(c) Pester Lloyd / Archiv
Aus dem Pester Lloyd von 1933
Stefan Zweig
Kleine erlebte Lektion über Vergänglichkeit
Unter den vielen Dingen, die jetzt in England den Gast so wohltätig berühren, wirkt am stärksten vielleicht die völlige Abwesenheit jeder politischen Überhitzung und Überspritzung; dadurch gewinnen die künstlerischen Interessen ihren redlich-rechtlichen Raum und mit entwöhnter Verwunderung sieht man den bei uns rar gewordenen Anblick, daß allabendlich vor vielen Theatern zahlwillige Besucher stundenlang Schlange stehen, oder gemächlich auf mitgebrachten Faltstühlchen sitzend, die Kassaeröffnung abwarten. Die Museen sind, man kann sagen, in Permanenz besucht, die Konzerte vortrefflich , von Verlegern hört man nicht die üblichen Klagen und wie stark das Interesse an Büchern ist, war in dem Ansturm auf die von der Sunday Times im Sunderlandpalais veranstalteten Buchausstellung wahrzunehmen. Man hatte Mühe zu den einzelnen Schaukästen zu gelangen, so dicht war die Menge und um drei Uhr nachmittags schon jeder Katalog vergriffen: all dies an einem durchschnittlichen Wochentag. Nun ist diese Ausstellung wirklich ausgezeichnet angelegt, man kann nicht nur vom Verlegerstand die gerade neu ausgebackenen Bücher noch ganz frisch kaufen, garantierte „first edition“, sondern auch in Schaukästen bibliophile Schätze bewundern, die Erstausgaben Shakespeares, die Caxton-Drucke, zahlreiche Manuskripte der älteren und der zeitgenössischen Dichter, ein anschaulicher, bildhafter Überblick also über fünfhundert Jahre englischer Literatur gleichsam im Vogelflug. Aber am eindringlichsten und anregendsten für mich persönlich war eine kleine Abteilung: „A hundred years of best sellers 1830-1930“, weil sie sich in eine moralische Lektion für jeden Schriftsteller verwandelt.
In dieser originellen Abteilung (ich glaube der Versuch ist nirgend zuvor gemacht worden), hat Desmond Flower chronologisch diejenigen Bücher sich bemüht zusammenzustellen, die jeweils in einem Jahr seit 1830 in England best sellers, also die meistgekauftesten Bücher gewesen waren – best sellers – ein Begriff, der sich selbstverständlicherweise keineswegs mit jenem der best books, der wirklich wertvollsten Bücher deckt, oder nur ziemlich selten. Die Liste weicht wahrscheinlich sehr weit ab von jener, die die Literaturgeschichte als die nationale Bestleistung aufzustellen hätte, aber gerade so wie sie ist, scheinbar wahllos und kritiklos, will sie mir unendlich charakteristisch erscheinen als Geschmacksbarometer der einzelnen Epochen und ein kluger Kulturhistoriker könnte allerlei Wesentliches aus einer solchen Tabelle ablesen.
Mit einer gewissen kollegialen Neugier trat ich also an diese Schaukästen heran und konnte wirklich bald einige vertraute und hochverehrte Bekannte unter diesen ausgelegten Erstausgaben grüßen, die alte gute „Onkel Toms Hütte“ von Beecher Stowe, „Die letzten Tage von Pompei“ von Bulwer: dann kamen Bücher und Namen, die ich schon lange vergessen hatte und die nur ganz weit in der Zeit einmal die Brandung ihres Ruhmes an die Küste meiner Kindheit gespielt, der „Little Lord Fauntleroy“, heute selbst ein Buch für Kinder geworden, und „Trilby“ von George du Maurier, ein hypnotisch-mesmerischer Roman, der dann, schmissig dramatisiert, einer der kräftigsten Nervenreißer der Zeit wurde. An manche Namen erinnerte ich mich noch schwach, gewissermaßen halbwach. Dann aber kam eine große Reihe, deren Namen ich nie gehört, nie gelesen hatte, nicht „The Mistery of a handsome Cab“ von Fergus Hume, ein Buch, von dem vor einem viertel Jahrhundert eine halbe Million Exemplare verkauft wurden, nicht die Werke von Corelli, der Baroneß Orsky und der Quida, nicht einmal jene des letzten Jahrzehnts. Das war geeignet, eine ganz gute Lektion gegen Hochmut einem Schriftsteller zu geben und besonders jenen, die selbst ab und zu in diesen beneideten Kreisen der best-seller sich vorgewagt, denn wie, wenn die Vergänglichkeit, die Vergesslichkeit so rasch selbst die einst geliebtesten, die einst begehrtesten Werke und Werte ergreift? Tausende, Zehntausende Bücher (und ebenso Bilder und Melodien) bringt jedes Jahr, aus dieser unübersehbaren Fülle werden im Gedränge einige nach oben gerückt, sie werden (jedes Mal ein Wunder bei diesem Getümmel) sichtbar, und von diesen wenigen, die sichtbar werden, finden dann einige wirklich den weg zu weiter lebendiger Wirkung, sie gehen durch Tausende, Zehntausende Hände in einem Jahr, sie finden Wohnung in Tausenden Stuben und sogar Herzen, sie füllen und erfüllen das Gespräch jener Zeit. Und doch, hier spürte ich es als Lehre, all diese Weite der Wirkung hat an sich noch nichts und aber nichts zu besagen, denn zehn Jahre, zwanzig Jahre nachdem tritt ein neuer Pharao an einen solchen Schrank und liest den Namen und weiß von dem Werke zum ersten Male. So rasch wie er sich geformt hat, kann ein solcher best-seller Erfolg zerlaufen. Zahl sagt nichts, selbst Wirkung sagt nichts, sie ist weder Beweis noch Wertprobe auf Dauer, sie ist meist nur Summe aus geheimnisvollen Elementen der Zeitstimmung, die niemand im voraus zu errechnen vermag. Immerhin, es wäre für jeden Schaffenden, und insbesondere für jene, die jedesmal bei einem neuen Werk meinen, die Welt zu erobern, die gierig auf die Wirkung warten wie ein Jäger auf den Schuss, recht empfehlenswert, solch eine Liste der gestorbenen Erfolge zu überschauen, um bescheidener zu werden in seinem Anspruch; vielleicht würde er dann jeden Erfolg eher als Gnade nehmen statt als ein Recht, er würde sich des gegenwärtigen dankbar freuen und nicht vermessen auf die Nachwelt pochen.
Aber die Lektion über Vergänglichkeit, sie war noch nicht zu Ende, denn im Katalog entdeckte ich in der Vorrede die noch viel erstaunlichere Mitteilung, daß die Liste der ausgestellten Werke leider nicht vollständig sei, weil von manchen Bestellern ein Exemplar heute nicht mehr aufzutreiben gewesen wäre. Nicht nur der Name also eines allerberühmtesten Werkes kann von einer zur anderen Generation vollkommen in Verlust geraten, sondern das Werk selbst sogar mit seinen einstmals Tausenden und Zehntausenden Exemplaren so unauffindbar werden, daß in einer Stadt wie London, die unter ihren sieben Millionen Menschen doch eine gute Anzahl tüchtiger Antiquare birgt, mit aller Spürkraft nicht ein einziges Exemplar der Erstausgabe für diese Ausstellung beizustellen war: sic transit gloria mundi! Nichts ist mir je geheimnisvoller gewesen als dies Verschwinden lebendiger Substanz, und alle Nationalökonomen, Antiquare und Verleger konnten mir nicht die Frage beantworten, wohin die Millionen Exemplare kommen, die jedes Jahr neu zu den schon vorhandenen produziert, wohin die Zehntausende Kilometer alljährlich frisch bemalter Leinwand, die unerschöpflichen Quantitäten des Kunstgewerbes? Auf welche Weise, von welch riesigem Schwamm wird all das aufgesaugt, wohin verliert sich diese immer neue, immer riesigere Masse, wo doch – die Auffindung immer neuer Originale der großen Meister beweist es – eigentlich nichts oder sehr wenig verloren geht? Irgendeine große Macht, eine Organisation geradezu der Vergänglichkeit, muß der Produktion in unserer Welt entgegenwirken, sonst wäre für das Neue kein Raum, sonst erdrückten die Magazine des Gewesenen geradezu die Arbeitsstätte. Es muß – ich empfand dies vor diesen gleichzeitig berühmt gewesenen und unauffindbaren Büchern - irgendeinen Dunkelraum geben, in den alles Geleistete zurücksinkt, bei Büchern einen großen, uns unsichtbaren Kreis Menschen, die sie entweder nur in Schränken weiter aufbewahren, ohne sie zu lesen, oder deren Wort und Antwort nicht mehr in unseren Lebenskreis empordringt, so daß diese Bücher und Werke eigentlich nicht sterben, sondern nur stumm werden. Sie verlieren wie bei Homer die Schatten der Unterwelt, nicht ihre einstige Form und Gestalt, sie sind zwischen ihren abgeschabten Buchdeckeln an Tausenden Stellen immer noch da, diese einstigen Helden und Heroinen der Stunde. Aber wie die Schatten des Acheron können sie nicht mehr sprechen, es sei denn, daß ein Lebendiger ihnen von seinem Blute zu trinken gibt, daß durch eine Neuformung oder Neubearbeitung manchmal eines dieser Werke (wir haben es in letzter Zeit häufig gesehen) auf gespenstige Weise seinen einstigen Erfolg wiedererlebt. Aber dies ist eine Ausnahme und Wunder beinahe: in Wahrheit ist diese Liste des einstigen Ruhms eine Leichenliste, und eben weil eine Totentafel, ehrfürchtig zu lesen von den Nachfahren und ohne frech mitleidiges Spötteln. Denn welchen Werts sie auch waren, diese gestorbenen Werke, sie haben lebenden Menschen einst Freude geschenkt, und wie immer und auf welche Art immer ein einzelner Mensch anderen die leeren Stunden belebt und erhellt hat, er ist dadurch legitimiert und niemand darf ihn überflüssig nennen. Arme gestorbene Bücher mit eurem armen gestorbenen Ruhm, wie still seid ihr geworden, die ihr so laut in die Welt gesprochen habt! Kein Wind von Neugier weht mehr durch eure vergilbten Seiten, keine Hand blättert euch mehr begierig, ungeduldig an, niemand ruft in den Bibliotheken mit der magischen Chiffer der Katalogzahl euch aus den staubigen Magazinen empor! Aber doch, hier ist einer unter den vielen, die lächelnd und überlegen an euch vorübergehen, der Mitleid mit euch fühlt, weil man euch so plötzlich aus einem guten Schlaf aus eurer totentiefen Vergessenheit emporgerissen hat, nicht um euch liebend zu lesen, sondern uns Schaustück zu sein gegen euren eigentlichen Willen, und für den ewigen Widersacher alles Lebens zu zeugen: für die Vergänglichkeit!
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