschte, als Herr Fischvetter. Während dreißig Feinschmeckerjahre blieb er auch der meistbewunderte Fischesser des Sárközer Kessels.

...Zwanzig Jahre waren nachher vergangenen, seitdem Herr Fischvetter vom alten Kessel fortgezogen ist. Da geschah es, dass Fischvetters älterer Sohn in irgendeiner Angelegenheit in dasselbe Sárközer Dorf geriet.

Im Gasthof bestellte er Paprikafisch. Kaum aber hatte er mit dem Essen begonnen, als ein alter Bauer auf ihn zutrat und ihn recht artig anredete:
Verzeihung: - ist der junge Herr nicht der Sohn des Fischvetters?
Wie haben Sie mich erkannt? wunderte sich der junge Mann.
Gleich hab´ ich gewusst, Sie müssen ein Sohn des Fischvetters sein. Sie essen ja den Fisch genau so, wie ihr Herr Vater.

Der jüngere Fischvetters Sohn kam nicht nach dem Sárköz. Er blieb dem Paprikafisch fern. Ihn traf ich im Winter 1925 in einem Riesenkomptoir der Wall Street. Schlag ein Uhr rannten wir schnell über sie Straße in eines der Luch-Rooms im Geschäftsviertel, wo Chauffeur und Fahrgast, Broker und Boy, Typist und Bankier, einer hart am Ellbogen des anderen, in eilenden Schichten das kalte Menu stehend hinunterschlingend. In dem gedrängt vollen Raum, vor dem kaltsauberen Nickelautomaten in Reih und Glied standen die Menschen aus der Wall Street, verschlangen auch wir die hartgesottenen Eier und Artischocken mit Käse. Hinter uns schnaubte schon die folgende Fünf-Minuten-Schicht. Abgerissene Worte von call-money, von Export nach Chile, von Fracht und Registertonnen flogen über Papierteller hin und her.

Der leichtfertige Etymolog hat für diese Mittagspause des Fünf-Minuten-Büffets und für das zweistündige Fischgericht im Sárközer Kessel nur das eine Wort: „Lunch“.

III.
„Wer aus der Theis einst Wasser trank...“

In der Weihnachtswoche 1924 sang Sári Fedák dieses Lied vor einer dreitausendköpfigen ungarischen Zuhörerschaft im Manhatten-Saal von New York.
Da waren alte und neue Einwanderer, citizens und non-citizens, Ungarn, die reich geworden, und Ungarn, die arm geblieben. Die Vereinigten Staaten standen gerade auf dem Scheitelpunkt der Prosperity, während aus dem alten Vaterland noch immer trostlose Berichte von Elend und Verfall herübergelangten.
Und doch, so oft die Fedák den Kehrreim sang:
„Ki a Tiszavizét issza,
Vágyik annak szive vissza“
„Wer aus der Theiß einst Wasser trank,
Sehnt sich zurück sein Leben lang“, -
Gingen die Töne des Liedes unter im Schluchzen von dreitausend Menschen.
Nur Einer stand abseits an einer Seitentüre. Es schien, als ließe ihn die allgemeine Rührung kalt. Auch ihm sah man den Ungarn an. Ein Mann von mittlerem Wuchs, kräftig gebaut, der Blick gerade und klug, die Haare spärlich, braunrot, als hätten sie es noch nicht der Mühe wert gefunden, zu ergrauen, der kurze Schnurbart war auf ungarische Bauernart aufgedreht. Sein anscheinend fertig gekaufter, schon etwas abgenützter dunkelblauer Anzug sprach von bescheidenem Stand. Sonderbar, an seinem Äußeren waren eigentlich nur flache Ohrringe aus Kupfer oder Gold, die ihm einem Steuermann oder einem Stegarbeiter im alten Vaterlande ähnlich machten.
Er winkte des öfteren abweisend mit der sommersprossigen Hand und murmelte wiederholt:
„Tisza vizét!“ „Tisza vizét!“
Als wir den Saal verließen, redete ich ihn an. Im Laufe unseres Gespräches erzählte ich u.a. von der Überlieferung, dass die Theiß bloß zu einem Drittel aus Wasser, zu zwei Dritteln aber aus Fischen bestände. Dies gefiel ihm. Er schien Vertrauen zu gewinnen und teilte mir mit, dass er seit 27 Jahren in Amerika lebe und vor dieser Zeit an einer Theiß-Fähre beschäftigt war.
 - Was wissen die da von der Theiß! rief er geringschätzig aus und erhob die schwere Hand, um auf New York, auf Amerika zu weisen. Dann besann er sich und zeigte mit dem Daumen nur noch auf die Dreitausend, die aus dem heißen Saal in die eisige Nacht herausströmten.
„Tisza vizét!“ „Tisza vizét“ Was wissen die von der Theiß zu sagen!
Nun kam er ins Reden. Lange schon trug er sich mit dem Gedanken mit seinem ersparten Geld im East-End ein ungarisches Gasthaus aufzumachen. Da war an einer guten Ecke ein drug-store, das hatte er als Lokal ausersehen. Aber bis zum heutigen Tag ist es bei der Absicht geblieben.
Wir wurden so guten Freunden, daß wir am nächsten Nachmittag einen Spaziergang unternahmen, um den drug-store zu besichtigen, der ahnungslos dastand, wie seit 23 Jahren immer, während der angehende ungarische Gastwirt täglich einmal träumenden Schrittes an ihm vorüber ging.
Das wäre ein prächtiger Platz. Warum haben sie so lange mit dem Gasthaus gezögert?
Er sah mich lange an und sagte dann:
Herr, haben sie jemals Stirl von der Theiß gegessen? Paprika-Stirl? Wo gibt es hier einen ähnlichen Fisch?
Mir fiel der berühmte Gourmet de la Regnière ein, der im Jahre 1808 die Umwälzung der französischen Revolution in einem Satz zusammenfasste:
„Kein einziger Steinbutt in der Markthalle.“
Mein Freund sprach das englische Argot des eingewanderten Bauers, dann setzte er ungarisch fort:
„Tisza vizét!“ „Tisza vizét!“ Vom Theiß-Stirl sollte man sprechen!
Dreiundzwanzig Jahre. Der Weltkrieg hat die Welt in Trümmer geschlagen, zehn Millionen Menschen sind tot, und zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem dröhnt der Atlantische Ozean. Dieser Ungar aber leidet seit dreiundzwanzig Jahren an der Nostalgie nach dem einzigweißen Stirlfleisch vom szikbettigen Gerinne, nach dem Stirl aus dem sodabettigen Gerinne, nach dem Stirl aus der Theiß ,das er in Amerika vergebens gesucht hatte und ohne dass er sich unmöglich entschließen konnte ein Gasthaus zu eröffnen.
Vom Fischkochenden Sárköz sagte ich kein Wort, das war ja nur – Donaustirl...