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Aus dem Pester Lloyd von 1936
Alfred Stern
Zauberbergpsychologie
Landschaft ist nicht Physis allein. Landschaft hat auch ein geistiges Antlitz. Und der Genius einzelner großer Menschen ist es, der einer Landschaft ihre geistige Prägung gibt, gültig für Zeitgenossen und Nachfahren. Immer noch sehen wir die holländische Landschaft mit jenen geistigen Zügen, die ein van Goyen oder ein Jacob van Ruisdael in sie hineingesehen, und das Oberengadin, diese hochgetürmte Welt machtvollster Schönheit um Sils und Sankt Moritz, gilt uns seit Nietzsche als die „heroische Landschaft“. Nun ist kaum mehr als ein Jahrzenht vergangen, seit Thomas Manns gewaltiger Davoser Sanatoriumsroman „Der Zauberberg“ mit dem Nobelpreis gekrönt wurde. Jenes Meisterwerk moderner Erzählungskunst, dessen suggestiver Kraft Hunderttausende erlegen sind, und schon zeigt sich: der geistige Stempel, den die Davoser Landschaft damit empfangen hat, ist unverwischbar in ihre Züge geprägt. Wir können sie nicht mehr anders sehen denn als „Zauberberg“.
Dagegen wird aber von denen, die seit Jahr und Tag auf dem Zauberberg hausen, seine dünne, klare, eisfrische Luft und zugleich seine geistige Atmosphäre atmen, mit der ganzen Kraft ihrer Überzeugung angekämpft. Es ist dabei keineswegs von jener erregten, ein Jahrzehnt zurückliegenden Periode die Rede, da – in überaus heftiger Reaktion gegen Thomas Manns „Zauberberg“, regelmäßige wöchentliche populärwissenschaftliche Vorträge abgehalten wurden, in denen man die vom Dichter aufgeworfenen Fragen leidenschaftlich diskutierte. Nein, - die unmittelbarste Gegenwart ist gemeint! Wie mächtig das Zauberbergproblem die Geister da oben heute noch bewegt, dafür zeugt auch die in diesen Tagen erschienene Zehnjahr-Jubiläumsnummer der „Davoser Revue“. Da schreibt etwa Professor Dr. Dorno, der berühmte Physiker und Chemiker, der seit nahezu drei Jahrzehnten als Forscher in Davos wirkt: „Der Antipode des „Zauberberg“ ist immer noch nicht gefunden. Anläufe, recht schwache oder extravagierende Anläufe sind wohl gemacht worden, um zu beweisen, daß der lethargie der Zauberbergkrankheit ein ungest+mer, weltenerobernder Heroismus verschwistert ist; gänzlich fehlt aber noch der der Welt der Lungenkranken absolut charakteristische Zug der Nächstenliebe, der charitative Charakter des Zauberberglebens“.
Als ich in diesen Tagen oben bei den Zauberbergmenschen weilte, in ihrer göttlichen Hochlandschaft am Davoser See, da wurde mir wieder einmal klar, wie sehr das Geistige angesichts seiner Unräumlichkeit örtlichen Bindungen widerstrebt. Denn selbst in Davos hat der Zauberberg aufgehört, ein biografischer Begriff zu sein. Er ist Ausdruck einer Weltanschauung geworden, raum- und zeit- unabhängig. Zauberberg – das ist die seelische Atmosphäre der Krankheit, die Psychologie und Ethik des Krankheitserlebens. Als so mächtig hat der geistige Niederschlag aus der geschichte eines höchst einfachen jungn Menschen sich erwiesen: jenes Hans Castrop aus hamburg, des Helden von Manns „Zauberberg“, der nach bestandenem Technikerexamen zum Besuche seines Vetters Joachim Ziemßen nanch Davos kam, um nur drei kurze Wochen oben zu bleiben und dann doch sieben lange Jahre blieb. Gewiß – er hatte oben sogleich „heiter Bäckchen“ bekommen, eine trockene Gesichtshitz, er war sofort „beschwipst“ gewesen von den löslichen Giften, die von den Bakterien erzeugt werden. Castrop war ja nhur vermeintlich gesund gewesen, hatte aber die latente Tuberkolose mit sich umhergetragen. Dennoch: Sieben Jahre lang hätte er nicht bleiben müssen, so schwer krank war er keineswegs. Aber es ist so bequem, zwischen Speisesaal und Liegeterrasse hin- und herpendelnd, bloß der Pfelege des eigenen Körpers zu leben, nur sich selbst zu dienen, keine Pflichten gegen Fremde zu haben, keine geistigen Aufgaben und keine moralische Verantwortung und sich nicht sorgen zu müssen um das, was in der großen Welt vorgeht, außerhalb des Krankenglobus Zauberberg. Es bedarf des ungeheuren Ereignisses eines Weltkrieges, um Castrop aus seiner Lethargie zu reißen, um die seelische Zauberbergkrankheit zu überwinden, an der der Mensch mehr Schaden nimmt, als an der körperlichen Schwindsucht. Denn sie ertötet das menschliche Ethos, die geistige Schaffenskraft, die moralische Verantwortlichkeit.
Es zeugt für die gewaltige Macht eines Dichterwortes, daß diese im Zauberbergepos Manns nicht wörtlich, aber doch sachlich ausgedrückte These, innerhalb weniger Jahre zur Entstehung einer mächtigen wissenschaftlichen Literatur geführt hat, in der nicht nur Ärzte, sondern auch zünftige Psychologieprofessoren der intuitiven Seelenkunde Manns ihre empirische Lehre entgegenstellen. Es galt, wissenschaftlich zu untersuchen, ob die vom Dichter entdeckte und beschriebene Zauberbergkrankheit wirklich unabwendbares Schicksal sei, aus dem es kein Entrinnen gibt. Ihre Symptome sind zweifellos sichergestellt. Sie bekunden sich im allmählichen Verlust psychischer und damit auch physischer Widerstandkraft gegen die Krankheit, in dumpfer Gleichgültigkeit gegenüber allen Ereignissen außerhalb der engen Krankenwelt, im Aufgehen in der Krankheitsidee, in einem gereizten, gepflegten Egoismus, in geistiger Interesselosigkeit, in egozentrischer, verflachender Umformung der Gedankentätigkeit.
Um aber zu erkunden, ob solcher Zustand wirklich mit Naturnotwendigkeit eintreten müsse, muß untersucht werden: Wie weit ist er durch physische Erkrankungen bedingt, wie weit durch den eigenen Charakter des Patienten und wie weit durch die geographische Umgebung? Selbst diese letztgenannte Komponente ist heute isolierbar, denn wie es eine Geophysik gibt, so gibt es auch eine Geopsychologie“. Ihre Pioniere sind die deutschen Psychologen Profesor Willy Hollpach und Professor rich Stern, die in richtungsgebenden Werken den Einfluß von Boden nd Landschaft, Gebirge und Wasser, Klima und Wetter auf das menschliche Seelenleben erforscht haben.
Den Untersuchungen dieser und anderer Davoser Forscher gemäß, ist nun Manns Zauberbergkrankheit keineswegs unabwendbares Schicksal. Vom Typus des Menschen, der sich an die Krankheit verliert, unterscheidet Professor Erich Stern jenen anderen Typ, der an der Krankheit wächst. Glücklicherweise hat die Geistesgeschichte uns ein machtvolles Beispiel für dieses scheinbare Paradoxon geliefert, indem sie uns einen Friedrich Nietzsche schenkte, der just hier, in den Engadiner Bergen, tagelang halb bewusstlos in verdunkeltem Zimmer auf dem Bette lag, geplagt von hämmernden Kopfschmer, geschüttelt von Fieber und Magenkrämpfen, gepeinigt von Schlaflosigkeit, gefoltert von zeitveiser Blindheit, und der dennoch ausrief: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker!“ Jenen Nietzschem der wirklich aus tiefsten Leid seine „Fröhliche Wissenschaft“ schöpfte und aus kläglichster körperlicher Hinfälligkeit der Welt seinen „Willen zur Macht“ ins Antlitz schleuderte. Jenen Nietzsche, der da lehrte, die Krankheit sei dem Menschen unentbehrlich, denn erst der große Schmerz sei „der letzte Befreier des Geistes“. Jenen Nietzsche, der seinen Freunden Krankheit „wünscht“, weil er in ihr das einzige sieht, „was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht – daß er standhält“. Jenen Nietzsche endlich, der „nicht mit Undankbarkeit von jener Zeit schweren Siechtums Abschied nehmen möchte,“ weil es ihm gezeigt hat, was er „vor allen Vierschrötigen des Geistes voraus hat“.
Der Einzelfall eines Genies! – so wird man mir entgegenhalten. Nein! Denn auch im Davoser Alltag konnte ich beobachten, wie höchste Kraft aus tiefster Schwäche sich erhebt, als hätten im Leben des Geistes die Erhaltungsgesetze keine Gültigkeit. Aus den vielen Beispielen sei eines von allgemeiner Bedeutung herausgehoben: Jules Ferdmann. Aus dem innersten Russland, aus Samara an der Wolga, war er vor eineinhalb Jahrzehnten nach Davos gebracht worden, ein Sterbender. Ein einziger Blutsturz hatte ihn zwei Liter des teuren Lebenssaftes gekostet. Die balsamische Luft des Engadin die „Davoser ärztliche Kunst flößte ihm neues Leben ein. Körperlich ging es zunächst nur langsam aufwörts, geistig aber ließ er die Krankheit nicht Herr werden über sich. Kaum zu Kräften gekommen, gründete er die „Davoser Revue“; eine Zeitschrift, von Kranken geschrieben, denn ihre Mitarbeiter sind fast nur Davoser Patienten – und dennoch gesund im Geiste. In den ersten Jahren gegen bitterste materielle Not kämpfend, deckte der damals noch kranke Ferdmann das Defizit der Zeitschrift aus dem Etrag von Privatlektionen. Heute, nach zehn Jahren, hat sie sich restlos durchgesetzt, als stärkster Bewei gegen die Unabwendbarkeit der Zauberbergkrankheit. Das hohe Niveau der aus allen Davoser Sanatorien auf Federmanns Redaktionstisch flatternden literarischen und wissenschaftlichen Beiträge beweist, daß es eine Erhebung über Lethargie und Egosimus des Krankenlebens gibt zu geistigem Schaffen, zu sittlicher Mitverantwortung an der Lösung der Menschheitsprobleme. „Nicht von Krankheit, Elend und Tod soprechen, sondern von dem, was den Kampf dagegen lohnend macht, dies“ - so schreibt eine junge Patientien – Baronesse Nora Economo – „sei das ziel, dem Ferdmann sein Leidensgenossen zuführt“.
Albert Mathieu, der berühmte Pariser Internist, hatte die Kranken seiner Tuberkuloseabteilung glauben gemacht, er habe ihnen ein absolut wirksames Wundermittel gegen ihre Leiden verabreicht. Der Erfolg? Bei sämtlichen Kranken Aufhören des Nachtschweißes, nachlassen des Hustens, Hebung des Appetits und sogar physische Besserung der erkrankten Lungenpartien. Nach kurzer Zeit Gewichtszunahmen bis zu drei Kilogramm. Und dabei war jenes „Wundermedikament“ nur – Zuckerwasser gewesen! Angesichts solch physischer Macht der Einbildung versteht man die Furcht der davoser Ärzte, Thomas Manns „Zauberberg“ könnte in die Hönde ihrer Patienten gelangen. Sie fürchten dies gerade um der genialen, suggestiven Kraft willen, mit der der Dichter da die negative Seite der Krankheit schildert. Aber die heftigen Vorwürfe, die darum von ärztlicher Seite gegen Thomas Mann erhoben werden, überschreiten dennoch oft die zulässigen Grenzen. Wenn etwa ein angesehener Mediziner in einem Davoser internationalen Ärztekurs erklärte, Manns „Zauberberg“ sei „ein unnützes Buch“, so übersah der gelehrte, daß es nicht Aufgabe der Kunst sein könne, außer ästhetischen und Erkenntniswerten auch noch praktisch nützliche Nebenresultate zu liefern. Kunst ist autonom, sie darf nicht fremden Gesetzen unterworfen werden, seien diese auch so heilig, wie die der menschlichen Wohlfahrt. Nur Eines – so glaube ich – dürfte man dem Künstler zu bedenken geben: Kunst ist Synthese des Lebens. Als solche aber müsste sie sowohl die Thesis wie die Antithesis des Lebens unter sich begreifen und nicht bloß die Antithesis allein!
Die schöne Literatur als Gefahr für den Arzt? Bedeutet das nicht Kapitulation vor der alten, charlatanhaften Suggestionstherapie? Ich glaube nicht. Was in Davos angestrebt wird, ist ja nicht Heilung durch den Geist. Aber auch nicht Heilung ohne den Geist!
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