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(c) Pester Lloyd / 44 - 2011  WIRTSCHAFT 31.10.2011

 

Széchenyi würde auswandern

Chaos als einzige Konstante der Wirtschaftspolitik in Ungarn

Den Zahlenspielen der Regierung kann niemand mehr so recht folgen, nicht einmal sie selbst. Tag für Tag wechseln sich Hiobsbotschaften mit Hurra-Meldungen ab, werden Kennziffern verschoben und verbogen, dass die staatlichen Wirtschaftsprüfer massenhaft in Depressionen fallen müssen. Das Budget 2012 sei "riskant, aber machbar", meint allen Ernstes Haushaltsratschef Járai, "Ramschstatus ist möglich", fürchtet sogar der Nationalwirtschaftsminister, der muss es ja wissen. Vom Umbau der Wirtschaft, der Besinnung auf die "eigenen Kräfte" ist nichts geblieben.

Orbán bei der Verkündigung des Neuen Széchenyi Plans. “Der größte Ungar”,
lang schon tot, kann sich ja kaum gegen die Vereinnahmung wehren...

Rentenbeiträge als Lückenfüller

Die aktuellen Daten der ungarischen Nationalbank besagen nüchtern, dass die Staatsschulden seit der Machtübernahme des Fidesz total um 2.000 Milliarden Forint (rund 6,6 Mrd. EUR) angestiegen sind und dies trotz der Geldschwemme von rund 10 Mrd. EUR, die sich die Regierung durch die Enteignung der privaten Rentenversicherungsbeiträge organisiert hatte. Grund dafür: viel weniger als die zunächst geplanten 2.700 Mrd. Forint wurden von diesen Geldern tatsächlich für die direkte Schuldentilgung verwendet. Knapp die Hälfte floss in den staatlichen Rentenfonds, der so - zumindest für eine Weile - keine weiteren Defizite anhäufen wird.

Wichtige Umstrukturierungen und Sanierungen vertagt

Der Regierung zur Ehre gereicht immerhin, dass mit den Unsummen das Defizit relativ zum BIP um 2-3 Prozentpunkte gesenkt wurde und auch das strukturelle Defizit (also Dauerposten, die, ohne Produktivkraft zu entwickeln, permanent neue Schulden anhäufen) niedriger sein wird. Allerdings bürdete sich die Regierung mit den Schulden der Komitate zusätzliche Lasten auf, mit dem Kalkül absoluten, vertikalen politischen Einflusses. Auch die Entschuldung von Staatsbahn MÁV und Nahverkehr BKV muss warten, weil die planwirtschaftlich erstellten Zielgrößen von 2011 verfehlt worden sind, wie es die Natur einer Planwirtschaft ist. Weiterer Milliardenklotz am Bein ist die Malév und der eigentlich schon für dieses Jahr geplante Herauskauf aus ruinösen PPP-Projekten wurde auf bestimmte Zeit verschoben.

Neue Löcher werden aufreißen

Das Defizitziel für das Gesamtjahr 2011 wurde im September schon mit 26% überboten, allerdings können die angepeilten "unter 3%" durch Banken- und Sondersteuern zum Jahresende noch erreicht werden. Notfalls kann man auch Beträge aus der strategischen Reserve umleiten, die ebenfalls von den Rentenbeiträgen gebildet wurde und im nächsten Jahr allfällig aufreißende Löcher stopfen soll. Diese werden entstehen, wenn die Realität auf die Wünsche der Regierung trifft. Konsum und Arbeitsmarktentwicklung werden riesige Löcher in die Steuerschätzungen treiben, da braucht die Regierung nicht auf "Unwägbarkeiten von außen" zu warten.

Nationalwirtschaftsminister Matolcsy hat (k)einen Plan

Flat tax für eine gefühlte Mittelschicht

Premier Orbán stellte klar, dass die "Flat tax" (16% auf alle Einkommen) geradezu heilig, weil der Garant für kommendes Wachstum, sei. Das Festhalten daran, ist in erster Linie Stimmenkauf, denn Orbán hat die fixe Idee eines ihn tragenden Mittelstandes (und nur der und aufwärts profitieren von der Flat Tax). Leider hat man dabei übersehen, dass einem selbstständigen Unternehmer, der keinen oder wenig Umsatz hat, die niedrigste Steuerquote nichts bringt, zumal, wenn die Arbeitskosten immer weiter steigen. Der so aufgeplustert vorgetragene "Széchenyi"-Plan, der die Klein- und Mittelbetriebe mit EU-Geldern fördern soll, ist sang- und klanglos einer punktuellen Freunderlförderung gewichen. Széchenyi würde (wieder) auswandern, wenn er sieht, was diese Regierung unter "Aufbauplan" versteht.

Brot und Spiele für den Pöbel

Den weiter verarmenden Pöbel aber (durch Superbrutto, "Privilegien"abbau, Arbeitsmaßnahmen unter Mindestlohn, Forex-Ketten), so glaubt Orbán, braucht er nicht mit Geld bei Laune halten, dafür reichen nationalistische Parolen und der stetig angefachte Hass auf den politischen Gegner. Zur Not hat man am rechten Rand noch eine Reservearmee, die nötigenfalls einen Stellvertreterkreig vom Zaune brechen kann, um sogar von einem Arbeitsrecht á la Römisches Reich abzulenken. Eine Unterschicht ist die Basis des alt-neuen Ständestaates, der in Ungarn gerade unter den bewundernden Blicken der westlichen "Schwesterparteien" aufersteht. Dort fand und findet ja auch nichts anderes statt, doch nirgends so unverblümt und gründlich wie in Ungarn.

Kein Firmenchef würde sich das trauen

Allerdings könnte man sich verrechnen, denn so wie Orbán Politik betreibt, schreiben seine Gesellen auch den Haushaltsplan. Trotz einiger Korrekturen hält die Regierung weiter an einem BIP-Wachstum von 1,5% für 2012 fest, die Nationalbank, geführt von András Simor, den die Regierung als einen der "Feinde des Volkes" (Offshore-Ritter) bekämpft, aber nicht so einfach ablösen kann, reduzierte seine Prognose nochmals von 1 auf 0,6%, einige - auch ernstzunehmende - Experten sehen sogar ein Minus von bis zu einem Prozent für das nächste Jahr voraus. Es hat 4 Monate gedauert, bis das Nationalwirtschaftsministerium ein paar Kennziffern ein wenig korrigierte, Haushaltsratschef Zsigmond Járai, ein Pseudoaufseher von Orbáns Gnaden, schätzte, dass die Sache zwar "riksant ist, aber klappen könnte". Lassen Sie diesen Satz mal einen Vorstandschef vor seiner Generalversammlung machen...

Die große 0 im Wirtschaftsministerium

In all den Turbulenzen rutschte der Forintkurs auf lange nicht gesehene, wenn auch nachvollziehbare Tiefen. Zum Euro stand er am Montagmorgen (im Sekundärmarkt) bereits bei 305, also dem Stand von April 2009, mitten in der Finanzkrise. Nationalwirtschaftsminister Matolcsy plant bereits ein 100 Milliarden höheres Defizit ein, falls der Forint 2012 einen 300er Schnitt hinlegt. Hängt er noch eine 0 dran, käme er der Sache näher. Seine Weissagung von 268 Forint zum Euro mochte er dennoch nicht korrigieren, was ist schon der Weltfinanzmarkt gegen György Matolcsy?! Weiterhin sieht der Minister die Möglichkeit, dass Ungarn wegen seiner Fremdwährungskreditbelastung und dem wackeligen standing von führenden Ratingagenturen womöglich bald auf Ramschstatus gestuft wird (bisher liegt man eine Stufe drüber).

Ranschmeißen an Diktatoren

Matolcsy meinte dazu, dass das aber kaum Auswirkungen habe, die Staatsanleihen würden sich dadurch kaum verteuern (wie er darauf kommt, bleibt sein Geheimnis, immerhin mussten etliche Auktionen wegen fehlender Nachfrage vertagt werden). Außerdem sieht sich Ungarn ohnehin verstärkt nach alternativen Finanzquellen bei neuen "strategischen Partnern" wie China und Saudi-Arabien um, denn denen steht man offenbar auch dem politischen System nach mittlerweile näher als der EU. Das war es also, was die Regierung meinte, als sie davon sprach, sich vom “internationalen Finanzmarkt” (lies angelsächsisch-jüdisch-EU) zu befreien. Man schmeisst sich in die Krakenarme von Diktatoren...

Instabilität + Inkompetenz = ?

Die Arbeitslosenquote betrug im Zeitraum August-Oktober (Vorerhebung) 10,7% und war damit minimal niedriger. Die Partizipationsquote erreichte einen neuen Höchststand (seit der Krise), allerdings vor allem auch durch die "Umbuchung" von Sozialhilfeempfängern in "Erwerbstätige", was bei Lichte, ja sogar im Dunkeln schlicht Betrug ist. Wir haben an dieser Stelle schon mehrfach betont, dass sich diese Regierung, in ziemlicher Selbstüberschätzung, was ihre Macht Märkten gegenüber betrifft sowie durch die Vermengung von heilsbringender Ideologie mit rationalen Erfordernissen der Wirtschaftspolitik selbst ein Bein stellt. Die Zeichen mehren sich, dass zu dieser instabilen Konstellation noch die Inkompetenz und charakterliche Uneigung der Protagonisten hinzuzurechnen ist. In diesem Sinne erreicht das Land doch eine gewisse Kontinuität, denn 2008/2009 gab es schon einmal eine solche Situation. Diese führte zur Ablösung der Versager, was wird diesmal geschehen?

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red. / js. / ms.

 

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