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Aus dem Pester Lloyd von 1860

Mór Jókai

Der ungarische Volkshumor – Eine Abhandlung

Ganze vier Schreibweisen für den Vornamen des Schriftstellers Jókai erscheinen über die Jahre verteilt im PL: Maurus, Mór, Moriz, Móricz. Wir drucken immer die original verwendeten ab, weisen aber mit Nachdruck darauf hin, daß es sich stets um dieselbe Person handelt. Mehr zu Jókais Leben und Wirken im PL hier.

*) Vorgelesen in der heutigen Sitzung der ungarischen Akademie.

Der Humor ist blos Eigenthum freisinniger und aufgeklärter Völker. Nationen, welche gern die Wahrheit heraussagen, thun dies in bildlicher Rede und unter der Maske des Scherzes, wenn sie es nicht offen thun dürfen, und dort, wo der Geist jene Selbständigkeit erlangt hat, von wo man nicht blos durch den traditionellen, sondern auch durch die Fähigkeit des eigenen Urtheils das Gute vom Schlechten zu unterscheiden vermag, dort, wo man das Licht nicht scheut, bie diesen Völkern ist auch der Humor zu Hause.

(Hrg.: … es folgt eine längere, amüsante, aber nicht hierher gehörende chronologische Abhandlung über den angeblich fehlenden Humor der alten Chinesen, die Römer, und die wichtigsten humoristischen Werke des europäischen Mittelalters bis hin zu Till Eulenspiegel und, als Überleitung zur Neuzeit, einige bibliographische Anmerkungen zum volkstümlichen Witzvorrat auf Napoleon, Friedrich den Großen, den „Czaren Peter“ und „unseres Hunyady Mátyás“. Wir steigen nun im zweiten Teil der Vorlesung wieder ein, wo der Autor mehr  zur Sache kommt.)

Verehrte Akademie! Hochgelehrte Herren! Indem ich diesen Gegenstand für meinen akademischen Antrittsvortrag erwählte, hatte ich nicht die Absicht den vielgeschätzten und hochgelehrten Herren einen heiteren Abend zu verschaffen, sondern ich war von dem Wunsche erfüllt, die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt für einen bisher der Beachtung nicht gewürdigten, vielleicht auch verachteten, in jedem Falle aber wenig geschätzten Gegenstand anzurufen, der eben so sehr eine Erforschung verdient, wie die Geognoste und Archäologie unseres Vaterlandes, ich glaube die Anekdoten des Volkes. (…)

Wir wollen nur den Anekdotenkreis zweier Nationen mit einander vergleichen, den der Deutschen mit dem der Ungarn, damit wir uns von den scharfen Unterschieden überzeugen. Die deutsche Literatur ist so glücklich eine seit vielen Jahren fortgesetzte werthvolle Sammlung zu besitzen, wie die „Fliegenden Blätter“, in deren Daten wir das Leben, den Charakter und die Gebräuche der deutschen Nation viel treuer geschildert sehen, als uns dies die Ethnographie von was immer für einem gelehrten Doktor zu zeichnen vermöchte. Diese periodische Schrift ist nicht die Schöpfung eines einzelnen humorisirenden Redakteurs, wie es bei vielen anderen der Fall ist, die sich in ihrer Einseitigkeit zuweilen von einem nur der Zeit und dem Ort angepaßten Humor nähren; - sondern die witzigen Köpfe der ganzen deutschen Nation helfen dieselbe zusammenzustellen, in lebensgetreuen Daguerreotypen, welche die Sonne selbst gezeichnet, das volk selbst autographirt hat. Wenn wir denn diese lebensgetreuen, lediglich und ausschließlich nur für die deutsche Nation passenden Anekdoten mit unseren eigenen, gleichfalls nicht fabrizirten, sondern gesammelten, vergleichen, dann fällt uns der nicht auszugleichende Unterschied zwischen der deutschen und ungarischen Nation auf, zwischen dem Charakter ihrer einzelnen Klassen, ihren Gewohnheiten, ihrer Auffassung und der Grundlage ihrer Institutionen, zwischen den Geleisen ihres öffentlichen Lebens und den Millionen kleiner Umstände welche zwar neben einander, aber niemals für einander werden bestehen können. Man kann die Paragraphe eines deutschen Gesetzbuches ins Ungarische übertragen und umgekehrt, aber ihre Anekdoten, ihr nationales Leben kann die eine Nation nicht der anderen entlehnen.

Der ungarische volkshumor hat sich eben so selbständig entwickelt, wie der einer anderen gebildeten Nation. Schon der Rhetor Priscus hat am Hofe Attilas Schalksnarren gefunden, die bei der Hochzeit des Hunnenkönigs die versammelten Gäste in eine heitere Laune versetzten; ja Etzel selbst war den humoristischen Einfällen nicht fremd, und die Überlieferung gibt uns hierfür der Belege genug; so sind auch die heutigen Szekler, deren hunnische Abstammung wir bis auf das äußerste; ohne auch nur um eines Haares Breite zu weichen, vertreten wollen, - die Szekler sind bis heute noch der witzigste und der an Einfällen reichste Stamm unserer Nation. – Unsere Könige und Dynasten hielten auch später Narren an ihrem Hofe, von welchen die Überlieferung als die bekanntesten: den Narren des Wojwoden Subor, Barkó, die Narren des Königs Mathias, Michael Apaffy‘s, Biro und den Michael Teleky‘s nennt; ja auch Markolf, der berühmte Narr des Königs Salamon, wird uns trotz seines schlecht klingenden Namens zugeeignet, nur das ist nicht gewiß, ob er dem weisen Salomon, oder dem Ungarnkönige Salamon angehörte, der, wie wir wissen, im Gegensatze zu dem von Palästina erst in seinem Alter weise zu werden begann; gleichfalls eines großen Rufes hatte sich der Hofnarr der Maria Thersia zu erfreuen, in dem ein witziger kalvinistischer Student steckte, von welchem die Tradition sehr lebhafte Einfälle aufbewahrt hat, wie z.B. das „fiat voluntas tua“ *) und die Erklärung der umgekehrten Stellung der Buchstaben „INRI: Insula Ráczkeviensis non datur Jesuitis“ (Hrg.: „Die Insel Csepel wird den Jesuiten nicht gegeben“), welche Interpretation zur Folge hatte, daß die frommen Patres nicht zu ihrem Krautgarten jenes winzige Inselchen erhielten, welches etwas größer ist, wie das Fürstenthum Reuß-Schleiz-Greiz.

*) Denjenigen unserer Leser, welche die vom Verfasser angedeutete Anekdote nicht kennen sollten

(...)