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(c) Pester Lloyd / 31 - 2011  POLITIK 03.08.2011

 

Schuld und Bühne

Wie die neuen Machthaber in Ungarn drei Ex-Ministerpräsidenten ins Gefängnis bringen wollen

Bisher ist der Abrechnungsfeldzug "im Namen des Volkes" der ungarischen Regierungspartei Fidesz nur mäßig erfolgreich gewesen, die ganz großen Namen fehlen noch auf den Kolben der rauchenden Colts der konservativen Revolution. Um drei "sozialistische" Regierungschefs hinter Gefängnismauern zu bringen, will die Regierungspartei die dazu passenden Gesetze "kreiren" und rückwirkend anwenden. "Staatsschulden machen" würde dann zur Straftat, - wenn das mal kein Eigentor wird.

Trio infernale: die ungarischen Ex-Premiers Medgyessy, Bajnai und Gyurcsány

Betrug und Amtsmissbrauch als Sache der Linken darstellen

Die "Bestrafung der Verantwortlichen für Ungarns Krise" ist eines der zentralen Wahlkampfthemen der heutigen Regierungspartei Fidesz gewesen, seit der Machtübernahme im letzten Frühjahr arbeitet ein "Sonderkommissar" resp. "Abrechnungsbeauftragter" des Premiers daran, möglichst prominente Vertreter der Vorgängerregierungen vor Gericht und bald ins Gefängnis, wenn das nicht gelingt, zumindest an den öffentlichen Pranger zu bringen. Unschuldsvermutung, Strafprozessordnung oder gar Datenschutz gelten für Orbáns Racheengel Gyula Budai dabei nicht, er agiert außerhalb der Judikative, unkontrolliert von demokratischen Strukturen, Politkommissar nannte man solche früher. Hier mehr zum amtlichen Racheengel Budai.

Hinter der notwendigen Aufarbeitung steckt beim Fidesz die zusätzliche Überlegung, aus dem allgemeinen Versagen der Vorgänger, der individuellen Schuld, die aufgrund der schieren Quantität durchaus systemisch zu nennen erlaubt ist, "die Sozialisten" als solche und mithin ihre Führer als Kriminelle zu brandmarken. Es sollte allen Bürgern ein für alle mal klar werden, dass hinter Betrug, Untreue, Amtsmissbrauch der "Internationalismus" der "Off-Shore-Ritter" steht, die sich hinter ihrem eigenen Sozialismus verstecken und pathologische Räuber am Volke sind.

Der Sonderkommissar hat sich in seinem Ehrgeiz verzettelt

Bisher kam man über zwar landestypische, für die große Bühne aber eher randständige Skandale kaum hinaus, Untaten, die in Ungarn niemanden mehr vom Hocker hauen: ehemalige Staatssekretäre wurden wegen der zu billigen Übernahme von Ministeriumswohnungen bestraft, ein paar Ex-Manager der BKV, ein Vizebürgermeister, ein paar Bezirksgrößen sind wegen Korruption, Untreue und Amtsmissbrauch in Hausarrest, U-Haft oder vor dem Richter (hier ein paar Details dazu), die Ex-Premiers Gyurcsány und Bajnai hat man mit der Verscherbelung von Staatsgrundstücken an ein Casino in Verbindung gebracht, bisher ohne den ganz großen Erfolg. Der Sonderermittler hat sich in seinem Ehrgeiz so sehr verzettelt, dass er bald mehr Prozesse zu seiner eigenen Verteidigung führen muss, als er welche gegen die "Volksfeinde" in Gang bringt. Hier Fall 1, da Fall 2

Die begründungslose, wenn auch oft nicht grundlose Kündigung von namen- und gesichtslosen Beamten, ein paar Tausend waren es, sowie die Einebnung einiger abgehalfterter Theaterleute, Kulturbeamter und Philosophen, die man ohnehin nur im irrelevanten Ausland verehrt, waren sicher wichtige Schritte bei der Übernahme der totalen Macht im Lande und der Denunziation alles Liberalen, der PR-Wert dieser Aktionen hat sich jedoch mit zunehmender Regelmäßigkeit abgeschwächt, auch, weil das Volk Gewahr wurde, dass zwar die Untersuchungsgefängnisse im letzten Jahr voller wurden, ihre Geldbörsen aber leer blieben. Die Schuld braucht wieder eine Bühne.

 

Unmoral ist nicht strafbar

Vor allem die "Budgetlüge" Gyurcsánys war und ist der zentrale Aufhänger, an dem man wieder neu andocken möchte. Die neuen Machthaber werfen den alten vor, das Volk, den Rechnungshof und die Opposition seit 2006 bewusst über die wahre Lage der Staatskasse getäuscht und zudem öffentliche Gelder für wirtschafltiche unvernünftige Ausgaben mit dem Zwecke der Wiederwahl verpulvert zu haben. So weit, so wahr, doch ins Gefängnis kommt man deswegen in einer europäischen Republik noch lange nicht, zumal Schuldenmachen quasi zum Tätigkeitsprofil eines modernen Finanzministers gehört. Unmoral ist eben nicht strafwürdig, sonst wäre die Mehrheit der Politiker weltweit im Knast. Konsequenterweise müsste Orbán also den Kapitalismus als solchen per Dekret abschaffen, doch dazu hat nicht einmal er den Mut. Mit der Demokratie ist er weniger zimperlich.

Um die Volksseele wenigstens am Kochen zu halten, mehr noch, um sie von so manchem platzenden Traum der Gegenwart abzulenken, könnte die Regierung nun die oben beschriebenen Frevel zu Straftaten deklarieren und diese Gesetze - nichts neues im neuen Ungarn - rückwirkend auf die drei Ex-Ministerpräsidenten Péter Medgyessy, Ferenc Gyurcsány und Gordon Bajnai, samt ihrer Finanzminister, anwenden, als Stellvertreter der ungarischen Dauerkrise.

Medgyessy, Gyurcsány und Bajnai - das Trio infernale

Sie bilden die Prototypen, sozusagen die Dreifaltigkeit des Bösen, das Trio infernale ab: Medgyessy als Vertreter des alten Systems, dem er bereits als Finanzminister diente und der in den Zeiten der Umstellung auf die Marktwirtschaft die Weichen für den Raubzug der alten Seilschaften und den Ausverkauf an die Multis durch maßlose Öffnung stellte. Gyurcsány als klassisches Produkt der grauen Privatisierung, ein "Self-made-Billionaire", der sich am Volkseigentum bereicherte und danach als Regierungschef das Volk noch zynisch an der Nase herumführte sowie Gordon Bajnai, der Parteilose, der sich den Sozialisten und dem IWF als williger technokratischer Vollstrecker der Bedingungen des internationalen Finanzkapitals andiente als Ungarn von außen gerettet werden musste. Seine Sparprogramme, so die Fidesz-Lesart, würgten die ungarische Wirtschaft endgültig ins Koma.

Orbáns Sprechblase, Péter Szíjjártó, bemühte sich nicht einmal darum, die verquere Rechtsauffassung seines Chefs in Wolken zu hüllen. Er sagte zwar, dass "das zuständige Parlamentskomitee damit beauftragt wird, zu prüfen ob und wie es die derzeit geltenden Gesetze erlauben, diejenigen zu identifizieren, die verantwortlich für das ungarische Haushaltsdefizit sind und ob man diese dafür zur Rechenschaft ziehen kann." Fuhr dann aber umstandslos fort, dass "Wenn das momentan nicht möglich ist, das Fidesz die notwendigen Maßnahmen ergreifen wird." Punkt. Man brauche wegen der neuen Verfassung "ohnehin jede Menge neuer Gesetze", da könne man doch ein Kapitelchen einfügen, dass "neben der politischen auch eine rechtliche Verantwortlichkeit für die Pflege des Staatshaushalts" enthält. Warum auch nicht?! Guyrcsány, der um eine neue politische Rolle kämpft, die seine Partei die MSZP ohne weiteres zerreissen könnte, ist sich jedenfalls sicher: “Orbán will meinen Kopf.”

"Gerechtigkeit" ist wichtiger als Recht

Um der Vorgänger habhaft zu werden, müsste man diese neuen Gesetze freilich um die drei Delinquenten herumbauen und sie dann rückwirkend anwenden, was einer brutalen Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze gleichkäme, wie auch gänzlich nicht-linke Juristen mit bassem Schrecken konstatieren. Doch diese Regierung hat schon bei anderen Gelegenheiten demonstriert, dass das "Gerechtsigkeitsempfinden des Volkes", dessen einzig wahrhaftiger Vertreter sie ist, höher einzuschätzen ist als internationaler Juristenfirlefanz und Grundrechte, die, wendet man sie an, das Fidesz nur von der Erfüllung seiner Mission abhalten müsste. Freilich ruderte man am Tag nach dieser famosen Ankündigung ein wenig zurück, alles werde rechtstaatlich abgewickelt etc. pp. - Das Sind Lippenbekenntnisse, die auch bisher keinerlei Folgen hatten.

Die Sozialisten, deren Galgenhumor nur schwer ihr schlechtes Gewissen verdecken kann, irgendwie doch für die derzeitigen Ausartungen mitverantwortlich zu sein, finden es bemerkenswert, dass man in Ungarn als Politiker wegen "Anstiegs der Staatsschulden" ins Gefängnis gesteckt werden können soll. Als Dialektiker könnten sie ja fordern, die Banker, die Staaten zu Schuldnern werden lassen, gleich mit zu verhaften, so kehrten sie wenigstens auf den Pfad ihrer historischen Aufgabe zurück, aber das wäre so, als verlangte man von Orbán, wieder zum Demokraten zu werden.

Man erwarte, so die MSZP, die Prozesse mit Ungeduld, weiß man doch auch den Nachweis zu führen, dass die erste Orbán-Regierung im Jahre 2001/02, da ihre kommende Wahlniederlage als möglich sichtbar wurde, budgetäre Maßnahmen ergriffen hatte (Wahlkampfzuckerln), die den heutigen Premier Orbán sodann auf die gleiche Bank, nämlich die Anklagebank setzen müssten wie seine Vorgänger. Das Defizit stieg tatsächlich erst wieder unter seinen sich sozialistisch nennenden Nachfolgern, aber eben Dank der Gesetze aus seiner Amtszeit. Eine gelungene Vorlage ist diese Geschichte für die strammen Volksverteidiger von Jobbik, die (sinngemäß) nur meinten: ja, hängt sie gleich alle.

Den Applaus der EVP-Fraktion kann man förmlich riechen...

Man kann sicher sein, dass die Regierungspartei den Gesetzentwurf der "Lex Gyurcsány" so gestalten, notfalls so datieren wird, dass Herr Orbán auch in späteren Zeiten nicht mit unangenehmen Fragen von der Durchführung seiner nationalen Revolution abgehalten wird, ja, die antidemokratische Chuzpe und rechtsstaatliche Verkommenheit der heutigen Regierungspartei kommt mittlerweile spielend an das moralische und fachliche Versagen ihrer Vorgänger heran und geht im Zweifel sicher auch soweit, Orbán namentlich aus der Zuständigkeit eines solchen Gesetzes herauszunehmen. Wer Richter, Präsidenten, Staatsanwälte, Sonderermittler nach Parteitreue ernennt, das Verfassungsgericht kastriert und Verdächtigen die Anwälte vorenthält, wird auch vor Politjustiz nicht mehr zurückschrecken. Klein ist nämlich der Schritt dann noch, Sozialist oder sonst irgendwie unpassend zu sein wieder als Straftat zu deklarieren.

Warum auch nicht, wer sollte Orbán aufhalten? Europa? Den stillen Applaus der EVP-Fraktion, die ihre Schwesterpartei seit über einem Jahr schützend dabei beobachtet, wie man eine Demokratie mit blitzsauberen demokratischen Mitteln demontieren kann und dabei nicht bemerken will, wie sie selbst den freiheitlich-demokratischen Grundkonsens verlässt, diesen Applaus kann man förmlich riechen und man kommt dabei auf den schauderhaften Gedanken, dass Ungarn gerade den Beweis antritt, dass Demokratie auch stinken kann...

red. / ms.

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