Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 2006

György Konrád

Schnell der eine, langsam der andere

Werde ich gehetzt, beeile ich mich, nicht getrieben, schlendere ich. Welches Streicheln ist angenehm: schnelles oder langsames? In welchem Tempo soll ich meinen Wein trinken? Es geht der Narr dem Tod entgegen, ganz so, wie er hurtig ausschreitet. Langsam und umsichtig baue ich an meiner Freiheit; diese Arbeit beansprucht mich ein Leben lang. Die Welt treibt mich zur Eile an; soll doch die Beschleunigung ein Zauberwort der westlichen Neuzeit bleiben, nicht aber meines, der ich mich selbst für einen Gemachisten halte. Apollinaire sagte einmal, hätte er vier Kamele, würde er durch die Welt ziehen und sie bewundern. Vier Kamele besaß er ebensowenig wie ich. Den Erfolg, wenn überhaupt, strebe ich auf Umwegen an, haste ihm nicht dort entgegen, wo es die anderen tun. Doch verirrt er sich zu mir, frage ich ihn, was er zu einer Tasse Kaffee sagen würde.

Worauf ich warte? Auf den Sinn meines Lebens. Soll er doch durch das Gartentor treten, den Hut abnehmen und grüßen. Und sagen: „Verehrter Herr, ich bringe Ihnen den Sinn Ihres Lebens.” Ich hebe den Blick, sehe durch das Fenster einen Helikopter, doch während ich dies niederschreibe, ist das Bild entschwunden: Von meinem Fenster aus ist der Hubschrauber hinüber in mein Bewußtsein geflogen. Die Wirklichkeit ist nur gewesen! Das Ereignis, wenn es denn einen Zeugen hat, verwandelt sich, während es geschieht, in ein Erinnerungsbild. Wirklichkeit ist Geschehen, Konfiguration, vorhanden nur für einen Augenblick.

Wo ist das Gestern? Gestohlen worden. Auf unseren Grabstein können wir meißeln lassen, wir hätten um eines vorweggenommenen Guten willen gelebt, nicht eines, das sich in der Gegenwart verwirklicht, sondern eines, das in der Zukunft vermutet, gewünscht und erhofft wird. Das verstand ich nicht und glaubte, vielleicht weil ich bequem und störrisch gewesen war, das Ziel sei das Erlebnis des Hierseins. Jener Augenblick, da ich geknechtet sagen kann: Hier ist es.

Den guten Ruf der Firma mehren? Damit muß man sich nicht beschäftigen, das ist zweitrangig; der mehrt sich auch von selbst, wenn die Firma zuverlässige Waren liefert. Die Beständigkeit ist ein Wert. Auch der Fortbestand wider die Vergänglichkeit. Einen Herzschlag zu überleben ist ein angemessenes Verhalten. Die Kunst des Überlebens ist ein weibliches Wissen; kein Duell und Davonjagen, sondern Klavier und Roman. Weibliche Methode: Das Buch schreibt sich selbst, du setzt dich hin, beobachtest, wartest, es treffen Angebote ein, der geduldig abgewartete Satz behauptet seinen Platz. In meiner grundlosen Eile indes habe ich viel Zuverlässiges gegen etwas weniger Zuverlässiges eingetauscht, so daß das Morgen Herr über das Heute geworden ist, während mir der heutige Tag zwischen den Fingern entglitten ist. Unter anderen Menschen ist der Schriftsteller gelegentlich wie eine Kindergärtnerin zwischen den Kindern.

Was sonst würde ich, überhäuft vom Zeitgemäßen, mit beiden Händen und allen zehn Fingern ergreifen wollen als das Zeitlose? Hier an der Donau haben wir unlängst – zwanzig Jahre ist es allmählich her – das vorangegangene Regime gestürzt und sind von einer großen Last befreit worden, doch sogleich ist ein anderer Fanatismus gekommen, der Geist des Kapitalismus, der Zwang des Wachstums, des Fortschritts, der Hast, worin vermutlich eine wesentliche Eigenschaft des Westens besteht.

Da das Leben endlich ist, könnte ich allen Grund zur Eile haben, doch weil das Leben endlich ist, habe ich keinen Grund zur Eile. Ich bin schwerfällig und raffe mich nur langsam auf; auch lesen kann ich nicht schnell, ebenso wie ich nicht gern flinker ausschreite als gemächlich. Einen Garten wollte ich haben, ein Haus, eine Familie, Freiheit, ein leidliches Auskommen, einige gute Bücher, einen Tisch, Schreibutensilien, Ruhe und Rauschmittel. Die Besinnung fliegt dem Bild hinterher. Der Hund wetzt dem Ball hinterher und bringt ihn hechelnd zurück. Immer will der Mensch die Grundvoraussetzungen schaffen, und inzwischen verliert er die ihm zugemessene Zeit.

Ich bin unvollkommen, also bin ich; seine Unvollkommenheit macht den Menschen endlich, also wirklich. Unvollkommenheit ist im moralischen Sinne ein Synonym für Fehlbarkeit. Meine moralischen Ideen gründe ich auf Fehlbarkeit und darauf, daß wir damit zurechtkommen. Uns glauben zu machen, daß wir dem Licht entgegengehen, ist nicht ganz leicht. Die Begeisterung darüber, daß wir uns der Zukunft entgegenrecken, geht mit dem Argwohn einher, daß es mit unserer Kabine auf dem Riesenrad rasant abwärts geht, immer schneller der Trübung des Verstandes entgegen.

Als würden wir an uns heiter die Symptome des allgemeinen Menschenschicksals begrüßen. Schreiben ist ein ständiges Ringen mit dem eigenen verkalkenden Gehirn. Die Winde bewegen sich, nicht der Baum. Was säuselt der Wind? Erfolg, Erfolg, Erfolg? Wie sollen sich meine Leser mehren, wie das Erwähntwerden, die günstig über mich klingenden Sätze, damit mein Sarg voll von Triumph sein wird? Echter Erfolg kommt von selbst; stellt er sich nicht ein, bemerken wir es nicht einmal.

Ich gehe hinunter auf die Straße, vertrete mir die Füße, beruhige mich, mein Verstand schlendert, wohin es ihm beliebt. Oftmals gefällt mir selbst das, was mir eigentlich nicht gefällt. Begeistert übernahm ich Pflichten und versuchte säuerlich, mich ihnen zu entziehen. Wir leiden an den Torheiten, und die Torheiten machen uns glücklich. In Japan, als man mich dort unter einem Ginkgobaum nach meiner Philosophie gefragt hat, habe ich mit dem Begriff der Komprehension, dieser Mißgeburt, geantwortet, da für solche Fälle die Verwendung lateinischer Ausdrücke am geeignetsten ist.

Religion des Verstehens? Verstehen ist wenigstens so unerbittlich wie barmherzig. Der richtende Mensch zürnt gern. Diejenigen, die sich am Angriff anderer berauschen, die das Zürnen zu ihrer alles beherrschenden Passion auserkoren haben, mache ich im allgemeinen nervös. Mich dort wohlzufühlen, wo ich mich gerade befinde, ist am einfachsten. In Bestform bin ich, wenn ich mich umschaue.

Seit meiner Kindheit weile ich am liebsten unter Nußbäumen. In diese Gegend verschlägt es keine gehetzten Menschen, die immerfort versuchen, auf der ansteigenden Welle zu segeln und verbittert sind, wenn sie zurückbleiben. Der Gejagte hatte mit Zeitnot zu kämpfen, hastete, log, glich aus, um sowohl das eine wie auch das andere tun zu können; stets will er mehr, als vorhanden ist, und den Augenblick des Zurückbleibens hat er ebensowenig berücksichtigt wie jenen anderen, den letzten.

Blindlings würfeln wir, hören auf eine Eingebung. Zerschlagen Sie das System bitte nicht, auch sollten Sie es nicht schnell durch ein brandneues ersetzen wollen! Ich gehe vom Zimmer in den Garten und sehe von dort hinauf zum Berghang, zu den spärlichen Laternen, es erwartet mich postume Häme. Im leeren Haus tutet ein anarchistischer infantil-seniler Betrüger mit einem Hahnenkopf auf einer im Kinderzimmer gefundenen Silvestertrompete.

Über die behagliche Gründlichkeit, mit der ich am Pult einer Hotelrezeption in Zürich das Anmeldeformular akkurat und kalligraphisch ausfülle, könntest du dich amüsieren. Eine nachlässige, überstürzte, kaum oder gar nicht leserliche Unterschrift ist nicht meine Gewohnheit, meinen Namen schreibe ich wie jedes andere Wort, damit man ihn lesen kann; ich schmiere nicht, zirkele nicht ab, versehe meinen Namen nicht mit einem Schnörkel. Zwecks Registrierung gebe ich meine Kreditkarte hin, mit einem Wort, ich verhalte mich fast wie ein normaler Gast, der sich nicht, ohne zu bezahlen, aus dem Staub machen wird; dennoch scheine ich irgendwie komisch zu sein. Na ja!

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke