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(c) Pester Lloyd / 37 - 2009  POLITIK 09.09.2009
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Computer im Nirgendwo

Wie man den Roma in Ungarn nicht hilft

Eine Kooperation zwischen Microsoft und der Nationalen Entwicklungsagentur Ungarns verschafft zwei Schulen in sogenannten benachteiligten Gebieten (vernachlässigt wäre treffender) im Nordwesten, kostenlos Computer und Software. Eine Maßnahme, die an Aktionen in Entwicklungsländer erinnert und nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es immer noch keine wirklichen Konzepte in den "Roma-Regionen" gibt, weil die Politik diese verhindert.

Die Grundschule in Szendrő (Foto) sowie das Gymnasium in Sajókaza erhalten insgesamt 65 Computer sowie die dazugehörige Software samt freier Lizenzen. Beide Orte befinden sich im Nordwesten des Landes, einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit und dem höchsten Anteil an Roma bei der ländlichen Bevölkerung. An der Schule in Szendrő lernen fast 600 Schüler, ca. 70% von ihnen stammen aus Romafamilien. In der gesamten Region gelten zwei Drittel der Bevölkerung als niedrigqualifiziert, was in der ohnehin strukturschwachen Region einen zusätzlichen, grundlegenden Nachteil bei der Jobsuche bedeutet.

Arbeitslose, die spielend im Internet surfen können

Rund 1.000 Menschen in Sajókaza leben in einem regelrechten Slum, zum Teil ohne sauberes Trinkwasser. Der Zugang zu höherer Bildung ist ihnen meist verwehrt. Eine gefährliche Spirale der gegenseitigen Ablehnung hat eine ghettoisierte Prallelgesellschaft entstehen lassen. Gleiches gilt auch für die Gemeinden Lak, Alsóvadász, Homrogd und weitere in der Nähe. Nur rund 1% haben das Gymnasium erfolgreich absolviert. Es gibt Entwicklungsländer mit einer höheren Quote. Die Aktion von Microsoft und der Nationalen Entwicklungsagentur ist daher nur ein Tropfen auf einen sehr heißen Stein, Microsoft habe in den letzten sechs Jahren Computer und Software für rund 200 Mio Forint gespendet.

Die Agentur, die all das ändern soll, spricht von rund 33 solchen Brennpunkten, sogenannten Mikroregionen in Ungarn, in die Milliarden investiert werden sollen und schon wurden. Was neben dem Zugang zu adäquater Bildung fehlt, sind vor allem Arbeitsplätze. Dieses Fehlen ist, neben den jahrzehntelang gemachten Erfahrungen als Randgruppe, mit ein Grund für die fehlende Motivation und steigende Resignation bei den Roma, die von der Mehrheitsbevölkerung dann häufig als angeborene Faulheit identifiziert wird. Mit solchen Punktierungsmaßnahmen produziert man weiter Arbeitslose, die aber spielend im Internet surfen können. Computer ohne Anschluss, im Nirgendwo.

Verfallener Gutshof in Szendrő

Konzeptionslose Charity

Hier, im Nordwesten Ungarns, aber nicht nur hier, wurde und wird der grundsätzliche Fehler begangen, mit hohen Förderungen irgendwelche Investoren an Land zu ziehen, die eine Fabrik auf die grüne Wiese stellen oder - das andere Extrem - Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und andere eher caritaitve Maßnahmen zu setzen, die dauerhaft am Tropf der öffentlichen Förderung hängen, weil sie selbst von vornherein nicht lebensfähig sind. Die sind dann vom Wohl und Wehe der jeweiligen Machthaber abhängig. Je nach Weltmarktsituation und Lohnentwicklung werden aber auch die verlängerten Werkbänke nach ein paar Jahren wieder verschwunden sein, ohne bleibenden Nutzen in der Region hinterlassen zu haben.

Die Höhlenmenschen
von Szomolya

Ländliche Armut und das "Romaproblem" in Ungarn

In Budapest fand ein EU-Kongress zu „Armut und soziale Ausgrenzung in ländlichen Gebieten“ statt. Eine dazugehörige Studie sagt viel Richtiges, aber kaum Neues, die Abstraktion des Empirischen verstellt den Blick für konkretes Elend. Deshalb hat sich ein Reporter des Pester Lloyd aufgemacht, anhand zweier Beispiele aus Ungarn zu zeigen, in welchem Dilemma Hilfsprogramme am Tropf der EU stecken können.

ZUM  BEITRAG

Es mangelt an Wirtschaftskonzepten, echten Zukunftsplänen, die auf die Möglichkeiten der einzelnen Regionen zugeschnitten sind. Im Falle von Szendö wäre dies ganz klar der Tourismus. Die Gegend ist landschaftlich reizvoll, wildromantisch und abwechslungsreich, voll entdeckungswürdiger Kleinodien, Burgen, alten Kirchen und Klettergebieten. Aber sogar von der ungarischen Tourismusindustrie ist das weitgehend ignoriert, die auf die üblichen Highlights setzt. Mit der Forcierung eines sanften Kulturtourismus, für den es in West wie Ost eine wachsende Klientel gibt, könnte die Wiederentdeckung und Förderung des lokalen Handwerks einhergehen. Gleichzeitig wäre dies ein Ansporn die Ortszentren zu renovieren, neue Hotels und Restaurants wären ein Katalysator für eine biologische Landwirtschaft. Statt dessen ruft die Nationale Entwicklungsagentur, die mit Milliarden, auch aus EU-Töpfen jongliert, auf ihrer Webseite weiter zu Sachspenden á la Microsoft auf.

Roma haben keine Lobby, nur "Wohltäter"

Die Gegend um Miskolc ist, bzw. war durch Monoindustrie der sozialistischen Planwirtschaft gekennzeichnet. Das Stahlwerk beherrschte die gesamte Region, der Rest war Landwirtschaft. Die Roma hatten in der sozialistischen Ära zwar meitens Arbeit, aber oft nur auf Hilfasarbeiterniveau, sie verloren bei der Privatisierung bzw. Schließung der einzelnen Werke immer als erste ihre Jobs. Sämtliche Regierungen der Nachwendeära haben sich einen Dreck um diese Menschen gekümmert. Vor den Trümmern dieser Politik, der steigenden Kriminalität aufgrund von massiver Verelendung und der wachsenden Radikalisierung der auf Eigennutz getrimmten Mehrheitsbevölkerung steht das Land jetzt, nicht nur in Nordwestungarn.

Die Forderung nach einer Art nationalem Aktionsplan wäre jedoch angesichts der politischen Lage und in Ungarn, dem Maß der Korruption in den Lokal- und Selbstverwaltungen (auch jenen der Roma) und der egomanen Haltung und desaströsen Moral der Akteure in Budapest, blauäugig. Die Linke unterwarf sich den Forderungen des Weltmarktes, die Rechte kümmert sich lieber um "die Ungarn im Karpatenbecken". Letztlich hat das politische System in Ungarn auch die Mehrheitsgesellschaft vernachlässigt, in der Folge hat diese das notwendige Grundvertrauen in den Staat weitgehend verloren und kein Verständnis für eine Sonderförderung für die "Zigeuner".

So ist zu fürchten, dass Almosen, Korbflechterkurse und Polizei auch weiterhin die Hauptinstrumente der Politik "gegen" Roma in Ungarn bleiben werden. Nur eine ausreichende Zukunftsperspektive für die Mehrheitsbevölkerung, die Garantie für ein "normales Leben", wie es die meisten Ungarn wünschen, kann letztlich auch die Situation der Roma verbessern und auf ein menschenwürdiges Niveau heben. Das Romaproblem ist ein politisches, weil es ein ökonomisches ist - und umgekehrt. Auch die EU wagt es leider nicht, ihre Prinzipien und ihren postulierten Kampf für Menschenrechte und Chancengleichheit notfalls gegen den Willen nationaler Regierungen durchzusetzen. Dazu fehlen ihr zwar weder Mandat noch Instrumente, aber die Politiker, die das Mandat ausüben und die Instrumente konsequent nutzen würden. Roma haben keine Lobby, nicht in Ungarn, nicht in Brüssel, überall nur "Wohltäter".

ms

Rundfunktipp:
SWR2 Forum
Feindbild Zigeuner
Was sind die Gründe für das Elend der Roma?
Hier zum Nachhören als Podcast

 

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(c) Pester Lloyd

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