(c) Pester Lloyd / 28 - 2009
GESELLSCHAFT 11.07.2009
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Kommentar
Stimmen, Köpfe, Herzen
Ungarn, die pervertierte Demokratie - Wer ist Schuld an "Jobbik"?
Eine aktuelle Umfrage zeichnet das Bild des Sozialverlierers als dem typischen Wähler der Rechtsradikalen. Das mag noch für die statistische
Mehrheit, das "gemeine Volk" angehen, greift aber ansonsten zu kurz. Es ist vor allem die allgemeine Stimmung aus Hass und Perspektivlosigkeit, das
Versagen der Großparteien, die Jobbik möglich machte. Doch auch die EU, die sich hier fast nur als "Wächter der freien Märkte" zeigte, trägt ihren Anteil.
Eine Umfrage versuchte zu ermitteln, auf welchem sozialen Nährboden die
Anhänger der rechtsradikalen Partei Jobbik wachsen und wer der Partei zu 14,77% bei den Europawahlen verhalf. Überdurchschnittlich erfolgreich war die
Partei demnach in der Gruppe der 18-29jährigen, auch in jener der 40-49jährigen. Lediglich 2% der Stimmen holte sie hingegen bei den über
60jährigen. Das Institut Publicus ermittelte, dass Jobbik "die meisten Anhänger unter arbeitslosen, inaktiven Männern aus ländlichen Gebieten Ostungarns" habe.
Das stützt die These, dass der Erfolg der Partei direkt auf die Kampagne zur "Zigeunerkriminalität" zurück zu führen ist.
Vier von zehn Jobbik-Unterstützern gaben an, dass sie 2006 Fidesz gewählt
hätten. Publicus meint auch, dass mehr ehemalige Wähler der Sozialisten unter den heutigen Jobbik-Unterstützern sind, als zuvor angenommen. Damit schält sich
das Verhalten und die hasserfüllte Atmosphäre zwischen den beiden Großparteien als weiterer Faktor des starken Ergebnisses von Jobbik heraus. Dass
Perspektivlosigkeit in Protest mündet, ist bekannt. Das Institut Progresszív untermauert das mit der Aussage, dass es letztlich die Erstwähler waren, die Jobbik zum Durchbruch verholfen haben.
Nur "Protestwähler", die durch Dörfer marschieren?
Wären heute Parlamentswahlen in Ungarn, könnte Jobbik mit rund 10% der
Stimmen rechnen. Diese Erhebungen sind mit größter Vorsicht zu genießen, eigentlich sind sie kompletter Blödsinn. Vor den Europawahlen schätzten die
Institute diese Partei auf 6-9%, heraus kamen fast 15. Traditionell verbergen sich Wähler der radikalen Rechte bei Umfragen gerne hinter einer bürgerlichen Maske.
50% begrüßten das Verbot der "Ungarischen Garde", d.h. zwar nicht, dass die andere Hälfte der Befragten morgen mit Pfeilkreuzleruniformen durch Dörfer
trampelt, aber doch, dass die weitere legale Präsenz der als Bürgerwehr angepriesenen Nazitruppe für viele akzeptabel wäre. Interessant dabei ist eine
Zahl aus einer Befragung kurz nach den Wahlen. 75% der Jobbik-Wähler konnten keine konkreten politischen Ziele der Partei benennen. Der Rest stammelte etwas
von "Zigeunern" und "den Bauern helfen" zusammen. Also doch "nur" Protestwähler?
Einseitiger Machterhalt, statt Konsenssuche
Wirtschaftskrise und Faschismus – Wie stabil ist die Demokratie in Ungarn?
Eine Diskussion zur Europwahl in Ungarn im SWR2 Forum mit dem Schriftsteller György Dálos, Michael Frank von der Süddeutschen Zeitung und einem Redakteur des Pester
Lloyd. Hier als Podcast zum nachhören.
ZUM BEITRAG
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Erhebungen solcher Art kratzen naturgemäß nur an der Oberfläche, daher ist ein kurzer Blick in die
Tiefe angebracht. Das Bild des Sozialverlierers als typischer Wähler Rechtsradikaler mag noch für die statistische Mehrheit angehen, in der Öffentlichkeit geben hingegen Akademiker, Anwälte, Ärzte, sogar
Kirchenvertreter und Künstler den Ton bei der Rechten an, was zeigt, dass Rassismus und Rechtsextremismus keineswegs Unterschichtenphänome sind, sondern Krankheitssymptome einer versagenden
Demokratie. Einer Demokratie, die als Quasi-Diktatur wechselnder Mehrheiten über die jeweiligen Minderheiten bürstet und damit ihres Sinnes als integratives Fundament der gesamten
Gesellschaft beraubt wurde. Einseitig auf Machterhalt bzw. -erlangung ausgerichtete Parteien und Politiker haben diese Perversion bewirkt, tragen also letztlich die Verantwortung für die
Erstarkung der extremen Rechten in Ungarn.
Dass sich eine 4000köpfige Polizeigewerkschaft mit
Jobbik vertraglich verband, ist da nur ein besonders skurriles der sichtbaren Zeichen. Dass durch die Hassrhetorik die Schwelle für Selbstjustiz und Gewalttaten gegen Roma, Juden,
Schwule, "Kommunisten" (oft ist der Feind auch alles auf einmal) auf fast Null gesunken ist, ein gefährlicher Fakt, aber immerhin ein Ansatzpunkt für die
Bekämpfung. Die Antwort der Sozialisten: sie wollen nun auch Bürgerwehren einführen. "Rote Garden" statt "Ungarischer Garde", entblößten die Medien sehr
schnell diese stumpfsinnige Reaktion.
Ungarn, auch Leser dieser Zeitung, mahnen zu Recht an, das Land und seine
Bewohner nicht einseitig über den rechten Kamm zu scheren. Das medial verbreitete Interesse des Westens reicht tatsächlich nicht weit über die
Katastrophen von Hochwasser bis “Garde” und endet derzeit bei “Osteinbrecherbanden”. Das ist ein Versäumnis, dass schon fast an Mittäterschaft
reicht. Andererseits müssen sich die Ungarn, die sich über diese Einseitigkeit beklagen, auch fragen lassen, was sie wirklich ernsthaft gegen die
Rechtsextremen unternehmen. Diese Zeitung jedenfalls würde gern darüber berichten.
Schamlos-sachfremd und ohne Respekt vor dem Volk
Letztlich ist es das alte böse Spiel, dass rechte Köpfe aus Machtkalkül die Instinkte
des "gemeinen Volkes" nutzen, um an ihre Herzen zu kommen, obwohl sie letztlich nur ihre Stimmen wollen. Genau das gleiche tun, etwas abgeschwächter,
auch die Nationalkonservativen indem sie schamlos-sachfremd in der "heiligen ungarischen Erde" wühlen, während die "Linke" trotz des bewiesenen Gegenteils
immer noch an der Wohlstandsverheißung für alle festhält. Welche Reaktion erwartet man eigentlich von einer Bevölkerung, wenn eine Partei, die MSZP, die
noch 18% Zustimmung hat, im wahrsten Sinne des Wortes wahllos die Ministerpräsidenten austauscht und meint, das Land zu retten, in dem man ihm
ein Sparpaket nach dem anderen vorsetzen muss, weil sonst der IWF den Notkredit nicht verlängert? Den Politikern fehlt einfach der Respekt vor ihrem
Volk, sie haben ganz offenbar eine miserable politische Erziehung gehabt.
Die EU züchtete eine merkantile Monokultur
Seit der EU-Wahl schieben sich beide Großparteien, also Fidesz und MSZP, aus
Prinzip und/oder wahltaktischen Überlegungen, die Verantwortung für das Erstarken der Rechten zu, einen Schulterschluss gegen sie gibt es nicht, auch
keine nennenswerte Gegenbewegung in der Zivilgesellschaft. Fazit: Jobbik kann sich auf weiteren Einflussgewinn freuen, die Wirtschaftskrise arbeitet ihr ebenso
in die Hände, wie das sachferne Geschacher der Nationalkonservativen und die affektierte Planlosigkeit der um ihre politische Bedeutung bangenden Sozialisten.
Die EU, eigentlich der Westen, steht hier vor den Trümmern ihrer Züchtung,
einer überdüngten merkantilen Monokultur, deren Opfer die Rechte nur abzuholen brauchte. Jetzt rächt es sich, dass man Europa bisher überwiegend nur als
Wächter freier Märkte und Infrastrukturerrichter installiert hat. Den Kampf um die Stimmen hat man schon verloren, der um die Köpfe und die Herzen steht auf
der Kippe. Man interessierte sich nicht für die Menschen, nur für die Wachstumsraten, die sie produzierten. Ungarn ist ein Grund, solche Fehler (die
eine eigene Untersuchung wert sind) zu korrigieren, eine Korrektur, die weiter reicht als bis nach Ungarn und weiter auch als bis nach Lissabon.
M.S.
Zum Thema:
Kommentar
Rechts und billig
20 Jahre danach: Thanksgiving in Budapest - eine Reisewarnung
Staats- und Regierungschef danken in Budapest für die Grenzöffnung vor 20 Jahren. Nicht danken,
entschuldigen sollten sie sich: In den wichtigsten Disziplinien eines demokratischen Gemeinwesens hat Ungarn verloren, die Rolle als Werkbank und Zukunftsmarkt genügte dem Westen. Eine wehrhafte
Zivilgesellschaft gibt es nicht, Ungarn bräuchte eigentlich eine neue Demokratiebewegung, so wie vor 20 Jahren...
ZUM BEITRAG
Kommentar
50 Tage und kein bisschen weise Ministerpräsident Bajnai: Das Land ist wieder auf Schiene. - Aber auf welcher?
Normalerweise gibt man einer neuen Regierung hundert
Tage Zeit, um ins Amt zu finden. Doch in Ungarn hat man keine Zeit und wer weiß schon, was in weiteren 50 Tagen sein wird. Daher hat sich Ministerpräsident Gordon Bajnai
entschlossen, sich schon einmal selbst zu belobigen, denn Lob von anderer Seite wird er, zumindest innerhalb Ungarns, kaum zu hören bekommen.
ZUM BEITRAG
Wort und Totschlag
Jobbik: Nazis oder "normale Rechte"?
Jobbik, die "Bewegung für ein besseres Ungarn"
beschreibt sich selbst als "prinzipentreu, konservativ, radikal patriotisch, christlich" und will "ungarische Werte und Interessen" schützen. Sie ist der
Aufsteiger der Saison, mit einem uralten Drehbuch und sonderbarem Personal. Sie hat beste Chancen zur drittstärksten politischen Kraft in Ungarn zu werden.
ZUM BEITRAG
IHRE MEINUNG IST GEFRAGT - KOMMENTAR ABGEBEN
(c) Pester Lloyd
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