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(c) Pester Lloyd / 44 - 2011  GESELLSCHAFT 02.11.2011

 

Frühling im Herbst

“Solidarität” als Schlüssel für einen Politikwechsel in Ungarn?

Vieles, was beim Systemwechsel in Osteuropa und Ungarn schief gelaufen ist, lastete man lange einer unterentwickelten Zivilgesellschaft an. Doch das Bild beginnt sich zu wandeln. In den ersten Herbstwochen 2011 zeigt sich eine bunte Szene neuer gesellschaftlicher Bewegungen, die ihren Widerstand gegen die Zumutungen der rechtsnationalen Fidesz-Regierung anmelden. Der "Szolidaritás", nicht von ungefähr an die polnische Solidarnosc erinnernd, wird dabei am ehesten zugetraut, der Demokratie in Ungarn wieder auf die Beine zu helfen. Eine Analyse zu Möglichkeiten, Chancen und Risiken der neuen Bewegung.

Frühling im Herbst: immer mehr Menschen begehren auf

Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften wehren sich mit etlichen Aktionen gegen ein Arbeitsrecht, das sie der Willkür der Arbeitgeber und des Staates ausliefern würde. Die nächsten Straßenblockaden finden von heute, 2. bis 5. November landesweit statt. Die Facebook- Bewegung „Eine Million für die ungarische Pressefreiheit“ - unterstützt von anderen Initiativen - mobilisiert Zehntausende mit dem Slogan „Mir gefällt dieses System nicht!“ gegen den Abbau demokratischer Institutionen und Rechte. Eine – zugegeben - noch kleine Occupy-Gruppe reiht sich in die internationale kapitalismuskritische Bewegung „Wir sind die 99 Prozent“ ein und fordert globales finanzwirtschaftliches Umdenken. Tausende Menschen in Budapest empören sich über die Entscheidung ihres rechtskonservativen Oberbürgermeisters, zwei ausgewiesenen Rechtsradikalen und Antisemiten die künstlerische Leitung des angesehenen Neuen Theaters zu übertragen. Nun gehen auch noch die Studierenden von Hochschulen und Universitäten zu Tausenden auf die Straße, die nicht widerspruchslos das neue Hochschulgesetz hinnehmen wollen.

Die Parteien laufen den Entwicklungen hinterher, Perspektiven für einen Machtwechsel durch die Oppositionsparteien sind und bleiben vage, wie dieser Beitrag beleuchtet. Könnte es eine der neuen Gruppen schaffen?

Eine Bewegung hat es Medien und Politikwissenschaftlern in Ungarn besonders angetan: die neue "ungarische Solidarnosc" - Szolidaritás, genauer: Ungarische Solidaritätsbewegung (MSzM). Sie wurde - scheinbar spontan - am Ende des D- Days, eines gewerkschaftlichen Aktionsbündnisses von ungefähr 100 Branchengewerkschaften und Zivilorganisationen Anfang Oktober durch Péter Kónya aus der Taufe gehoben (hier unser Bericht dazu), Chef einer Polizeigewerkschaft und einer der Initiatoren dieser Protestbewegung. Ganz so spontan kann aber die Idee wiederum nicht gewesen sein, weil unmittelbar nach der Ausrufung der neuen Bewegung ein Transparent entrollt wurde, das in den unverwechselbaren Lettern der polnischen Solidarnosc den ungarischen Namen des „Neugeborenen“ trägt: Szolidaritás.

 

Neue Gesichter, attraktivere Aktionen

Für Gábor Török, dessen kluge Analysen zur ungarischen Politik und Gesellschaft gelegentlich auch in deutschen Medien zitiert werden, Anlass genug, die kühle Distanz des Wissenschaftlers aufzugeben. Dem Lob für die neue Bewegung mischt er massive Kritik an den „alten“ Gewerkschaftsführern bei. Zweierlei sei neu an der jetzt entstandenen Lage, meint der Politikananlyst. „Einerseits sehen wir hier in der Frontlinie keine langweiligen, uninteressanten und von Grund auf unglaubwürdigen Gewerkschaftsführer, sondern solche neuen Gesichter, die auch zu überraschenden, unerwarteten und beherzten Schritten fähig sind… Andererseits wird immer offensichtlicher, dass diese Akteure nicht innerhalb des traditionellen Rahmens der Interessendurchsetzung bleiben wollen, nicht ausgeschlossen ist daher…, dass sie sich bald im Bewusstsein ihrer Stärke auf eine politische Rolle hin orientieren könnten.“ Den "neuen Stars der außerparlamentarischen Opposition" traut Török jene elementare Kraft für etwas Neues, Frisches, Authentisches und Glaubwürdiges´ zu, mit der sich die vom Politikbetrieb enttäuschten Menschen vielleicht wieder identifizieren könnten.

Politisierte Gewerkschaften?

Die Gewerkschaften haben großenteils die Rolle der politischen Opposition übernommen. Die oppositionellen Parteien sind unfähig, große Demonstrationen zu organisieren, lieber schließen sie sich den gewerkschaftlichen Aktionen an. Das meint der Politologe und Volkswirt Ferenc Kumin, der für die Szazadvég- Stiftung als leitender Analyst tätig ist und mehrere Jahre für den vorigen Staatspräsidenten László Solyom als Kommunikations- und Strategieberater gearbeitet hat. Auch ihm imponieren die jungen Gewerkschaftsführer an der Spitze der gewerkschaftlichen Aktionseinheit und der Solidaritäts-Bewegung, weil sie eine "neue Widerstandskultur mit pfiffigen Lösungen und trickreichen Strategien" repräsentieren.

Die Auseinandersetzung mit dem Budapester Polizeipräsidenten wegen einer Aktion am Ádám-Clark–Platz, einem Nadelöhr des hauptstädtischen Verkehrs, dient ihm dafür als Beispiel. Die erste, für 3.000 Teilnehmer angemeldete Demonstration wurde abgelehnt, weil sie den Verkehr völlig zum Erliegen gebracht hätte. Daraufhin stellten die Organisatoren einen zweiten Antrag für 300-500 Teilnehmer, dem stattgegeben werden musste, weil von dieser Größenordnung keine Beeinträchtigung des Verkehr ausgehen konnte. Der Öffentlichkeit stellte sich der medial ausgetragene Streit letztlich so dar, „dass die Polizei inkonsequent ist. An einem Tag verbietet sie, am anderen erlaubt sie, die ganze Polemik war daher eine große Reklame für die Veranstaltung“, stellt Ferenc Kumin fest. Zugleich gibt er aber auch zu bedenken, dass Pfiffigkeit und Trickreichtum allein nicht ausreichen, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Hinzukommen müsse „eine zur Identifikation Vieler geeignete, verständliche, einheitliche Botschaft.“

„Die herrschenden Verhältnisse der Lächerlichkeit preisgeben“

Gemeinsame Forderungen allgemeinverständlich der Öffentlichkeit zu präsentieren, genau diese Fähigkeit beherrscht nach Ansicht des Politologie- Professors Attila Ágh die Ungarische Solidaritäts-Bewegung. Bereits jetzt sei es ihren interessanten und medienaffinen Akteuren gelungen, „sich gegen den großen nationalen Umbruch zu wenden, die Schreckenstaten des politischen Marketings von Fidesz aufzudecken und in spielerischem, postmodernen Stil die herrschenden Verhältnisse der Lächerlichkeit preiszugeben“. Doch dem “Mantra der abstrakten Forderung von Demokratie und der Beseitigung bestehender politischer Willkür” müsse ein Programm zur Lösung der Krise realer Lebenslagen der Bevölkerung hinzugefügt werden, um die mobilisierbare Massenbasis andauernd zu erweitern, erwartet auch Ágh.

Für die Anknüpfung der „Perspektive einer Wiederherstellung der Demokratie“ an „die Bestrebung, die ursprünglichen, gewerkschaftlichen Forderungen mit Bodenhaftung zu einem umfassenden Wirtschaftsprogramm zu erheben“, sieht der Professor bei der Solidaritäts-Bewegung gute Chancen. Eine Rückkehr zu 1989 werde es nicht mehr geben. Für den Aufbruch in eine neue, IV. Republik aber sei noch die entsprechende Organisationsform zu finden. Und die könne nur ein „mehrstöckiger Aufbau einer organisierten Zivilgesellschaft“ gewährleisten, „deren Überdachung eine zur politischen umgeformte gesellschaftliche Bewegung ist.“ Ob die Ungarische Solidaritäts-Bewegung diesen Weg einschlage, sei noch völlig offen. Immerhin schätzt sie der Politikwissenschaftler Attila Ágh im gegenwärtigen „elenden Zustand“ als großen Fortschritt ein, der Anlass zur Zuversicht gibt.

Unterwerfung oder Widerstand
- die gewerkschaftlichen Alternativen im heutigen Ungarn

Diesen „elenden Zustand“ der Gesellschaft kennzeichnen Verbitterung, Desillusionierung, Ohnmachtsgefühl und Angst, sagt András Tóth in einem Gespräch mit dem Gewerkschaftsportal szakszervezetek.hu. Attila Ágh unterstreicht diese Einschätzung, wenn er feststellt, dass gegenwärtig die „Partei der Apathie“, also die Partei derer, die sich vom Politikbetrieb fernhalten, die bei weitem größte sei. Von einer revolutionären Stimmung im Lande jedenfalls spüre er nichts, meint András Tóth. Und die ungarischen Gewerkschaften sehe er auch nicht in der Rolle einer revolutionären syndikalistischen politischen Avantgarde. Demonstrationen und Streiks hält er für eine legitime und legale Form, Interessenkonflikte auszutragen, wenn es am Verhandlungstisch zu keinen Lösungen komme.

„Das Besondere an der heutigen Lage (in Ungarn) ist, dass die Regierung diktiert, und höchstens mit von ihr ausgewählten Akteuren und Gewerkschaften im Gespräch steht, wenn überhaupt.“ Für die Gewerkschaften gebe es daher keinen anderen Weg als Unterwerfung oder Widerstand. Dem Politikwissenschaftler, der mehrere Jahre im Brüsseler Forschungsinstitut des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) tätig war, ist grundsätzlich die „schlechteste Demokratie“ immer noch lieber als die „beste Diktatur“. Die Demokratie hält er nämlich für ein System, das fähig zu „permanentem Lernen“ sei. „Und darum ist die Interessenabstimmung  auch Teil aller modernen Demokratien und die Garantie der friedlichen gemeinsamen Ausweg- Suche über das Finden von Kompromissen“. Letztlich setzt er seine Hoffnung darauf, dass auch in seinem Land die Regierung langfristig nicht gegen das Volk werde regieren können.

Das Dilemma gesellschaftlicher Bewegungen

Die nach polnischem Vorbild der Solidarnosc so urplötzlich aus dem Boden gestampfte Ungarische Solidaritätsbewegung weist über die klassische gewerkschaftliche Interessenvertretung hinaus. Das stellen nicht nur die erwähnten Politikwissenschaftler fest, auch die Gründer der neuen Initiative leugnen es nicht. Eindeutig verfolgen sie mit dieser Bewegung die Absicht, den oftmals behäbig wirkenden und zu langsam reagierenden Gewerkschaften Dampf machen zu wollen. Mit dieser „Flucht“ in eine „halbpolitische“ Organisationsform reagieren sie zudem auf die Politik der derzeitigen rechtsnationalen Regierung, die Gewerkschaften nicht als Partner akzeptiert, sondern auf den Kehrichthaufen der Geschichte zu schicken wünscht. Das bereits eingeschränkte Streikrecht und das bald folgende neue Arbeitsrecht sind darauf angelegt, so befürchten die Gewerkschaften, die traditionellen Formen der Interessenvertretung „unmöglich zu machen“. Darauf scheint die Ungarische Solidaritäts-Bewegung (MSzM) sich einzustellen und mit ihren spontanen, medienwirksamen Aktionen der “neuen Widerstandskultur“ reagieren zu wollen.

Attila Ágh macht bei aller Begeisterung doch auch auf das Dilemma einer jeden gesellschaftlichen Bewegung aufmerksam, das darin bestehe, sich möglichst weit in die Gesellschaft hinein öffnen und gleichzeitig konkrete politische Alternativen anbieten zu müssen. An dieser Zwangslage hat schon die polnische Solidarnosc Schaden genommen, die durch den gemeinsamen Wunsch, das kommunistische System zu überwinden, geeint wurde und zu einer Massenbewegung von 10 Millionen heranwuchs. Als das Ziel erreicht war und Solidarnosc auch parteipolitisch – anfangs mit Erfolg - aktiv wurde, zerfiel die Einheit in eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Interessen. Der Bewegungscharakter von Solidarnosc ging verloren, aus Freunden wurden Gegner, nicht selten auch Feinde. Nur die Gewerkschaft blieb übrig, die den Mythos von einst weiter aufrecht zu erhalten versucht. Dieser Prozess ist den Gründern der Ungarischen Solidaritäts-Bewegung nicht unbekannt, schreiben sie doch selbst auf ihrer Website, dass die Partei des Ministerpräsidenten und die der größten Oppositionsgruppierung ihre Wurzeln in der Solidarnosc hätten.

Zu den bestehenden Parteien hält sich die Ungarische Solidaritäts-Bewegung bewusst auf Distanz, doch wollen ihre Vorleute nicht ausschließen, dass sich die Bewegung später einmal selbst zur Partei umwandelt, wenn die Mitgliedschaft  sich so entscheidet. In der Tat will die Bewegung kein neues Gewerkschaftsbündnis sein. Im Mittelpunkt der von ihr geplanten Straßensperren in der Zeit vom 2.- 5. November steht die Demonstration gegen den Verlust an Demokratie in Ungarn, den schleichenden Abbau des Rechtsstaates und die neue Verfassung, die das Ende der Ungarischen Republik bedeute, heißt es in einem Aufruf. Unter den Zielen der Bewegung ist der Schutz der Demokratie gleichsam als Präambel allen anderen Forderungen vorangestellt. „Für den möglichst breiten gesellschaftlichen Zusammenhalt wollen wir mit aktiven und verantwortungsvollen Menschen die Demokratie, die Menschen-, die Staatsbürger- und die Arbeitnehmerrechte schützen“.

Und um die lästige und zeitraubende Debatte mit den Gewerkschaften zu umgehen, die das neue Projekt mit gemischten Gefühlen beobachten, legt die Bewegung Wert auf individuelle Mitgliedschaft und nicht auf die von Organisationen und damit auf eine interessensübergreifende Solidarität unter und mit den Betroffenen. László Varga, Vorsitzender einer der sechs ungarischen Gewerkschaftskonföderationen, erklärte, völlig überrascht von der Gründung der Solidarität, diese Bewegung könne sowohl zum Erfolg als auch ins Chaos führen. Für die Gegenwart wäre ihr das Erstere zu wünschen. Die angeschlagene ungarische Demokratie hat frisches Blut bitter nötig.

www.facebook.com/szolidaritasmozgalom

Rainer Girndt

 

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