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Aus dem Pester Lloyd von 2006

György Konrád

Schule des Geldes

Wäre ich als österreichischer Bankier auf dem Balkan – insbesondere auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien – an wirtschaftlichen Unternehmungen interessiert, würde ich die folgenden Überlegungen berücksichtigen. Wahrscheinlich wird sich die Periode der Loslösung und des Zerfalls ihrem Ende nähern, und die historische Pendelbewegung wird in Richtung Zusammenschluß, Wiederherstellung, vertragliche Vereinbarungen, Schaffung von Beziehungen und Reintegration zeigen. An der Schwelle vor einem künftigen Beitritt zur Europäischen Union bringen der Wind und die geistigen Wellenbewegungen die Werte der Zusammenarbeit zurück; das würde ich auch in meinen eigenen Unternehmungen von den Geschäftspartnern als sine qua non erwarten.

Kooperationsfähigkeit würde ich belohnen. Von denjenigen, die dazu wegen ihrer politischen Passionen vorläufig noch nicht bereit sind, würde ich mich abwenden. Wenn sie nicht geneigt sind, müssen sie eben warten! Sie haben es eiliger als ich. Geschäft ohne Kontinuität gibt es nicht. Und Kontinuität nicht ohne geduldiges Warten, nicht ohne Angemessenheit gegenüber der anderen Seite. Der ungeduldige Geschäftspartner ist zugleich auch unzuverlässig. Für eine Weile soll er getrost noch im eigenen Saft schmoren, soll lernen und beobachten, wem Erfolg beschieden ist und wem nicht. Einem Ungeduldigen wie ihm sicher nicht.

Die Anpassung des Balkans an die Europäische Union verlangt die Klärung der Subjekte, also auch die Entwicklung assoziierungsfähiger, moderner Nationalstaaten, bedeutet also zugleich politische, ökonomische und kulturelle Arbeit. Auch wenn der Prozess der Separierung, der Artikulation als politische Nation nicht ein für alle Mal beendet ist; die in der ersten Person Plural redenden und sich selbst als Nation betrachtenden Gemeinschaften befinden sich alle auf der Bühne. Sie haben sich zu erkennen gegeben und ihre Bedürfnisse angemeldet. Ein überraschendes Auftreten neuer Akteure ist nicht wahrscheinlich.

Eine moderne Nation kann sich nur in der Funktion eines transnationalen Kontextes auf den Beinen halten. Auch hinsichtlich ihrer Anziehungskraft und Zuverlässigkeit rivalisiert sie mit den anderen. Von einer neuen Zwangskooperation, deren Unterpfand und Garantie irgendeine bewaffnete Übermacht wäre, ist keine Rede. Zur Zusammenarbeit besteht keine Pflicht. Doch die Erklärung, daß es ein Geschäft ohne Kooperation nicht geben wird, wäre angemessen.

Die Wiederherstellung oder der Ausbau produktiver Beziehungen werden nicht durch Zwangsmaßnahmen der Europäischen Union garantiert, sondern durch ein im positiven Wortsinn verstandenes Interesse der politischen und wirtschaftlichen Akteure Südosteuropas.

Und noch etwas: durch Sympathien der interessierten Seiten, der öffentlichen Meinung Europas. Denn Europa ist auch eine Arena der Verführung und Zuneigung beziehungsweise auf der anderen Seite auch eine Arena des Überdrusses und des Abscheus. Europa widert das politische Banditentum an, die mit Unterweltpraktiken einhergehenden erhabenen Rhetoriken. Es langt mit dem kämpferischen Pathos, dem Championruhm der in der Gewaltanwendung zwischen den Nationen und Nationalitäten oder eben in der regulären oder irregulären Tötung von Menschen meisterhaften Männer! Die Glorifizierung der lokalen Kriegsherren, der warlords, ist eine Rede von  gestern. Es braucht Investitionen, durch die die sich anfeindenden Gemeinschaften vermittels der täglichen Arbeit und Kontakte einander näher rücken, um befähigt zu werden, die Moral der ethnischen, nationalen und religiösen Bürgerkriege hinter sich zu lassen.

Zu fördern sind die Verknüpfung der Interessen und die tägliche Geltendmachung jenes Sprichworts, wonach der Klügere nachgibt. In der ungarischen Variante dieser Redewendung heißt es im Nachsatz, daß der Esel leidet. Für wen der Kämpfer höchstes Ideal ist, der ist im Geschäftsleben nicht zuverlässig, neigt er doch zu Gewalttätigkeiten und Vertragsbrüchen. Die Tradition des Streits, der Zwietracht, des Im-Stich-Lassens, des Verrats, die Verherrlichung roher Gewalt, der blutige Ausgang von Konflikten, die Lobpreisung männlicher Aggression sind in Südosteuropa ebenso stark verbreitet wie in Osteuropa. Auch wenn diese Tendenzen im Schwinden begriffen zu sein scheinen, kehren sie doch gelegentlich zurück, um den einen oder anderen in Versuchung zu führen.

Diese Tradition aufzugeben, fällt nicht leicht. Es bedarf dazu einer disziplinierenden Kraft von außen. Jemand mußte im Laufe der Jahrhunderte Ordnung machen und den Despoten, die der Willkürherrschaft verfallen waren, die Macht des Gesetzes aufzwingen. Früher oder später tritt immer eine Ordnungsmacht auf den Plan, die die übereinander herfallenden Ruhestörer in Schach hält. Byzanz, Konstantinopel, Venedig, Wien, Berlin, Moskau und in gewissem Sinne auch Belgrad konnten deshalb so übermächtig werden, weil die zentrifugalen Kräfte nicht miteinander zurechtkommen konnten und auf eine Disziplinierung von außen angewiesen waren. Diese Tradition ist bis auf den heutigen Tag nicht zufriedenstellend abgeschlossen, wofür die Notwendigkeit internationaler Militärpräsenz Zeugnis ablegt. Wäre von einem Arbeitsterritorium reifer politischer Klassen die Rede, könnten die internationalen Verbände, die zwecks Friedenserhaltung auf dem Balkan stationiert sind, alsbald abgezogen werden.

Europa indes hält nicht nur einen Ölzweig im Schnabel und ist am vergossenen Blut auf dem Balkan, daran, daß Menschen heimatlos geworden sind, Ausgestoßene, keineswegs unschuldig. Eine als nationale Selbstbestimmung bezeichnete Separierung ohne entsprechende Garantien zu begünstigen, ohne zu kontrollieren, ob die neuen Mächte die grundlegenden Menschenrechte und internationalen Verpflichtungen einhalten, kann in der betreffenden Region viel Trauer und Leid verursachen.

Gut ist jede Initiative, die Anspruch auf Frieden und Zusammenarbeit erhebt. Schlecht ist jede Unternehmung, die beim Zustandekommen von sich isolierenden und autoritären Etatismen behilflich ist. Deshalb ist es um so richtiger und notwendiger, die neu auftretenden politischen Subjekte einer Prüfung zu unterziehen, ob sie imstande sind, mit ihren nächsten Nachbarn friedlich auszukommen und zusammenzuarbeiten. Denn sollte es nicht an dem sein, dürften auch die ferneren Nachbarn von ihnen nicht allzu viel Gutes zu erwarten haben. Wer möchte mit streitsüchtigen Menschen im selben Haus wohnen?

Die Expansion der Demokratie ist für ganz Europa gut. Denn unter sicheren Rahmenbedingungen läßt sie den Austausch von materiellen und geistigen Gütern auf dem gesamten Kontinent anwachsen. Ohne Frieden wird der Austausch teuer sein. Die Stationierung internationaler Streitkräfte in den unbefriedeten Regionen kostet mehr als die Unterstützung von Projekten, die die Gemeinschaften zusammenschweißen, die wechselseitige Toleranz stärken und eine freie Entfaltung der Individuen ermöglichen, stellt eine sozusagen präventive Maßnahme gegen die Gewalt dar.

Dem Auseinanderfallen sollte nun die Empfänglichkeit für die Kultur des Zusammenschlusses und der angemessenen vertraglichen Verhältnisse folgen. Erklärt die eine Seite die andere von vornherein zum Feind, wird es keinen Vertrag geben. Strebt die eine Seite die Vernichtung der anderen an, dann will sie allein in der Manege bleiben.

Die osteuropäischen und balkanischen Gewalttätigkeiten und Primitivismen sind Regressionen, ein Rückfall in die Moral des Krieges. Individuelle und kollektive Egomanien können vernichtend sein. Es gibt barbarische Rückfälle, unterstützt von einer westfeindlichen Romantik, die statt der harten Arbeit bürgerlicher Selbstdisziplin in verschiedenster raffinierter Form die Poesie nackter Gewalt verkündet. Die Barbarei der modernen Gesellschaften ist ein Rückfall auf dem Weg moralischer Progression. Moralische Progression bedeutet einen Weg und eine Entwicklungslinie zur Angemessenheit gegenüber der anderen Person. Rückfall geht einher mit einer Haltung, die den anderen besiegen und unterjochen will und aus Kompromissen hervorgehende Vereinbarungen ablehnt. Rückfall ist der Aufruhr gegen die europäische humanistische und demokratische Weltanschauung.

Nimmt der Zurückgebliebene den Unterschied zwischen den im Vergleich zu ihm Erfolgreicheren und sich selbst wahr, dann macht er sich entweder an die Arbeit und tritt in den Wettstreit ein, indem er die europäische Kooperation mit ihren Vorteilen und Lasten akzeptiert, oder er zieht das gesamte System der Spielregeln in Zweifel und lehnt es ab. Der Verlierer stößt das Schachbrett um. Die ungeduldigen Machthungrigen greifen zu allen möglichen Tricks, scheuen selbst vor der Destabilisierung der eigenen Länder nicht zurück, angefangen von gewalttätigen Demonstrationen bis hin zum Einsatz des gesamten Arsenals populistischer Demagogie, um mittels Aktionen außerhalb des regulären politischen Wettbewerbs die Oberhand zu gewinnen und durch eine Art Staatsstreich die Macht zu erringen.

Die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas sind vor diesen Regressionen, den Regelwidrigkeiten schlechter Verlierer, nicht geschützt. Bürgerliche Wechselseitigkeit, rechtsstaatliches Verhalten, ist eine schwierige Aufgabe und erfordert große Selbstdisziplin, zugleich eine eindeutige Ablehnung diktatorischer Bestrebungen, faschistischer Tendenzen und gemischt rotbrauner kommunistischer Muster. Sie alle verklären etwas Vergangenes. In dessen Namen schlagen sie denjenigen, der sich ihnen in den Weg stellt oder sich ihnen nicht unterwirft. Totalitäre Parteien erheben nach Möglichkeit Anspruch auf alle Macht und fordern Homogenität in jeder Form, selbst in der Sprache. Unter Betonung einiger Losungen fordern sie die Nicht-Existenz, den Sturz, das Verschwinden des anderen und übertragen die Mentalität der Fußballtribünen auf die Politik.

„Nur ich, nur wir” sagen die krakeelenden, streitsüchtigen Blasen. Die neototalitären Politiker schmieden fortwährend Ränke, um dem anderen, ihrem Rivalen, zu schaden und verzagen nicht, wenn sie das Land in einen politisch-mündlichen Bürgerkrieg stürzen. Sowohl geschäftliche Zusammenarbeit als auch vernichtender Ausschließlichkeitsanspruch besitzen ihren eigenen Stil. Im Gegensatz zum Toleranten füllt der Totalitäre den öffentlichen Platz mit Grobheiten aus und weckt beim friedlichen Bürger Ängste. Der Totalitäre kann kein Verbündeter sein, sticht, wie ein Skorpion, auch seinen Freund.

Der Buschauffeur trägt eine große Verantwortung; doch bei unserer Reise geht es nicht um den streitlustigen Busfahrer. Aus feindseliger Rede entsteht die feindselige Tat, verbale Gewalt geht in physische über. Wer der anderen Seite Ultimaten stellt, der bereitet sich entweder auf Gewaltanwendung vor oder macht sich mit seinen Posen lächerlich. Der nüchterne Bürger wägt ab, wer mehr von einem Tyrannen an sich hat und vor wem er im Falle eines Sieges mehr Angst haben muß. Mehr als ein Politiker in unserer Region hat noch nicht begriffen, daß es in der Geschichte nicht um ihn geht, daß nicht er die Hauptrolle spielt, daß er Diener und nicht Herr der Gemeinschaft ist, denn an Führern hat sie keinen Bedarf.

In einer Demokratie wird unser Denken nicht von der Rivalität der Politiker bestimmt. Die demagogischen Führer bestehen darauf, daß die Massen ihre Tautologien beachten. Mittels neutraler und korrekter Textanalyse läßt sich kontrollieren, ob die Parteichefs, die tonangebenden Figuren der politischen Klasse, in der Innen- und Außenpolitik die Sprache der Fehde oder der bürgerlichen Höflichkeit benutzen. Wenn alles davon bestimmt wird, wie man dem anderen schaden kann, statt sich gegenseitig an Kreativität zu übertreffen, dann wird die Gesellschaft auf eine niedrigere Stufe sinken, auf die eines Neonazis und/oder Neobolschewiken. Zivilisiert ist eine Partei in dem Maße, wie sie sich von Gewalt distanziert.

Toleranz der eine Pol, Terror der andere. Um uns den Klarblick für die vor uns stehenden Alternativen zu bewahren, müssen wir die gesamte Skala überblicken.

Man kann mit Hilfe von Geld erziehen, damit, wofür die Antragsteller Geld bekommen und wofür nicht. Der Ausbau der grenzüberschreitenden persönlichen und technischen Netzwerke ist eine europäische Arbeit. Europa ist eine große Schule. Geld belohnt und bestraft, besitzt eine Philosophie, das Geld braucht bürgerliche Verhältnisse, eine klare und stabile Rechtsordnung. Allerdings kann mit Geld auch Schlechtes bewirkt, großer Schaden angerichtet werden. Dem Geld kommt eine große Verantwortung zu. Wer über die Finanzmittel zu entscheiden hat, verwaltet das Leben anderer. Es lohnt sich, das Geld zur Ermutigung von Nationen, Städten und vor allem der Begabung einzelner einzusetzen. Kreative und über hohe Intelligenz verfügende Gesellschaften, in denen man voreinander keine Angst haben muß und sich an vielen hervorragenden Menschen ergötzen kann, halten wir für utopisch.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke

György Konrád hielt diesen Vortrag kürzlich anläßlich der Festsitzung der Steiermärkischen Bank und Sparkassen AG zum Thema „Check in! Südosteuropa – Erwartungen, Mythen, Realität”