Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1884

Ludwig Hevesi

Pester Briefe

Mehr zu Hevesi

(Neapel in Pest – Venedig in Pest – Eine, die ihre Pässe fordert – Soziale Revolutionen – Zeitungen im Winterrock – Volkswirtschaftliche Freuden und Leiden – Vor dem 19. November – „Hohes Haus!“)

H-i. So ist es denn wirklich wahr und kann auf keine Weise mehr rückgängig gemacht werden, es ist beschlossene Sache, daß wir unser schönes Venedig verlieren müssen. Welchen Schmerz doch ein solcher Abschied kostet! Nicht Graf Menabrea, nicht Graf Wimpffen hat es uns wegkonferenzt, sondern unsere eigenen, leiblichen Stadtväter. Können wir doch mit Fug und Recht den Fischplatz unser städtisches Neapel nennen, mit zahllosen Fischweibern und föderalistischen Lazzaroni aus nord- und südslavischen Landen, mit Bergen von „frutti di mare“ aus der Donau, Alles malerisch gruppirt an den romantischen Gestaden der offenen Rinnsteine, im Hintergrund aber das Castell St. Elmo auf dem – Blocksberg als ernster Abschluß der bezaubernden Häuser-Meerlandschaft jenes Stadttheils; und war doch das Venedig unserer guten Stadt ohne Widerrede der Markt auf der Landstraße der Kerepeserstraße. Wer dort zur Marktzeit einen Spaziergang wagte, konnte sich bei etwas satyrischer Phantasie leicht an den Rialto erinnert fühlen. Sein Fuß kletterte Pflasterstein auf, Pflasterstein ab, als gälte es Palladios marmorne Brückenstufen zu besteigen, und stand er endlich oben auf der Höhe der – Straße, so sah er (bei Regenwetter) tief unter sich etwas gleich der schwarzen Fluth der Lagune, wie sie den Fuß der verwitterten Steine und der kühnen Passanten bespülten. Zu beiden Seiten aber erblickte er die stolzen Bauten der Vorzeit, die sich seit Jahrhunderten damit beschäftigen, zu – verfallen, und in dieser löblichen Arbeit nur selten durch die restaurierende Hand eines barbarischen Maurerpoliers gestört werden. An alten Wahrzeichen der Dogenstadt Venezia glitt sein Auge hin: am Vogel „Greif“ und am stolzen „Bucentoro“ (heute heißen sie: „Gasthaus zum Greif“ und „Einkehrwirtschaft zum rothen Ochsen“, am Löwen von San Marco, (der heute einem Bäcker als Schild dient und seit einem Vierteljahrhundert an einem ebenso altbackenen Salzkipfel herumknabbert). Und um die Illusion vollkommen zu machen, stellten sich ihm zu beiden Seiten auch noch unzählige Marktbuden dar, ganz wie die Läden auf dem Rialto, und – da wir gerade noch in der Abstimmungsperiode waren – ertönte von rechts und links ein hundertstimmiges „Si! si! Si!“ das freilich im Dialekte unseres Pseudo-Rialto gleich „Sie!Sie!Sie!“ lautete, mit welchem Rufe der harmlose Passant von den Budenleuten zum Kaufen gepreßt ward. Schöner städtischer Rialto, herrliche Lagunenstadt der Landstraße, wir haben dich verloren; du wirst fortan zwar nicht zu Viktor Emanuel, aber doch hinter dem neuen evangelischen Bethause am Ende der Kerepeserstraße stehen müssen.

Den Schmerz über diesen Abschied lindert uns zum Glück ein homöopathisches Mittel, nämlich wiederum ein Abschied. Frau Cholera, die in außerordentlicher Mission, nach dem Ausspruch der Aerzte mit den orientalischen Zuständen zusammenhängend, sich hier aufgehalten, hat ihre Pässe gefordert. Nur bedeutet diese gefürchtete diplomatische Maßregel bei ihr nicht Krieg, sondern Frieden; ihre letzte Forderung wurde also ohne Anstand erfüllt. Die nächste Folge dieses Ereignisses sind nun eine Anzahl kleiner Revolutiönchen. Die unschätzbare Kakaobohne des Frühstückstisches hat wieder der Kaffeebohne Platz gemacht. Der zeitungspapierne Zusatz datu ist zwar derselbe geblieben, aber die Todtenliste hat aufgehört unser Leitartikel zu sein, (vielleicht werden sie bald Rollen gewechselt haben, denn es liegt jetzt gar Mancher und gar Manches in den letzten Zügen), wir blicken statt nach der Arader- und Borstenviehhändlergasse schon etwas weiter hinaus gegen den Dönhofsplatz oder gar den Park von Putbus, dessen Baumgänge jetzt ungefähr so kahl sein mögen, wie das Haupt dessen, der unter ihnen stille Spaziergänge am Arme seiner intimen Freundin „Gicht“ macht. Verschiedene Heilkünstler sehen den Nimbus schwinden, der eine Zeit lang ihr Haupt umgab, und eine dunkle Ahnung steigt in ihnen auf, sie würden den Handelsvertrag für den Export irdischer Artikel, den sie ohne Zweifel mit dem Herrn Petrus abgeschlossen, nicht mehr ganz so bequem einhalten können, als so lange die asiatische Diligence noch zu benützen war. Auch die Apotheken merken, daß die vielen stauenden Mittel, die ihre eigenen Mittel in Fluß brachten, abzunehmen beginnen und der heilige Dower aufhört, ihr spiritu familiaris zu sein. Auf den Speisekarten gar ist der Umsturz ein vollkommener. König Rindfleisch ist von seinem Küchenthrone gestürzt, das „Spiegelei“ kommt vom Bett aufs Stroh, d.h. vom Beefstaek auf den Spinat, denn die vielverpönten Gemüse gelangen wieder zu Ehren und mancher Krautkopf richtet sich wieder stolz empor. Die Wirte beginnen mit dem rothen Farbstoff zu sparen, der aus weißem Steinbrucher rothen Adlersberger macht, und sogar unterschiedliche Schlücke gefährlichen Bieres wurden schon vor längerer Zeit gewagt. Selst der ausdauerndste Streiter wider der Epedemie denkt bereits daran seine patentierte Unterleibsbinde als Weihgeschenk im Tempel Hygiáas aufzuhängen, und Jeder der zahllosen Erfinder „unfehlbarer“ Choleramittel wirft sich stolz in die Brust und ruft: „Mir mußte sie weichen!“ Die Desinfektionsplackereien sind vorbei, , die Spezereienhändler bestellen ihren bestellten grünen Vitriol wieder ab, kurz: die ganze so lästige Reinlichkeit wird wieder in den Winkel gestellt, und kein Kind kann der Vitriol auflösenden Mutter mehr sagen: „Mama, warum ißt man denn nur den weißen und rothen Zucker, und warum schüttet man diesen schönen grünen immer weg?“

Sonst ist – um eine nicht mehr ganz ungewöhnliche Phrase zu benutzen – das Wetter recht hübsch. Die Blumen sind verblüht, nur eine sieht man noch an allen Straßenecken, die Wappenblume des Spätherbstes, die – gebratene Kastanie. Alles sucht ide Winterkleider hervor, selbst die Zeitungen haben heuer Wintermäntel erhalten, nämlich Zeitungsdeckel. Die „staunend billigen Winterkleider“ und ähnliche Dinge auf dem farbigen Umschlage werden sie wohl warm halten, wenn das rhethorische Feuer, dem wir in nächster Zeit entgegensehen, etwas zu rasch ausgehen sollte, was übrigens der Himmel verhüten möge.

Ich hoffe, es wird dem nicht so sein, die Anzeichen wenigstens deuten auf das Gegentheil. Oder thue ich etwa Unrecht, wenn ich die zahlreichen Generalversammlungen, die seit Kurzem stattfinden, dahin auslege, daß im Hinblick auf den nahen Reichstag alle Welt sich im „Tagen“, im Sprechen, im Hören und im Stenogrpahiern üben will? Am schlimmsten fahrt dabei jedenfalls der volkswirtschafltiche Reporter eines großen Blattes. O, das Publikum ahnt nicht entfernt, was es heißt, zum Frühstück den vaterländischen Weinproduzenten mit dem Bleistift auf dem Papiere nachzukonferiren, um ihren süßen Wein später in saure Tinte umsetzen zu können; dann zum Gabelfrühstück die ganze Generalversammlung der Pferdeeisenbahn vorgesetzt zu erhalten und sich zu überzeugen, daß ihre Aktionäre zwar langsam, aber dafür „sicher fahren“, und daß in Wien die Dividenden in Gulden, Kreuzern und – Menschenleben bezahlt werden, bei uns jedoch die letztere Münzsorte noch nicht in Kurs gebracht werden konnte; dann zum Mittagstisch alle 127 Kuxen der Máatraer Gewerke ex offo hinter sich bringen zu müssen, ohne ein einziges Pfund Kohle auf seinem Teller zu vergessen; als Nachtisch dient ihm die Dampfschifffahrtsgesellschaft für die mittlere Donau und alle Lastenm die zu expediren sie sich bereit erklärt hat, muß er mitexpediren; die einzige Erholung, die ihm zu Theil wird, ist die Erlaubnis da Adlersche Portrait des Grafen Forgách betrachten zu dürfen, womit die ungarische Nordbahn sich selber überrascht hat; und als nothwendige Leibesbewegung darf er einen Ausflug nach Preßburg machen, wo die schöne Jungfrau „Hungaria“ ihn zum Stelldichein erwartet. Er verzeichnet den „großen Theil der Verdienste“, den der Prasident regelmäßig dem leitenden Direktor, dieser den Verwaltungsräthen, diese dem Sekretär und dieser endlich den „in so schöner Anzahl“ erschienenen drei Aktionären in die Schuhe schiebt; aber er nimmt auch, wei ein Schwamm, alle die Millionen und Millionen in sich auf, die dort verrechnet werden, um nachher – armer journalistischer Schwamm! – aus seiner eigenen Tasche doch nur Tropfen, Kreuzer, hervorpressen zu können… Ich votire den volkswirthschafltichen Referenten der letzten Tage ein herzliches Bedauern.

Nun, der Reichstag wird bald unsere einzige Generalversammlung sein. Wenn diese Zeiten das Licht des Tages erblicken, ist der Landhaussaal vermuthlich schon durchgeheizt, Fraulein Etel, unsere „Reichsraths-Klara“, hat gewiß schon den Appetit der geehrten „Vorredner“ und des „hohen Hauses“ aufs Genaueste berechnet, dieser und jener bärtige Herr studirt vor dem Spiegel eine malerische Pose, manches Herrenhausmitglied macht das Gold seiner Beredsamkeit vorderhand zu Papier, indem er sich „Anhaltspunkte“ notirt; die Stenographen wallfahrten zu Faber und Hardtmuth, die Zeitungen fegen ihr "Inland“ rein und schaffen Raum, denn man kann nicht wissen, wei lang diesmal gewisse berühmte Perioden sein werden, die Parlamentsglocke kehrt von ihrer langen Osterreise nach Rom zurück… Adieu Gallerien-Publikum! Adieu, hohes Haus! Adieu, geehrter Herr Vorredner, - auf Wiedersehen bei einem Glase Zuckerwasser!