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Aus dem Pester Lloyd von 1936
György Káldor
Freiheit – halb oder ganz
György Káldor (Budapest 1900 - 1958) Journalist, Aktivist der revolutionären Studentenjugend, 1919 zur Emigration gezwungen, lebte in Wien und Heidelberg. Ab 1925 arbeitete er in Wien für die "Rote Fahne", seit 1926 wurde er Mitglied der Redaktion des Pester Lloyd und kehrte nach Budapest zurück. 1942 wurde er - unter der Horthy-Regierung - verhaftet, in ein Strafbataillon an die russische Front verbracht und musste am Bau des Ostwalls mitarbeiten. Dort geriet er in sowjetische Gefangenschaft. Nach dem Krieg wurde er zuerst Außenpolitikchef des ungarischen Rundfunks, später Redakteur der Nachrichtenagentur MTI. 1950 fiel er bei den Stalinisten erneut in Ungnade und saß bis 1955 in Haft, Berufsverbot. Die letzten Jahre verbrachte er als Lektor in einem Buchverlag. m.s.
György Káldor: Vom neuen Zeitgeist, 1928
Lajos Kossuth proklamiert die Absetzung dese Hauses Habsburg in Ungarn und die bürgerliche Republik. Die Reaktion drängte ihn in die Verbannung, die ungarischen Magnaten um die “Ausgleichspartei” von Deák und Andrássy, glorifizierten und diffamierten ihn in einem Atemzuge als “Träumer” und hielten ihn bis zu seinem Tode im März 1894 von seiner Heimat fern.
Ihr jungen Freunde in ganz Europa, die Ihr Euch in diesen Märztagen in die Vergangenheit zurückwendet, um aus ihr Gewißheit für Euren Glauben und Eure Zweifel zu schöpfen, heftet Euren Blick für eine kurze Zeit nach Ungarn, auf das ungarische Fest der Freiheit: auf den 15. März.
Lasset Euch im Geiste zurückführen in unsere Märztage, die noch immer, und heute erst recht, manche große Lehre für uns Ungarn, aber auch für ganz Europa besitzen. Bei Euch ist die Revolution von 1848 nur ein Fest unter anderen, bei uns ist es der innigste, leidenschaftlichste, aufrichtigste Festtag des ganzen Volkes, ein Familienfest der gesamten Nation. Weshalb der 15. März eine so überragende Bedeutung in der ungarischen Nationaltradition erhalten hat? Sicherlich nur deshalb, weil er der Gedenktag unseres Freiheitskampfes ist. Das ungarische Volk ist freiheitsliebend, der Ärmste der Dorfarmen hat noch ein stilles, trotziges, männliches Selbstbewusstsein, einen Sinn für Unabhängigkeit und für Selbstbestimmung. Aber diese nie erlöschende Glut ungarischen Freiheitsverlangens, die auch unter den würgendsten , undurchdringlichsten Bergen von Asche weitergeglommen hat, lodert nur selten auf und ist keineswegs intensiver als die Freiheitsbegeisterung anderer Völker. Was die Ideen des März dennoch zu einem nationalen Feste werden ließ, das den Blick unserer Kinder aufblitzen lässt und noch in der kleinsten Bauernhütte die lebendige Flamme der Erinnerung an „unseren Vater Lajos Kossuth“ wachhält, ist die Tatsache, daß in der ungarischen Märzrevolution politische Freiheit und kulturelle Blüte zu einer Synthese verschmolzen sind, daß der große Aufschwung des ungarischen Geistes im 19. Jahrhundert unzertrennlich mit dem Vormärz zusammenhängt und auch die nachrevolutionäre Entwicklung durch den großen Freiheitskampf und dessen tragischen Ausgang bedingt war.
Diese Einheit von kulturellem und politisch-sozialem Erwachen der Nation, diese großartige Verschmelzung des Schicksals der Nation mit ihren höchsten symbolischen Gestalten, verdichtete sich in dem tragischen Schicksal Petöfis (hier ein Essay zum 150. Todestag, von Lászlo F. Földenyi) zu einem einzigartigen Sinnbild und gerade diese Konjunktur der Sternbilder des Geistes und der Geschichte machten die Märztage für unsere nationale Tradition so überragend, wie die große französische Revolution von 1789 für Frankreich. Diese Konjunktur meldete sich indessen keineswegs bei allen Nationen. Die Revolution der Paulskirche hatte beispielsweise in der deutschen Tradition – auch in der der deutschen Demokratie – niemals die Bedeutung, wie die Märzrevolution für uns, weil sie in der deutschen Ideengeschichte nicht die überragende Rolle spielte, wie unser literarischer Vormärz. Die Rhythmen von Geist und Geschichte entwickelten sich dann allmählich in ganz Europa auseinander und wurden zu Synkopen ,die die breiten Massen niemals so ergreifen können, wie die großen klaren Situationen, die wahren Sternstunden der Menschheit, in denen die Richtung des Geistes und des historischen Schicksals zusammenfällt. Der ungarische März war eine solche Sternstunde der Nation und aus diesem Aspekte liefert seine tragische Niederlage den großartigsten Beweis dafür, daß im wirklichen Leben, echte Leidenschaft, von keiner Reaktion, keiner brutalen Gewalt, keiner öden Bureaukratie niedergetrampelt und ausgerottet werden können, weil die Erinnerung daran in den Herzen der Millionen weiterlebt als geschichtsbildende Kraft, als geistiger Mythos, als Quelle immer neuen Aufbegehrens der lebendigen Energien.
An das Schicksal des ungarischen März müssen wir uns heute erinnern, wenn wir in unseren Tagen das große Ringen zwischen Diktatur und Freiheit in ganz Europa betrachten. Lassen wir uns durch keinerlei Scheinurteile betören und seien wir überzeugt davon, daß das ungarische Volk mit seinem Herz auf der Seite der Freiheit steht. Dieses Volk, dem man heute von mancher Seite mit so geschäftigen Eifer einreden möchte, es habe alle seine Nöte und Leiden der liberalen Epoche zuzuschreiben, weiß sehr wohl, was hinter diesem agitatorischen Treiben steckt. In manchen europäischen Ländern sind heute Strömungen entfesselt, die nationale Befreiung fordern und gleichzeitig gegen den Liberalismus losziehen. In ganz Europa begeistern sich manche Kreise für die Freiheit der Nation und verachten gleichzeitig die Freiheiten der Individuen und der Klassen, aus denen sich die Nation zusammensetzt. In vielen Ländern stehen die Propheten einer neuen Pseudoreligion auf, die die Menschenrechte von den nationalen Rechten, die Freiheit des Gewissens, der Presse und der Rede von den elementarsten Freiheitsrechten der Nation trennen zu können glauben und die Befreiung der Nationen auf die Unterjochung des Individuums begründen zu können hoffen.
Nun, wir Ungarn müssen am schärfsten betonen, daß es nicht zweierlei Freiheitskonzeption gibt, eine nationale und eine staatsbürgerliche. Gerade wir, Ungarn, die wir gegen eine pharisäische Konzeption jener „Demokratien“ kämpfen, die die nationalen Rechte der ungarischen Minderheiten konfiszieren, müssen unerschütterlich festhalten an dem Gedanken, daß die Freiheit ganz und unteilbar, daß sie nicht „dialektisch“ in immer höhere Stufen verlegbar, daß sie kein Objekt pharisäischen Feilschens ist. Auch wer den Liberalismus als ein historisches Gebilde mit konkreten Leistungen und durchaus vergänglichen Gestalten auffaßt, wird niemals zugeben können, daß mit einzelnen liberalen Parteischattierungen auch die Freiheit, dieses Naturrecht, dieses Naturrecht des Individuums, der Nationen und der Klassen aussterben und oder erwürgt werden kann. Nein, ebenso falsch, wie die Geschichtsphilosophie, daß die Freiheit sterben muß, weil die Wirtschaftskrise in der ganzen Welt die tragische Arbeitslosigkeit von Millionen zur Folge hatte, ist die verlogene These, daß die Ordnung nur in Form eines Parademarsches des Geistes, im Gleichtakt aller geistigen und politischen Regungen der Nation vorgestellt werden kann. Die furchtbare Not der Arbeitslosigkeit, die nagende soziale und wirtschaftliche Krise unseres Zeitalters, ist eine Welterscheinung, aber die Versuche, das Wirtschaftselend noch durch ein geistiges Elend, durch Erwürgung der Freiheit zu beheben, sind nur auf ganz bestimmte und beschränkte Richtungen begrenzt. Die großen westlichen Nationen halten nach wie vor bei den Idealen der Freiheit aus und dies um so mehr, je sozialer ihre Wirtschaftsordnung gesinnt war.
Sicherlich können die Gegenwartsprobleme des Freiheitskampfes nicht mit jenen der europäischen Freiheitskämpfe von 1848 verglichen werden. Das Bewusstsein um die Bedeutung der Wirtschaftsfragen in der Geschichte ist allgemeiner geworden, und damit gewinnen die oft abstrakt anmutenden moralischen Ideen der großen französischen Revolution auch materielle Erfüllungen. Aber diese materielle Konzeption der Freiheit darf niemals in eine materialistische ausarten, die das Kind mit dem Bade ausgießt, und das wirtschaftlich zu befreiende Individuum und die sozial zu hebenden Gruppen politisch unterjocht. Der Mensch lebt nicht von Brot allein, und er will nicht, daß man mit dem Brote, das seinen Magen füllen soll, seinen Mund stopfe. In der Epoche des heute so vielfach verdammten Liberalismus sind immerhin die Massenorganisationen der Arbeiterschaft entstanden. Wird es in den Regimen des Antiliberalismus gelingen, das freie Gleichgewicht der organisierten Gruppen der Gesellschaft zu erzielen, das in der Vorkriegszeit in ganz Europa vorhanden war, so wird einem um die soziale Zukunft unseres Kontinents nicht so bange sein müssen wie heute.
Das neue Freiheitsproblem ist sicherlich von dem alten verschieden, aber es gibt einen Kern, der unwandelbar bleiben muß. Nur ein unbewußter Materialismus, der noch schlimmer ist als der bewußte Materialismus der ökonomischen Geschichtsauffassung, wird die ökonomische Befreiung unterdrückter Gruppen und Klassen auf den Ruinen der moralischen und individuellen Freiheitsrechte auf den Scherben der Freiheit des Wortes und der Schrift aufbauen wollen. Nein, die Gewissensfreiheit, das Recht der freien Ausübung der Religion, der Sprache, des Gedankens gehören zu dem unvergänglichen Gut der menschlichen Entwicklung überhaupt, sie stellen einen unantastbaren Schatz kulturellen Fortschritts jeder Zeit dar und wer an dieses Heiligtum rührt, das echter als alle sonstigen „Heiligtümer“ weltanschaulicher oder sozialer Art ist, schließt sich aus der Gemeinschaft der modernen Kultur aus. Es gibt keine halbe Freiheit, das müssen wir Ungarn am entschlossensten betonen. Die nationalen Freiheitsrechte sind ebenso unverbrüchliche Güter des Individuums wie die religiösen, politischen oder ökonomischen. Die Helden der ungarischen Freiheit, die Jugend von 1848 wußte das. Sie kämpfte für die Freiheit der Leibeigenen, für die Freiheit der ganzen ungarischen Nation, aber auf ihren Fahnen stand die universalistische Idee der Weltfreiheit geschrieben. Wie der echte ungarische Geist damals, ist der wahre Geist Ungarns auch heute europäisch, er tritt für die neue Freiheit ein. Für die Freiheit, die ganz, vollkommen und vorbehaltlos ist.
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