Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1918

Hans Liebstoeckl

Nachtwanderung

Hans Liebstoeckl (1872-1934) war Chefredakteur des „Neues Wiener Extrablatt” (1928-34) und einer der typischen Vertreter der Wiener Kaffeehausliteratur. Als Kritiker schrieb er für viele Zeitungen auch außerhalb Wiens, z.B. das Prager Tagblatt und den Pester Lloyd. Er war einer der großen Monoliten der Theater- und Musikkritik (eines seiner Bonmots: „Krupp macht nur Kanonen, Mahler nur Sinfonien”), in direkter Nachfolge Hanslicks und in Sprachwitz und Wortgewalt nicht weit von Karl Kraus, von dem ihn höchstens die zuweilen pathetisch ausufernden Apotheosen in seinen sehr originellen Texten trennten. Der 1. Weltkrieg machte seine Texte politischer. In "Der Komponist unserer Zeit" zerriss er 1915 in aller Heftigkeit die thematische Trittbrettfahrerei eines Richard Strauss um daran der Ästhetik einer ganzen Epoche die Leviten zu lesen und sie in Gegenüberstellung zur gesellschaftlichen Realität als hässlich zu entlarven. Seine schönsten Theaterfeuilletons, die mehr sind als bloße Kritiken, können in dem Sammelband „Von Sonntag auf Montag” nachgelesen werden. Seine hier veröffentlichte "Nachtwanderung" durch Wien und den Wienerwald mag ein eher untypischer Text des Autors sein, jedenfalls ist er feine Prosa und ein intellektuelles Stimmungsbild mit einer Tiefe jenseits des politischen Tagesgeschäftes. Er beschwört sehnsüchtig den inneren Frieden eines kriegsversehrten Kontinents. m.s.

Die Wenigen, die sich noch daran erinnern, wie schön es einst in Friedenszeiten war, haben dunkel in ihrem Gedächtnis, daß es vor dem Kriege Geselligkeit in höherem Sinne gab, kleine Feste in behaglichen Räumen, ohne Prunk und Eitelkeit, unter Musik und Tanz, Abende voll warmen Zaubers und schöner Freundschaft, Versammlungen harmlos fröhlicher Menschen im Zeichen der Künste oder des Geistes. Europa war noch ein Ganzes. Haß und Vernichtungswille lagen in unruhigem Schlummer; Schicksale im Schoß der Zeiten; Wolken standen am Himmel, die nur die Eingeweihten bemerkten, und der feste Glaube an die Menschheit hörte den leise rollenden Donner der Ferne nicht, der kommende Gewitter und Stürme kündete.

Wetterleuchten ging der Zeit der Prüfungen voran, Bedeutsames, das dort und da in den Blättern zu lesen war, blieb unbeachtet und glitt vorbei; ein Gesicht, eine Warnung, eine prophetische Schrift auf phosphoreszierender Wand, Verständigen und Mißtrauischen in gleicher weise deutbar. Noch heute denk ich’s, wie der seltsame Rasputin das Ende des Zarenreiches und das seine voraussagte, ein Kenner der russischen Volksseele, eine fragwürdige Gestalt und doch wohl auch ein Mensch, der die Gabe der Fernsicht besaß, rätselhaftes Gewächs mit unheilvoller Saat befruchteten Bodens. In welchen Träumen lebten wir, wie wenig ahnten wir, dass es ein Erwachen gab aus unserem hellen Tagesbewußtsein und daß ihm eine lange Nacht voll spukhafter Schrecknis folgen würde, die Züge unseres ahnungslosen Dahinlebens fortwischend, so daß das Lächeln erstarb auf dem Antlitz und die Stimme der Geselligkeit schwieg! Die Schüsse in Sarajevo am Peter und Paulstag (dem Unglückstag an sich), abgegeben auf einen Fürsten und eine Fürstin, zerrissen ein Gewebe schwelender Dünste. Das alte Dasein ward zu Grabe getragen, und wir, die an seinem Grabe trauern, wir werden seine volle Auferstehung in Glanz und Glorie wohl nicht erleben.

Auch zu dir, kleiner Kreis vertrauter Leute da draußen, bald in Mähring, bald in Rußdorf versammelt, auch zu dir, dieser kleinen Gemeinschaft, altem Wissen und geheimnisvoller Erkenntnis erschlossen, drang die Not der Zeit. Auf dem Friedhof zu Przmysl liegt der junge Doktor Fritz St., dessen Horoskop so glatt verlief, daß es allen Möglichkeiten offen schien, im Purkersdorfer Gottesacker ruht der Rechnungsrat L., der auf des Regiomontanus Spuren wandelte, und auch der alte B. ist tot, der die merkwürdige Gabe besaß, von seinem Gotte erfüllt, Dinge aus höheren Welten zu sprechen. Andere wieder zogen in den Krieg. Oberleutnant W. dient als Flieger an der Südfront, Baron O. kam dreimal verwundet zurück, und mancher Neuling flog dem gastlichen Hause der Baronin Helene St. Zu, die als allverehrte Patronin des kleinen Hauses waltet: der ungarische Journalist René J., der sich rasch die Herzen aller eroberte, Hauptmann Th., dessen Anhänglichkeit ab alles Exakte und Dreimal-Beweisbare in den Abendstunden dem unerklärlichen Hange weicht, von den Dingen zu hören, die zwischen Himmel und Erde sind.

Ein gütiger, mystischer Wind hat uns in dieses Heim einer edlen, alter Sternkunst mit gütigem Herzen ergebenen Frau zusammengeweht, und beim matten Schein einer großen Hängelampe, in einem trauten Zimmer, das voll von Blumen ist, enthüllt Doktor B. allwöchentlich einmal den astrologischen Hintergrund der Mythen und die seltsamen, dem gestirnten Himmel entzifferten Zusammenhänge der Johanneischen Apokalypse. Da lauschen, Wiedergeborene aus Zeiten, die den Göttlichen noch näher standen als unsere gegenwärtige Generation, die Tochter der Baronin, die entzückende Frau von M., christlichen Herzens der Sternenkunde zugetan, gleich ihrer Mutter, Frau von H., eine zarte Erscheinung von bestrickender Anmut und unsagbarem Liebreiz, kundige Pförtnerin der zwölf Mundanhäufer und eifrig der Philosophie beflissen, Exzellenz Sch., ein Feldherr, dem deutschen Mystiker wesensverwandt, stets still und in sich gekehrt, unser lieber Fregattenkapitän Schw., weitgereist, in magischen Künsten erfahren, ein streitbarer Idealist und wertvoller Mensch; ein gefeierter Dirigent, okkulten Welten als Musiker zugehörig, eine dichterisch begabte Bildhauerin, eine junge Klaviervirtuosin, der indischen Lehre hold. Es ist eine glückhafte exotische Insel mitten im Sturm und Drang der Zeit, ein Kreis von Menschen, die wie in Vater Noahs Arche geruhsam über den Wogen unserer Sintflut schaukeln, halb Kinder der Welt, halb Kostgänger astraler Regionen. Der Hauch des Hasses irrt kraftlos um diesen friedlichen Raum; der Geist der Liebe erfüllt ihn, indes draußen die große Weltgeschichte abrollt nach ehernen Gesetzen...

Hier steht unberührt vom Lärm der Dinge alter romantischer Sinn. Unsichtbar tragen wir, jeder auf seine Weise, die blaue Blume im Knopfloch und bekennen uns zu den großen Lehren verflossener (aber doch ewig lebendiger) oder noch in der Gegenwart wirkender Menschheitslehrer. Wahrheit zu suchen ist der Erdenbürger Teil. Wo man sie findet, tut nichts zur Sache, sofern sie nur als Erlebnis gesucht und ihr mit dem Herzen genaht wird, mit dem Herzen, das zugleich die Quelle aller Vernunft ist. Viele Pfade führen dahin, aber nur im Gemüt liegt der Schlüssel. Die Welt nicht verloren geben, in ihr und für sie atmen und wirken, unverdrossen ob der schrillen Mißklänge kriegserfüllter Tage: irgendwo in der Menschenseele ruht dieses göttliche Gesetz, dem sie sich beugte und das im irdischen Verstande seine feinsten komischen Wurzeln hat. Der helle Tag ist die Heimat des Irrtums. Tristan und Isolde fluchen ihm, weil er Schuld häuft, wo in Wahrheit zaubervolle Kräfte walten, weil in ihm Verhängnis und Verstrickung hausen, weil unser Karma wächst, wenn wir wachen, indes es milde verlischt, wenn Schlaf die Augen öffnet.

Gehörst Du bei Tage der Erde, so führt Dich die Nacht in das angestammte Vaterland der Seele, daraus sich Dein Ich verlor vor unvordenklichen Zeiten und dahin die Erinnerung leise führt, wenn Du sie nur unbeirrt in Dir wollen läßt als Dein göttlich Erbteil und Deine Wegzehrung zwischen Geburt und Tod. Freilich sind Nacht und Tag nicht so streng geschieden wie es scheinen mag. Selbst der Tag hat sein Dunkel, und just so hat auch die Nacht ihr Licht. Das Traumbewußtsein besitzt eben die Kraft, dem Dunkel des Tages etwas vom Lichte der macht zu geben; achtest du seiner, so erschließen sich die inneren Sinnesorgane einer anderen Wirklichkeit, die lebensvoller, gestalten-, farben- und tönereicher ist als diese Welt der „Erscheinung“. Ahnt Ihr, warum Nikolaus Lenau sein unvergängliches Gedicht an die Nacht schrieb, warum ihr Novalis seine von schauernder Ahnung erfüllten Hymnen sang? Sie wußten beide von Alters her um der Nacht Geheimnis…

In einer der mondhellen Juninächte dieses Jahres stiegen sieben aus dem Kreise, den ich hier geschildert habe, die Hänge des Kahlenberges hinan zu geheimnisvollem „Picknick“: drei Engel in Frauengestalt, zwei Krieger der lärmerfüllten Welt, der Deuter der Apokalypse und ich, der dieses Feuilletons sanfte Erinnerungsmusik um das Erlebnis webt. Der Himmel funkelte von Millionen Sternen und die alte Donaustadt im Tale von Tausenden von Lichtern, die des Wienerwaldes Berglandschaft umglänzten. Zwiefacher Helligkeit, der irdischen und der himmlischen, genoß so der trunkene Blick, und von den Höhen trug ein kühler Hauch die zärtliche, stromhaft verrinnende Melodie der Nacht am wachsamen Ohre vorbei. Zeit und Raum werden eins bei solcher Wanderschaft.

Die Stadt im Tale verschwand, es gab keine Plätze und Gassen und Häuser und Gärten mehr da unten, nur leise im Dunkel traumhaft aufrauschende Wälder vor uns, und keiner Turmuhr eherne, an die Flüchtigkeit des Augenblicks gemahnende Stimme rief die alten Worte zu unserer Einsamkeit empor: „O Adame, o Eve, vita somnium breve!“ Und mit einem Male, gleich einer blutroten Hostie aus schimmerndem Wolkenkelch stieg der volle Mond aus rätselhaften Tiefen herauf, eine abgestorbene Welt, ein melancholisch Gleichnis der Erdenzukunft, Sitz eines alten Gottes, der entsagte, und der nun des Grals Geheimnis in symbolischer Himmelsschrift bewahrt für alle Geschöpfe der Welt, so heute im Zeichen der Fische versammelt sind. Die Sonne, rief der „weinende“ Heraklit, ist täglich neu, und in gleicher Art durfte er sagen: der Mond ist täglich alt. Sehnsucht strahlt von seiner verödeten Scheibe mit erborgtem Licht hinab in den Raum. Darum liebt ihn die Liebe, darum fühlt sie sich ihm verwandt, darum vertraut sie ihm ihren Kummer, darum ward er zum Symbol verlangender Kräfte, die zwischen den Geschlechtern geheimnisvoll walten als Erinnerung an verlorene Einheit…Des roten Mondes matter Glanz erfüllte die Landschaft um uns mit neuem Zauber, sein Schimmer lag über der Wiese, die zu nächtlicher Rast lud, und seine einsame Schönheit wandelte stumm zwischen den Sternen, deren jeder seine eigene Lebensgeschichte hat.

Die Wiener Bergwelt ist geheimnisvolles Land. Da unten im Tale wandelten Beethoven und Schubert, da wirkte und schuf Johannes Brahms seine unsterblichen Lieder und Sinfonien. Ein unsichtbarer Zauber lockte sie nach Wien und alle guten Geister standen ihnen bei; auf dem Kobenzl aber, der aus dunklen Hängen, mondumflossen herüberglänzte, stand das Haus des Zauberers Freiherrn v. Reichenbach, dessen Wissen und Ahnen von höherer Einsicht empfangen war. In wirrem Geisterfluge huschten Erinnerungen an unserem Blick vorbei. Die Einsamkeit förderte Gesichte aus Sternenlicht, dunkler Ferne und kühlem Nachthauch, und es war, als stiege von rätselhafter Tiefe die Kantilene dieser ewig anmutigen Stadt zu uns empor, als erwachten ihre Genien zu lieblichstem Tanz und grüßten verwandtes Volk mit gespenstiger Grazie.

an hat kein Ziel in so weihevoller Stunde, man fühlt sich im Herzen eins mit dieser unergründlichen Natur, deren Schweigen voll ist von tausendfältigen Stimmen und klagenden Seufzern geliebter Toten. Das Leben wird zum Gleichnis, sein heimlicher Sinn gaukelt in bedeutungsvollen Schatten um die stummen Wanderer, Fragen pochen an das Tor der Seele, und siehe, es wird ihnen aufgetan. Eine Grille zirpte ihr Lied im hohen Grase, ein Käuzchen schrie im Wald, und wir wanderten den Wegen zu, die zum Leopoldsberg hinüberführen, auf breiter Waldstraße durch dichter Baumkronen phantastisch ragendes Gezweig, darin des Mondes Antlitz hing. Ein Märchenwald erschloß sich mit Schluchten über dem verlassenen Geröll eines Bachbetts, dahin zu steigen nicht geheuer sein mag zur Zeit der Walpurgisnacht. Diese Tiefen locken, Sylphen und Undinen schlingen dort ihren Reigen im bläulichen Licht, und schnurstracks aus weiten Beständen mögen hier in klaren Sommernächten Humperdincks Melodien aus „Hänsel und Gretel“ zu hören sein, mit ihren aus himmlischen Höhen herabschwebenden silberhellen Geigen, die selig über Hörnerklängen herabgleiten.

Auf den Wegen zum Kahlenbergerdorf und dann wieder quer über Höhen und Wiesen zum Eichelhof hinauf, kam uns der Morgen entgegen. Hinter dunkler Wolkenwand, dem bleichgewordenen Mond das letzte sanfte Licht entschwindend, harrte die Sonne ihres sieghaften Aufstieges. Die Sterne erloschen, ein kühler frühtauschwerer Wind stieg aus der Donautiefe, und im Zwielicht des kommenden Tages wanderten wir am kleinen Friedhof vorbei, den Hängen zu, die wir zur Nachtzeit emporgeklettert. Die ersten Häuserspitzen erglänzten und über den zarten Flocken des Himmels strahlte die Venus mit ihrem rötlichen Licht. Der Friede der Toten und die Hoffnung des grauenden Morgens haben geheimnisvolle Verwandtschaft. Es ist, als spräche die Natur die tiefernsten Gottesworte zur erwachenden Seele: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Nacht und Morgen sind nur ein Spiel des Lichtes, zwei Formen der Andacht, zwei Schwingungen der einen Weltenseele. Wir kehrten heim, die Sonne schien in die Fenster, die Stadt erwachte, und über dem Häusermeer lag der glorreiche Glanz des Fronleichnamstages, den die Töne einer sanften Geige grüßten mit dankbarer Zärtlichkeit.

Warum ich diese Skizze einer nächtlichen Wanderschaft niederschrieb, von dem kleinen Kreise erzählte, der ihre Offenbarung als Erlebnis empfand? Ich weiß es nicht. Die drangvolle Zeit sucht erlösende Worte; ich lege diesen unscheinbaren Immortellenkranz aus lose gepflückten Worten auf das frische Grab einer Erinnerung. Ein liebendes Herz wand dieses Angebinde für alle, die kummervoll des Lebens Leidensstationen wandeln. Ihr schwarzes Kreuz, das sie, Gute und Böse, auf Erden tragen, sei mit sieben Rosen umwunden, vier dunkelroten und drei hellen, Symbolen einer ringenden Menschheit, die langsam heimkehrt zum Vater, der sie schuf, zur Heimat, die sie verlor. Wir alle wandern durch eine rätselhafte Welt, ins Dunkel des Tages geboren, ins Licht der Todesnacht entlassen, Geschöpfe Gottes, seines Wesens Teil und Ebenbild…