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Aus dem Pester Lloyd von 2004

György Dalos

Der europäische Zug
oder Das Schicksal einer Metapher

Metaphern und Sinnbilder hinken fast immer, bezeugen jedoch oft die Mentalität ihrer Erzeuger. Schwärmten die vorsichtigen sowjetischen Reformkommunisten nach 1985 von einem „Haus Europa”, in das sie gerne einziehen wollten, lautete zur gleichen Zeit der Slogan der etwas dynamischeren ungarischen Reformpolitik, das Land sollte nun endlich auf den „europäischen Zug aufspringen”. Damit war das damals noch vorsichtig geäußerte Vorhaben einer Annäherung an die EU gemeint.

Sicherlich schwebte den Erfindern dieser Metapher nicht irgendein Bummelzug vor, sandern das Eurocity-Netz, etwa der Zug mit dem stolzen Namen „Leonardo da Vinci”, der zwischen Deutschland und Italien verkehrt. Dieses Wunder modernen Bahnverkehrs mit Kurs-, Schlaf-, und Liegewagen, Zugrestaurant, Zugtelefon, Quick-Pick Buffet und sonstigen Bequemlichkeiten verkörperte all das, wonach sich jeder Ostblockbürger sehnte.

Allerdings blieb damals um den Zug Europa einiges ungeklärt: Sollte etwa dieses Aufspringn an einem der Bahnhöfe geschehen, oder unterwegs, in einem Augenblick, in dem der Zug seine Fahrt verlangsamt? Haben wir bereits das Ticket mit einem entsprechenden Zuschlag in der Tasche oder müssen wir vor der Kasse Schlange stehen? Verfügen wir über die Reisekosten oder muß das Geld erst geborgt werden, und wenn ja, bei wem? In der großen Euphorie wurden solche Fragen kaum gestellt. Das Wort Europa galt nicht als geographischer Begriff, sondern als Zauberformel. Es herrschte fast allgemein die Auffassung, daß die Übernahme der Grundwerte der westlichen Zivilisation automatisch zur Besserung der Verhältnisse im Osten führen müsse.

Worte, die einmal zündeten: Freiheit, Demokratie und Nation, verwandelten sich mittlerweile in journalistische Gemeinplätze. Es geschah ihnen dasselbe, was dem Gelde widerfährt. Sie wurden zunehmend inflationär. Aehnlich erging es dem Namen unseres Kontinents. Die Alltagsschwierigkeiten der jungen Demokratie ließen die Entfernung von dem westlichen Nachbarn größer denn je erscheinen. Die nach wie vor häufige Erwähnung des Namens Europa löste statt der üblichen Schwärmerei allmählich Irritationen aus. Im Frühjahr 1991 schlug der ungarische Autor Péter Esterházy ironischerweise vor, daß jeder, der ab jetzt das Wort Europa im Munde führt, Strafgeld in eine zentrale Kasse einbezahlen sollte. In der Öffentlichkeit tauchte da bitterböse Bonmot auf, Ungarn gehöre eigentlich Westasien an.

Dieser Tage fuhr ich mit dem nagelneuen ICE von Hannover nach Stuttgart. Angesichts dieses rollenden Denkmals der deutschen Wiedervereinigung mußte ich wieder an die armselige Floskel des Europazuges denken. Die abgewetzte Metapher gewann plötzlich einen zweiten, versteckten Sinn. Es ging und geht um Wettlauf, um Energie und Zeit, und schließlich um eine Hirarchie der Geschwindigkeiten. Dabei war der stolze ICE-Riese keineswegs der letzte Schrei der Technik. Auf der Tagesordnung steht wohl die Annäherung des Bodenverkehrs an den Luftverkehr.

Ungarns wirtschaftlicher Rückstand hinter dem Westen war nicht immer so groß. Zwischen der Eröffnung der ersten deutschen Eisenabhnlinie Nürnberg – Fürth (1835) und der Einweihung der Strecke Pest – Vác (1846) lagen nur 11 Jahre. Die Distanz vergrößerte sich in dem Maße, in welchem die glücklichere Hälfte Europas es verstand, moderne Technik und moderne Demokratie miteinander zu verbinden.

Über diesen Zusammenhang waren sich die weitsichtigsten Zeitgenossen bereits damals im Klaren. Als 1847 die zweite ungarische Eisenbahnlinie zwischen Pest und Szolnok eröffnet wurde, würdigte dies der große Dichter Sándor Petofi geradezu als politisches Ereignis:

Baut tausend Bahnen, baut noch mehr!
Das unbebaut nichts bleibe,
Daß Bahnen laufen kreuz und quer
wie Adern in dem Leibe.

Die Adern sinds, die Saft und Kraft
durch alle Lander leiten
und Handel, Kunst und Wissenschaft
befördern und verbreiten.

Und wenn ihr sorgenvoll euch fragt,
wo man das Eisen fände:
Sprengt alle Ketten, die ihr tragt,
viel Eisen gibts am Ende!

Petöfi empfiehlt also die Freiheit – Demokratie und nationale Unabhängigkeit – als Mittel zur Beschleunigung auch der ökonomischen und kulturellen Entwicklung. Nun verfügt das Land über beides, und es scheint nur mäßig froh zu sein. Während unserer versäumten Jahrzehnte machte nämlich Westeuropa eine enorme wirtschaftliche und technische Entwicklung durch. Es gibt kaum einen Politiker, der die Frage, ob und wann unser Rückstand eingeholt wird, optimistisch beantworten könnte. Dabei ist dies die einzige wichtige Frage. Um es mal im Bundesbahn-Deutsch auszudrücken: Kein ICE wartet auf einen Interregio, kein D-Zug paßt sich einem E-Zug an. Jede noch so kleine Verspätung einer hierarchisch untergeordnteten Zugverbindung zieht automatisch einen neuen, weit größeren Zeitverlust nach sich.

Die Metapher „Europäischer Zug” scheint aus dem Verkehr gezogen zu sein. Es gitb insgesamt weniger Diskussionen als früher, und Begriffe werden eher an einem Wirklichkeitsgefühl gemessen denn theoretisch geprüft. Es wird hart gearbeitet und man tastet sich in einem Tempo voran, das beim besten Willen keinem Vergleich mit einer Lokomotive standhält Wenn etwas von der Metapher heute noch brauchbar erscheint, so ist das nur die feste Entschlossenheit der Leute, in keinem Fall auf der Strecke bleiben zu wollen.